World of X

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Metamorphose

von Andrea Muche

Kapitel 4

„Halt, warten Sie.“ Als Scully gerade das FBI-Gebäude verlassen wollte, kam der junge Assistent, der die wenigen Informationen über Heather geliefert hatte, während sie bei der Autopsie war, hinter ihr her. Scully blieb stehen und wandte sich ihm zu.

„Sie haben mich doch neulich nach einer Heather O’Carroll gefragt.“

„Ja, warum?“

Der Assistent holte tief Luft, bevor er ihr in die Augen sah. „Also, ich weiß ja nicht, ob es vielleicht zuviel Eigeninitiative meinerseits war, aber ich fand es merkwürdig, dass ein offensichtlich normaler Vermisstenfall in unserem Computersystem sein sollte und habe genauer nachgeforscht. Es gab da eine Verbindung zu einer obskuren Sekte.“

Scully seufzte. „Ich weiß. Trotzdem danke.“

„Moment, das ist noch nicht alles.“

Die blauen Augen der Agentin richteten sich fragend auf den eifrigen jungen Mann.

„1993 ist ein Mann in die Psychiatrie eingeliefert worden, der seine Frau getötet und teilweise gegessen hat. Kannibalismus, hochgradig verwirrt. Und er hat immer wieder wiederholt: ,Heather weiß, dass ich nichts dafür kann, fragt Heather. Heather O’Carroll.‘ Da sie jedoch nie wieder aufgetaucht war, hat man vermutet, er könnte auch ihr etwas angetan haben. Der Verdacht ließ sich allerdings nicht erhärten.“

Scully schüttelte leicht den Kopf. „Ich denke nicht. Aber dass er von ihr gesprochen hat, könnte etwas bedeuten.“ Ihr kam ein Verdacht. „ Hieß er zufällig Frank O’Carroll?“

Der Assistent verneinte. „McLeod. Jeffrey McLeod. Seine Frau soll früher der gleichen Sekte angehört haben wie Heather O’Carroll.“

„Herrje, noch eine.“

„Bitte?“

Scully ignorierte die Frage. „Wo ist McLeod heute? Wissen wir das?“

Er nickte. „Im Maßregelvollzug. Er ist nie wieder aus seiner Wahnwelt aufgetaucht.“

Scully reichte dem jungen Mann zum Abschied die Hand. „Danke. Sie haben mir sehr geholfen.“



„Wissen Sie von Jeffrey McLeod?“, fragte sie kurz danach über ihr Mobiltelefon Fox Mulder.

„Nein. Wenn er Erica erwähnt hat, hätte ich eigentlich davon erfahren sollen. Wieso kann das dieser Heini im Computer finden, und ich weiß nichts davon?“

Scully rollte mit den Augen. Mulder und seine Paranoia. „Vielleicht ist man davon ausgegangen, dass Sie Ihren Computer ebenfalls hin und wieder benutzen. Oder es hat jemand einfach übersehen.“

„Mhm.“

„Also, was ist? Kommen Sie nun mit oder nicht? Ich habe vor, in die Nervenheilanstalt zu fahren.“

Er zögerte. „Nein. Sie sind die Ärztin. Und ich muss... Ich will etwas finden.“



Also fuhr sie allein und quälte sich durch die komplizierte Anmeldeprozedur und die Sicherheitstüren, die den Hochsicherheitstrakt von der restlichen Einrichtung trennten. In einem Besuchsraum wartete sie, bis Jeffrey McLeod hereingeführt wurde. Er trug einen gepflegten Vollbart und hatte eine Nickelbrille auf. Ruhig setzte er sich Scully gegenüber an den Tisch und fragte: „Sie sind vom FBI? Womit kann ich dienen?“ Alles in allem wirkte er eher wie ein Intellektueller, nicht wie ein Verrückter. Aber wann hatte schon ein Mörder wie ein Mörder ausgesehen? Der Mann vor ihr konnte ein hochintelligenter, charmanter Psychopath sein. – Oder aber...

