World of X

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Metamorphose

von Andrea Muche

Kapitel 3

„The called party is currently not reachable.“ Gefrustet drückte Scully die Taste, die den Anruf-Versuch beendete, und lehnte ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Sie konnte spüren, wie sie Kopfschmerzen bekam. Skinner hatte auch schon nach Mulder gefragt und sich über unentschuldigtes Fehlen aufgeregt. Sie hatte ihren Partner gedeckt, so gut es ging, aber da sie weder wusste, wo er war, noch was er tat, hatte sie nicht die leiseste Ahnung, in welcher Weise sie die Wahrheit eigentlich zurechtbiegen sollte. Beziehungsweise, was auch nur die Wahrheit war. Und noch immer konnte sie Mulder nicht erreichen.

Sie stützte sich mit beiden Händen aufs Fensterbrett und biss sich auf die Lippen, während sie den Blick über die Einfahrt und die Bäume in der Vorortstraße schweifen ließ, ohne sie wirklich zu sehen. Gegenüber war ein Mann in seiner Einfahrt dabei, den Wagen zu polieren. Ein schwarzer Hund mit zwei weißen Pfoten sprang ihm dabei um die Beine. Es war eine blöde Idee gewesen, überhaupt hierher zu kommen. Sie musste ja doch ständig an den Job und den Fall denken.

„Hey, was ist denn? Geht’s dir nicht gut?“, fragte eine Frauenstimme, und es legte sich ihr eine Hand auf die Schulter.

Die Agentin drehte sich zu ihrer Freundin Emma um und blickte in deren besorgtes Gesicht. „Entschuldige, dass ich dir so wenig Freude mache auf deiner Geburtstagsparty.“

„Privater Ärger? Ärger im Job?“

„Letzteres, und ich muss ständig daran denken.“ Das heißt, vielleicht stimmte das nicht ganz. Privat ärgerte sie sich auch. Über ihre eigenen Ängste. Über Mulder. Über sein mangelndes Vertrauen. Darüber, dass er sie ausschloss. Dass er sie offenbar nicht als Freundin sah. Als Partnerin. Als was-auch-immer. „Ich bekomme gerade Kopfschmerzen.“

„Ach, du Ärmste. Willst du ein Ibu nehmen? Oder reicht ein Drink, um die Sorgen wegzuspülen?“



Es geschah, als sie gerade aus dem Bad zurückkam, wo sie die Tablette genommen hatte: Man hörte einen dumpfen Schlag, zusammen mit Krachen und Splittern von gegenüber, dann den Schrei eines Mannes, langgezogen und schrill. Gefolgt von „oh nein, oh nein, oh Gott nein, zu Hilfe, Hilfe, helft“, was schließlich in unverständliches Gewimmer überging.

Scully sprintete sofort nach draußen, Emma und mehrere Partygäste folgten ihr auf dem Fuß, auch von den anderen Häusern waren Nachbarn aufmerksam geworden. Der Mann, den sie vorhin noch gegenüber an seinem Auto polieren gesehen hatte, hatte eben diesen Wagen gegen die Garagenwand gesetzt, offenbar Vorwärts- und Rückwärtsgang verwechselt. Er hatte das Auto verlassen und war schreiend und weinend daneben zusammengesunken. Dann sah Scully es: Zwischen Wand und Wagen lag jemand auf dem Boden.

„Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht“, heulte der Mann. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass Socke hinterm Auto war. Ich hab den Gang verwechselt. Ich hab sie auch nicht gesehen. Ich... oh Gott, Socke, das wollte ich nicht, das wollte ich nicht...“

Scully schob ihn sanft zur Seite. „Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin.“

„Mein Hund, mein Hund.“ Der Mann stand klar unter Schock.

„Kann jemand den Wagen zurücksetzen?“, rief Scully. „Ich kann nicht dran.“

Der Schlüssel steckte, und ein Mann ließ den Wagen zurückrollen.

Er gab den blutenden Körper einer Frau frei, und sie war unverkennbar tot. Dennoch tastete Scully nach Zeichen des Lebens. Nichts. Als Scully sich aufrichtete, sah sie Emmas Augen groß und fragend auf sich gerichtet. Sie schüttelte leicht den Kopf. „Es tut mir leid.“

„Peter!“ Emma beugte sich zu ihrem noch immer auf dem Boden sitzenden Nachbarn hinunter. „Du kannst nichts dafür. Es war ein Unfall.“

„Meine Socke, meine arme Socke“, weinte der Mann.

„Sir?“ Scully kauerte sich neben Emma und versuchte, die Aufmerksamkeit des Mannes zu erlangen. „Wissen Sie, was passiert ist?“

„Ich habe Socke überfahren. Ich habe... Das wollte ich nicht, das wollte ich nicht...“ Seine Worte gingen wieder in haltloses Schluchzen über.

„Wer ist die Frau?“, erkundigte sich Scully leise.

„Seine Ehefrau. Ich dachte, sie hätten sich getrennt und sie wäre nach Irland zurückgegangen“, klärte Emma sie auf. „Ich habe sie schon ewig nicht mehr hier gesehen.“

„Und er nennt sie Socke?“

„Nein, nein. Socke ist sein Hund. Seine Hündin, genauer gesagt. Sie hat zwei weiße Pfoten.“

„Ach du Scheiße“, murmelte jemand. „Er denkt, er hat seinen Hund überfahren.“ Scully erinnerte sich an den Hund, den sie vorhin aus dem Fenster noch beobachtet hatte. Nun war jedoch nichts mehr von ihm zu sehen.

„Kann jemand die Polizei und einen Arzt anrufen?“, fragte sie erschöpft. Der Mann brauchte Hilfe.

„Vielleicht hat er seine Frau ja umbringen wollen“, hörte die Agentin irgendeinen Idioten weiter hinten sagen.

„Meine Frau?“ Die Worte waren bis zu dem Mann durchgedrungen. „Meine Frau? Was ist mit meiner Frau? Hat sie jemand gesehen?“

„Meine Güte! Hat sie totgefahren und fragt, ob sie jemand gesehen hat...“

„Aufhören, verdammt noch mal!“, rief Scully in Richtung der Stimme, während sie sah, wie die Augen des Mannes sich vor Entsetzen weiteten. „Meine... Frau?! Oh, mein Gott. Der Traum. Oh nein. Oh nein, oh nein. Das kann nicht sein. Das darf nicht... Das kann nicht sein. Sie werden alle ertrinken in New Orleans. Katrina. Katrina. Katrina!!!!“

„Heißt seine Frau Katrina?“

Emma schüttelte den Kopf. „Nein, Mary.“

Sie hörten einen Wagen mit quietschenden Reifen auf der Straße halten. Scully hoffte auf den Arzt, stand auf und reckte den Kopf. Es war nicht der Notarzt. Der Mann, der dort soeben aus seinem Wagen gestiegen war, war – Fox Mulder.

Er kam auf die Gruppe vor dem Haus zu, ignorierte Scullys fragenden Blick, sah einmal kurz zur Leiche hin und ging dann neben dem verstörten Mann in die Hocke. Er berührte ihn leicht an der Schulter.

„Pete? Ich bin’s, William. Ich habe dich zu finden versucht, weil ich wissen wollte, ob ihr okay seid. Tut mir leid, dass ich zu spät bin, alter Junge.“

„Das Wasser. All das Wasser“, stammelte Peter. Es war nicht klar, ob er Mulder erkannte. Dann warf er sich ihm jedoch in die Arme und begann hemmungslos zu schluchzen.

Kurz darauf kam der Arzt und verpasste ihm eine Beruhigungsspritze, bevor der Krankenwagen ihn mitnahm. Als die Polizei anrückte, zückte Mulder seine FBI-Marke und wies die Beamten an, die Leiche der Frau zur Autopsie zum FBI bringen zu lassen.

„Wieso das denn?“, fragte einer der Polizisten verblüfft.

„Das würde ich auch gerne wissen.“ Scully warf Mulder einen ebenso angstvollen wie verärgerten Blick zu. „Ist das dieser Pete, den die Einsamen Schützen für Sie suchen sollten? Und sollte er vielleicht irgendetwas mit unserem Fall zu tun haben? Seine Frau war Irin, nicht? Genau wie Ihre.“

Mulders Augen wirkten müde, er sah deprimiert aus. Er packte Scully am Arm und zog sie mit sich fort. „Wir müssen reden“, sagte er nur.



Sie saßen gemeinsam auf einer weißgestrichenen Bank in Emmas Garten. Mulder hatte sich nach vorne gebeugt und stützte die Ellbogen auf die Knie, den Kopf hatte er in seine Hände gelegt. Nun fuhr er sich übers Gesicht, lehnte sich zurück und atmete hörbar aus. Als er zu sprechen begann, sah er Scully noch immer nicht an.

„Glauben Sie an Vorherbestimmung? Wenn etwas das Schicksal ist – vielleicht kann man ihm wirklich nicht entgehen. Wie Ödipus. Ihm war prophezeit, er würde seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten. Voll Entsetzen versuchte er, dieser Vorhersage zu entgehen und verließ seine Eltern, damit sich die Prophezeiung nicht erfüllten könnte. Doch wusste er nicht, dass seine Eltern nicht seine Eltern waren, und durch sein Fortgehen machte er möglich, was er doch so dringend hatte vermeiden wollen.“

Mulders Stimme verlor sich. Dann fing er an, seine Geschichte zu erzählen.

„Frank O’Carroll, Heathers Vater, hat in den 80er Jahren in Irland eine Sekte geführt, die behauptete, für das Wohl und Wehe der Menschheit verantwortlich zu sein. Sie bildeten junge Frauen zu Wächterinnen aus, die ihren Jungfrauenstatus nicht verlieren durften. Sollten sie die Vorschriften verletzen, würde jeweils in absehbarer Zeit ein großes Unglück geschehen. Eines jener Ereignisse, die wichtige Prominente treffen oder viele Menschenleben auslöschen und lange im kollektiven Gedächtnis der gesamten Welt erhalten bleiben. Nach dem, was Frank O’Carroll erzählt hat, ist das im Lauf der Geschichte immer wieder passiert. Er hat unter anderem den Ausbruch des Vesuv, der Pompeji verschüttete, den 30-jährigen Krieg, den Untergang der Titanic und das Attentat auf Kennedy darauf zurückgeführt.“

„Mulder, das ist doch völliger Blödsinn. Ein Verzicht junger Mädchen auf die Freuden dieser Welt, damit nichts Schlimmes passiert? So ein Käse! Außerdem passiert ständig Schlimmes.“

Er sah sie kurz von der Seite an, bevor er wieder geradeaus in den Garten blickte. „Allerdings. Und Menschen wie Pete und ich sind nicht unschuldig daran, wie es aussieht.“

„Aber Mulder! Sie wollen damit doch wohl nicht sagen, dass Sie solchen phantastischen Märchen Glauben schenken?“

„Märchen... ja, dafür habe ich die Geschichten damals auch gehalten. Sie wissen, dass Sekten mein Spezialgebiet auf der Uni waren. Ich erfuhr von O’Carrolls Leuten und wollte mehr über sie wissen. Ich fuhr hin. Und dann traf ich Heather...“

Scully merkte, wie schwer es ihrem Partner fiel, weiterzuerzählen. „Was ist passiert?“, fragte sie sanft.

„Ich habe mich sofort in sie verliebt“, sagte er endlich, große Traurigkeit in der Stimme. „Sie war so... unschuldig. In einem guten Sinn naiv. Und sie hatte furchtbare Angst. Sie sagte, ich dürfe mich nicht in sie verlieben. Weder in sie noch in eine der anderen Wächterinnen. Es seien schon Mädchen verliebt gewesen – und dann nie wieder gesehen worden. Sie dürften sich keinem Mann hingeben, sondern nur ganz für den göttlichen Auftrag leben. Alles andere würde dazu führen, dass die Männer, für die sie sich interessierten, sie eines Tages umbrächten und irgendwann danach eine Katastrophe über die Menschen hereinbräche.“

Mulder schwieg wieder kurz. „Pete war in der gleichen Lage wie ich, er war in Mary, Heathers Cousine, auch eine der Jungfrauen, verliebt, und er wollte mit ihr fortgehen. Auch sie sagte, Gott würde sie dann strafen. Wir versuchten, sie von der Gehirnwäsche ihres Clans frei zu machen – und versicherten ihnen, dass wir uns ihnen nicht nähern würden, bevor wir sie nicht geheiratet hätten.“

„Und so sind Sie nach Österreich gefahren?“

„Dann haben Sie mit Pfarrer Feiler gesprochen?“

„Ja, er hat mir allerdings nicht viel gesagt. Er hat gemeint, ich rede besser mit Ihnen.“

„Wir haben dort geheiratet. Ich meine Erica und Pete seine Mary. Sie wissen, dass Feiler mit ihnen verwandt war?“

„Ja. Er hat es erwähnt.“

„Und er ist ein Mann Gottes. Ihm haben die Mädchen vertraut. Er hat ihnen versichert, dass Gott nicht zuließe, dass ihnen ein Leid geschieht, wenn sie denn erst einmal in einer christlichen Ehe lebten. Niemals könnten sie Schuld auf sich laden, wenn sie sich im Rahmen einer Ehe einem Mann hingeben, den sie lieben. Und schon gar nicht für Katastrophen oder Krieg und Terrorismus verantwortlich sein. Sie hätten nichts zu fürchten. – Wie sehr man sich doch täuschen kann.“

Es klang unendlich bitter, und Scully musste wieder an die zermalmten Knochen auf dem kalten Stahltisch denken.

„Pfarrer Feiler scheint das auch zu denken. Er...“ Scully zögerte. „...schien tatsächlich davon auszugehen, dass Sie Ihre Frau getötet haben.“

„Ich fürchte, dass er recht hat.“

Was redete er da?! Wollte er ihr gestehen, ein Mörder zu sein? Der Mulder, den sie manchmal besser kannte als sich selbst? Ihr Partner, dem sie bedingungslos vertraute und von dem ihr eigenes Leben schon mehr als einmal abgehangen hatte? Erneut packte sie blankes Entsetzen. „Aber Mulder!“, rief sie. „Das ist ganz und gar unmöglich!“

Er sah ihr in die Augen. Seine waren jetzt weder grün noch grau-blau, sondern so dunkel wie zwei Moorseen. „Woher wollen Sie das wissen?“

Ihr wurde kalt bei seinem Ton. Doch sie wich seinem Blick nicht aus und ergriff seine Hand. „Ich kenne Sie. Ich sehe, welchen Schmerz Sie empfinden. Und niemals könnten Sie jemanden töten, den Sie lieben.“

Er nickte, die Andeutung eines Lächelns umspielte für den Bruchteil einer Sekunde seinen Mund. „Das Problem ist nur: Das Gleiche hätte ich auch über Pete gesagt. Und Sie sehen selbst, was passiert ist.“

„Das war ein Unfall!“

„Wer sagt Ihnen, dass der Tod meiner Frau keiner war?“

Nun war Scully verwirrt. „Dann wissen Sie, was ihr zugestoßen ist?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Was ist nach Ihrer Hochzeit passiert?“

„Sie ist mit mir in die USA gekommen. Und eines Tages – war sie einfach verschwunden.“

„Könnte Sie sie verlassen haben? Vielleicht, um das Schreckliche zu vermeiden, das angeblich passieren sollte?“

„Nein, das glaube ich nicht. Sie wirkte sehr glücklich. Und schien nicht mehr an die Prophezeiungen zu glauben. Am Tag, als sie verschwand, wollten wir ein Picknick machen. Genau auf dem Gelände, auf dem jetzt ihre Leiche gelegen hat.“

Scully tat es in der Seele weh, als sie sich die Szene vorstellte: ein jüngerer Mulder, hoffnungsfroh am Beginn seiner FBI-Laufbahn, eine lebenslustige, den Klauen einer teuflischen Sekte entronnene Frau an seiner Seite, die sich auf ein Picknick mit ihrem Mann freute, dem Mann, der sie gerettet hatte und dem sie in alle Ewigkeit dankbar und in Liebe verbunden sein würde. Und dann war dies schlagartig, gewaltsam zu Ende – und Mulder hatte nie gewusst, was mit ihr geschehen war. Wie mit seiner Schwester. Nur dass seine Schuldgefühle im Fall seiner Frau wohl noch größer gewesen sein mussten. Er war nicht mehr der kleine Junge, der wie gelähmt der Entführung seiner Schwester zusah. Er hatte eingegriffen, sie gerettet, wie er glaubte – und sie dann doch verloren. Oder war vielleicht indirekt tatsächlich an ihrem Tod schuld. Denn wer sagte, dass sie nicht von den Sektenleuten gejagt und getötet wurde?! Weil sie mit ihm, Mulder, davongelaufen war? Er musste es die ganze Zeit geahnt und befürchtet haben. Und sah sich nun mit der Bestätigung konfrontiert. Sie wusste nicht, was schlimmer sein mochte: nicht zu wissen, was dem über alles geliebten Menschen zugestoßen war – oder nun den unumstößlichen Beweis für das zu haben, was man seit Jahren mit Grauen vermutete. Armer Mulder.

„Dann ist sie wohl auch dort ihrem Mörder begegnet.“ Welcher Trost auch immer in diesem Wissen liegen mochte.

„Oder ich war ihr Mörder.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Denken Sie daran, was prophezeit war und wie Petes Frau ums Leben gekommen ist. Und der arme Pete hat es auch nicht mitbekommen, dem unzusammenhängenden Gestammel nach zu schließen.“

„Und wie hätten Sie es getan? Mit einer Dampframme aus dem Straßenbau?!“

Er seufzte. „Ich weiß es nicht. Und was noch viel seltsamer ist: Erica ist überhaupt nicht mit mir zu dem Picknick gefahren. Sie war schon vorher verschwunden. Ich dachte, vielleicht hat sie mich missverstanden und nicht auf mich gewartet, sondern ist allein vorausgefahren. Deswegen bin ich dort hin. Aber sie war nicht da. Ich habe sie nicht gefunden. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen.“

„Jedenfalls haben Sie sie dann aber doch nicht getötet.“

„Aber das war die Prophezeiung“, widersprach er. „Und sie ist tot.“

Scully wurde langsam wütend. „Sie ist auch noch eine ganze Menge anderes, zum Beispiel laut der Knochen eine Frau, die zum Zeitpunkt ihres Todes etwa 80 Jahre alt war.“

„Das ist unmöglich.“

„Und doch ist es so.“

„Also?! Dann ist wiederum doch auch alles andere möglich, verstehen Sie das nicht?“, brauste nun Mulder seinerseits auf. „Und ich bin wirklich der Mörder meiner Frau.“

„Und wie sollte das gegangen sein? Noch dazu ohne dass Sie davon wissen?“

Er stützte resigniert wieder das Gesicht in die Hände, war nun wieder ganz ruhig. „Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung.“

Er erzählte ihr dann noch davon, wie er Heather damals selbst vermisst melden wollte – und kläglich gescheitert war. „Es hieß, ich könne nicht einmal beweisen, mit Erica zusammengewesen zu sein, geschweige denn sie geheiratet zu haben. Vielleicht... habe sie mich einfach nur verlassen.“ Er schwieg kurz und schluckte hart. „Ich trug noch lange einen Ehering. Ich wollte einfach nicht glauben, dass die Sektengeschichten wahr sein könnten und sie niemals zurückkommt. Ich fühlte mich verheiratet und wollte es bleiben, auch wenn ich rechtlich nach wie vor Single war. Ich vermisste sie schrecklich und hoffte vermutlich bis heute, sie wäre noch am Leben. ,Bis dass der Tod euch scheidet‘ war, wie es aussieht, aber wohl doch nicht nur eine Floskel...“

„Oh Mulder, es tut mir so leid.“ Sie wand ihren Arm um seinen und drückte ihm die Hand, während sie den Kopf tröstend an seine Schulter legte.

Dann stieg eine Frage in ihr auf, und sie rückte wieder leicht von ihm ab und sah ihn an: „Warum nur haben Sie nicht eher mit mir geredet? Haben Sie befürchtet, ich könnte nicht verstehen, wie Sie fühlen?“

Er schob die Unterlippe vor und nagte an ihr, bevor er antwortete. „Nein. Aber ich wollte Sie nicht mit hineinziehen. Wir haben die Überreste meiner Frau gefunden, die eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Scully, ich bin ein Verdächtiger. Und ich wollte nicht, dass Sie sich fragen, ob ich versuche, Sie zu beeinflussen. Und sich fragen müssen, wie Sie zu mir stehen. Und außerdem...“

„Ja?“

„Außerdem weiß ich, was Sie von Diana halten. Ich war mir nicht sicher, wie Sie reagieren würden.“

Scully verzog das Gesicht. Musste er nun ausgerechnet sie erwähnen?!

Sie schwieg.

Er seufzte.

„Vielleicht hatte ich auch nur Angst, Sie würden mich fragen, wieso ich nach Heather nie wieder...“

„... wieso Sie nie wieder geheiratet haben?“

„Nein, wieso ich nicht wieder eine Frau wie sie gesucht habe.“

„Das ist möglicherweise das Gleiche.“

„Vielleicht kann man nur einmal im Leben den Menschen finden, der wirklich zu hundert Prozent zu einem passt, mit dem man alt werden möchte.“

Sie musste an all die oberflächlichen Frauen denken, die oft eine seltsame Faszination auf ihren sonst so skeptischen Partner auszuüben schienen. Frauen, die ihren Körper auf eine Art präsentierten, der unverhohlen „ich will dich ins Bett kriegen“ zu rufen schien. Frauen mit aufgeblasenen Retorten-Brüsten und per Spritze zum Schmollmund geformten Lippen, bei denen er einen Blick bekam wie der Rüde angesichts der läufigen Hündin. Mit Glück waren sie einfach nur dumm. Mit Pech intelligente Intrigantinnen wie Diana Fowley. Lange hatte sie gedacht, Mulder würde grundsätzlich nur Flittchen attraktiv finden. In letzter Zeit hatte sie allerdings manchmal das Gefühl, dass er... Wie sollte man es ausdrücken? Mit ihr zu flirten begann? War da am Ende vielleicht mehr als nur Freundschaft? Mehr als das Füreinander-Dasein im Dienst des FBI? Bisweilen hatte er ihr Blicke zugeworfen, nach denen sie dachte, er würde etwas Persönliches sagen. Meistens war es dann jedoch wieder nur ein dummer Spruch geworden. Nach dem, was sie nun über seine Heirat und das Schicksal seiner Frau wusste, glaubte sie zu verstehen, warum. Sie musste an ihre eigenen Gefühle für Mulder denken, die tiefe Dankbarkeit, die sie oft dafür empfand, dass er ihr Partner sein durfte, das warme, innige Gefühl, wenn sie an ihn dachte. Nicht auszudenken, wenn ihm etwas zustieße. Würde sie jemals darüber hinwegkommen?

Dann musste sie plötzlich an einen ihrer Mitstudenten denken, der sich das Leben genommen hatte. Er war im Medizinstudium völlig falsch, da er kein Blut sehen konnte. Zuvor hatte er eine Lehre als Pfleger versucht und abgebrochen, er hatte auch schon Zimmerer werden wollen und aufgegeben. Und mehrmals seine Studienfächer gewechselt. Von Literaturwissenschaft zu Biologie, von Biologie zu Theologie. Von Theologie zu Medizin. Irgendwann hatte sie herausgefunden, dass das Fach, in dem er in der Schule alle anderen überragte und regelrecht ein Genie war, Mathematik geheißen hatte. „Ja, warum studierst du denn dann das nicht auch?“, hatte sie ihn völlig verblüfft gefragt. „Ich kann nicht“, hatte er gesagt. „Was ist, wenn ich den Ansprüchen im Studium nicht genüge? Wenn die anderen besser sind als ich? Ich war immer der Beste in Mathematik. Was ist, wenn das auf der Uni nicht mehr so ist? Wenn sie mir zeigen, dass ich das auch nicht kann? Dann habe ich gar nichts mehr. Das trau ich mich nicht. Ich kann nicht Mathematik studieren. Ich kann einfach nicht.“ Nicht viel später hatte die Polizei ihn erhängt an einem Baum am Fluss gefunden.

Was für ein Verlust für die Welt und die Mathematik. Was für ein paranoider Gedanke, dass einem Gutes nur einmal widerfahren könne. Oder nur zu einer bestimmten Zeit im Leben. Nur eine einzige Chance für die große Liebe? Auf der ganzen Welt? Sie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, Sie haben aus Angst, dass es so sein könnte, nie wieder den Versuch unternommen.“

Er zog sie unvermittelt an sich und begann in der Umarmung zu weinen. „Oh Scully, sie könnte noch leben, wenn sie mich nie getroffen hätte. Vielleicht wäre wahre Liebe gewesen, sie einfach in Ruhe zu lassen.“

Die Agentin strich ihm über die Haare wie einem Kind, schmiegte ihre Wange an seinen Kopf. „Vielleicht. Aber das konnten Sie nicht wissen. Alles, was Sie versuchen konnten, war, sie zu retten. Das haben Sie nach bestem Gewissen getan. Wen man liebt, den will man erstens in Sicherheit wissen und zweitens um sich haben. Dass es Ihnen nicht vergönnt war, mit ihr alt zu werden... das müssen Sie als Schicksal akzeptieren. Sie sind ein Mensch – und nicht der Allmächtige.“



„Hm, merkwürdig.“

„Was?“ Diesmal war Mulder nicht dem Autopsietisch ferngeblieben. Er stand hinter Scully, als sie Marys Leiche untersuchte.

„Das hier.“ Sie zeigte auf die Stellen am Körper, die verrieten, an welchen Punkten der Wagen die Frau erfasst hatte. „Das Auto muss sie an der Hüfte erwischt haben.“ Ihre behandschuhten Hände fuhren an der Seite der Toten entlang. „Und an der Schulter. Wenn ein Mensch aber steht, der von einem Personenwagen an die Garagenwand gedrückt wird, so erfasst ihn das Auto im Bereich der Beine.“

„Sie kann also nicht gestanden haben?“

„Die Spuren sagen, sie war auf Knien und Händen hinter dem Wagen, als er zurücksetzte. Was auch leicht erklärt, wieso Pete sie tatsächlich nicht gesehen hat, selbst wenn er hätte rückwärts fahren wollen. Die Frage ist: warum?“

„Warum kriecht jemand über den Boden wie ein Hund? Weil er oder sie etwas auf dem Boden sucht?“

„Wie ein Hund...“, murmelte Scully und wandte sich zu ihrem Partner um. „Mulder, Pete hat gedacht, dass er seine Hündin überfahren hat. Er war völlig entgeistert, als er kapiert hat, dass seine Frau unter dem Wagen liegt.“

Mulders Augen weiteten sich alarmiert. „Er hatte einen Hund?“

„Ja, ich habe ihn aus Emmas Fenster kurz zuvor mit ihm beim Auto gesehen.“

„Wo war er nach dem Unfall? Ich habe nirgendwo einen gesehen, als ich dort war.“

„Ich auch nicht mehr. Aber vielleicht ist er beim Unfall durchgedreht und fortgelaufen.“

Mulder starrte auf die Leiche. „Das glaube ich nicht“, sagte er. Und Scully wusste plötzlich, welch ungeheuerlicher Verdacht in ihrem Partner keimte. In ihr selbst auch, genaugenommen. Aber das konnte doch einfach nicht wahr sein! „Sie denken, die Hündin... war Mary?!“

„In alten Überlieferungen gibt es Sagen von Frauen, die Tiergestalten annehmen“, bemerkte Mulder lahm.

„Sehr richtig. In Sagen.“

Er wandte den Blick noch immer nicht von der Leiche auf dem Tisch, als er fragte: „Wann wurde Mary eigentlich zuletzt mit Pete gesehen? Und seit wann hatte er einen Hund?“



„Hier. Das ist alles, was über Wächterinnen bekannt ist, die gegangen sind.“ Mulder stand vor dem Kellerregal und hatte die Akte herausgezogen. Sie hatte unter „H“ gestanden, entgegen der Gepflogenheiten nur beschriftet mit „Heather“. Er reichte sie seiner Partnerin.

Scully nahm sie, ging zu einem Stuhl und setzte sich. Dann schlug sie sie auf. Es war in der Tat nicht viel enthalten. Und das meiste davon wilde Spekulation. Peters und Mulders Bestätigungen über kirchliche Heirat waren obenauf geheftet, darunter befanden sich andere Vermisstenfälle im Zusammenhang mit der Sekte, von denen Mulder gewusst hatte. Während sie mit der linken Hand blätterte, versuchte Scully mit der rechten, eine lästige Fliege zu verscheuchen, die sie umsurrte und es sich offenbar partout in den Kopf gesetzt hatte, sich auf ihren Haaren niederzulassen. Moment, was war denn das? Ein Rudolph, dessen Frau wie Heather und Mary plötzlich verschwunden war und der ihren Tod vermutete, gab den Traum einer Katastrophe zu Protokoll.

„Verdammt noch mal!“ rief Scully abgelenkt. Die Fliege hatte sich auf ihrem Handrücken niedergelassen und spazierte darauf herum, sodass ihre winzigen Beine die Agentin kitzelten und sie irritierten. Scully wedelte mit der Hand. Die Fliege schwirrte davon und schien sich nun Mulder zuwenden zu wollen, der sich gegenüber von Scully hinter seinem Schreibtisch niedergelassen hatte.

„Mulder, was ist das hier? Diese Anmerkung über einen Traum?“ Sie schob die Akte umgedreht in seine Richtung, damit er sah, wovon sie redete. Die Fliege spazierte über das Telefon. Dann erinnerte Scully sich: „Moment. Pfarrer Feiler hat auch von einer Traumbotschaft gesprochen. Er hat gefragt, ob Sie sich erinnern könnten, was Sie träumten, nachdem Sie Heather... getötet hatten.“

Sein Gesicht verzog sich schmerzlich. Er griff nach dem Foto, das Scully mit dem Bild nach unten neben dem Ring auf seinem Schreibtisch liegengelassen hatte, und drehte es um. Er starrte die Fotografie an, strich zärtlich mit dem Daumen über die Wange der grazilen, dunkelhaarigen Frau. Seiner Frau. Einen Moment lang sah er wieder so verwundbar aus wie unmittelbar nach der Erkenntnis unter dem Baum auf dem Grillplatz. Dann legte er das Bild zur Seite, löste seinen Blick von ihm und sah auf den Vermerk, den Scully ihm hinhielt.

„Es hängt mit der Schuld zusammen. Die Männer, die die Wächterinnen gestürzt haben, sind dazu verdammt, sie zu Tode zu bringen – und die Katastrophe, die sie nicht aufhalten können, vorherzuträumen.“

„A... aber... Also, wenn das stimmt – dann kann man das, was passieren soll, ja vielleicht doch aufhalten.“

Mulder schüttelte den Kopf. „Nein. Die Träume sind nur bruchstückhaft. Oder so, dass einem keiner glauben würde. Und selbstverständlich wird kein Datum mitgeliefert.“

„Einmal angenommen, dass das alles keine Hirngespinste sind, sondern es wirklich so abläuft: War, was dieser Pete nach dem Unfall gestammelt hat, dann möglicherweise der Traum?“

Mulder zog seine Unterlippe zwischen die Zähne. Dann antwortete er. „Höchstwahrscheinlich.“

„Er sagte etwas von überflutetem New Orleans. Und den Namen Katrina. Was soll das bedeuten?“

„Sehen Sie? Wer kann das wissen?“

„Auf alle Fälle liegt New Orleans in weiten Teilen unter dem Niveau des Meeresspiegels, und Experten warnen seit Jahren davor, was passieren kann, falls einmal die Dämme brechen.“

„Und was tun sie? Nichts. – Scully, glauben Sie wirklich, dass sich daran etwas ändern wird, wenn ich der Regierung erzähle, dass mein Freund, der über dem Unfalltod seiner Frau durchgedreht ist, vor dem Untergang von New Orleans warnt, weil das eine Katastrophe ist, die irgendwann demnächst wirklich geschieht?“

„Aber irgend etwas muss man doch tun können.“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Ich wüsste nicht, was.“

„Glauben Sie an die Vorhersagen?“

Er nickte langsam. „Ja. Ja, das tue ich.“

Sie fuhr sich mit der Zunge über die plötzlich trockene Lippe, bevor sie fragte: „Wissen Sie, was Sie geträumt haben?“

Er blickte ihr in die Augen. Bedauernd. „Nein. Ich weiß ja nicht einmal den Tag, an dem sie gestorben ist.“

Dann löste er seinen Blick von ihrem, verscheuchte die Fliege von seinen Fingern – und hielt inne, als er das Blatt, das in der Akte aufgeschlagen war, bewusst ansah. „Moment, was ist denn das?“

Er las nach, was unter der Erläuterung der Traum-Theorie als Beschreibung des Traumes dieses Mannes stand. Scully sah, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Er drehte die Akte wieder zu ihr und deutete auf den Absatz. „Es ist wahr“, sagte er nur, und ihm versagte beinahe die Stimme.

Sie las, was zu Rudolph festgehalten war. Er wusste, was er geträumt hatte, obgleich er wie Mulder nicht sagen konnte, ob der Tag, ab dem er seine Frau nicht mehr gesehen hatte, auch ihr Todestag war. Der Traum jedoch legte es nahe: Scully las von einem dunklen Auto, das in einen Tunnel rast, verfolgt von anderen Wagen und Motorrädern. Der Wagen prallt gegen einen Pfeiler. Und im Wagen stirbt eine Königin.

„Oh mein Gott“, sagte sie. Die Schlagzeilen aus Europa hatten wochenlang die Zeitungen beherrscht. Die Spekulationen darüber, ob der Fahrer betrunken war oder die verfolgenden Reporter den Unfall ausgelöst hatten. Die Berge von Blumen, die in ihren knisternden Plastikfolien von Trauernden vor den Zäunen der Londoner Paläste aufgehäuft wurden, sogar Wildfremde lagen sich in den Parks schluchzend in den Armen. Die ganze Welt war erschüttert, weil eine lebensfrohe, junge, blonde Frau gestorben war: Prinzessin Diana, „die Königin der Herzen“, wie Scully nun vor sich hinmurmelte.

Scully blätterte um. Noch eine Vermisste, noch eine Prophezeiung. „Die Türme brennen und Tausende sterben, Nine-Eleven. – Das ist der Notruf. Mhm. Wissen Sie, was das bedeuten könnte?“

Mulder hatte inzwischen eine alte Zeitung zusammengefaltet, und als die lästige Fliege wieder über den Schreibtisch marschierte, schlug er zu. Ein Klatsch, und das Insekt war erlegt. Plattgedrückt lag die Fliege auf dem Tisch, die Flügel verdreht, die dünnen Beine von sich gestreckt. Im gleichen Moment wurde der Agent noch eine Spur blasser. „Scully“, sagte er alarmiert, und in seiner Stimme lag nackte Panik. „Ich fürchte, ich weiß jetzt, wie...“

Sie sah in seine Augen, die weit aufgerissen waren, und folgte seinem Blick. Die Fliege auf der Schreibtischplatte rührte sich nicht mehr. Von der improvisierten Fliegenklatsche totgeschlagen. Scully dachte an den Hund und die Frau unter dem Wagen. Und an die zerschlagenen Knochen auf ihrem Autopsietisch. Den Alterungsprozess einer Stubenfliege. Und genau wie Mulder dämmerte ihr, auf welche Weise Heather wohl durch seine Hand gestorben war.
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