„Warum nehmen Sie an, dass ich etwas von Ihnen wissen will?“

„Weil Sie hier sind. Während der letzten Jahre war niemand wie Sie mehr hier. Also müssen Sie mich etwas fragen wollen. Vielleicht ist die Sekte wieder da, und Sie haben Angst vor einem zweiten Waco. Dafür wäre das FBI ja wohl zuständig, oder nicht? Und...“, er machte eine Kunstpause und ließ seine grauen Augen vielsagend an Scullys schwarzem Rock und Blazer hinauf- und hinunterwandern, „...die Wahl Ihrer Kleidung spricht Bände.“

„Was ist an dem Tag, an dem Ihre Frau starb, geschehen?“

Er blickte auf die Tischplatte. „Sagen Sie ruhig umgebracht. Das sagen sie hier auch immer. Und ich akzeptiere inzwischen auch, dass es wohl so war.“

„War Ihre Frau eine Wächterin?“

Sein Kopf ruckte hoch. „Ja. Sie wissen, was das bedeutet?“

„Ja. Zumindest glaube ich, ich beginne zu verstehen.“

„Ich hätte sie alle retten können. Wenigstens sie, wenn schon nicht meine Frau. Wenn meine Warnung nur jemand ernst genommen hätte! Aber nun ist es zu spät. Meine Frau ist tot, ich bin hier – und knapp 900 Menschen liegen auf dem Grund der Ostsee.“

„Was ist am Tag, als Ihre Frau starb, passiert?“, fragte Scully erneut.

Er sah sie an, hob die Schultern, ließ sie wieder fallen. „Meine Frau war verreist. Jedenfalls dachte ich das. Und ich... Ich habe ein Huhn geschlachtet. Wir mästeten Hühner und Kaninchen, es war unsere Philosophie, dass man, wenn man Fleisch essen möchte, auch in der Lage sein muss, die Tiere zu schlachten. Ich habe also das Huhn geschlachtet, gerupft und ausgenommen, zerlegt, in eine wundervolle Zitronenmarinade eingelegt und mir dann die Brust und ein Bein gebraten.“

Scully musste an den Hund denken. Und an die Fliege. Ihr Mund war trocken, sie schluckte schwer.

„Die abgenagten Knochen habe ich in den Müll geworfen. Die Teile, die noch auf den Verzehr warteten, waren in der Gefriertruhe.“

„Wo die Polizei Leichenteile Ihrer Frau gefunden hat?“

Er sah ihr geradewegs in die Augen und bestätigte: „Wo die Polizei Leichenteile meiner Frau gefunden hat. Und Knochen von ihr im Müll.“

Er wusste, dass sie verstand, was passiert war, sie konnte es ihm ansehen. „Das Huhn war nicht mehr da, nehme ich an.“

„Sie nehmen richtig an.“

Was für eine furchtbare Geschichte. Pete hatte, weil er seine Hündin übersah, seine Frau überfahren. Mulder hatte eine Fliege erschlagen. Und dieser arme Mann hier seine Frau nicht nur getötet, sondern nichtsahnend auch noch gegessen. Und saß nun seit Jahren zu Unrecht in der Klapsmühle. Was sollte sie nun tun? Sie war sich hundertprozentig sicher, dass er im rechtlichen Sinne unschuldig war. Genau wie Mulder und Pete. Aber wie, um alles in der Welt, sollte sie irgend jemandem plausibel erklären oder gar beweisen, dass all diese Männer Frauen geheiratet hatten, die, weil sie keine Jungfrauen geblieben waren, dazu verdammt waren, sich eines Tages in Tiere zu verwandeln, um durch die Hand ihrer nichtsahnenden Männer zu sterben?!

Jeffrey schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn er lächelte leicht und sagte: „Ich weiß, dass Sie mir nicht helfen können. Aber ich habe mich mit meinem Schicksal abgefunden. Ohne meine Frau bin ich sowieso wie ein wandelnder Toter. Vielleicht wäre ich draußen tatsächlich verrückt geworden. So merkwürdig Sie es finden mögen: Es geht mir gut hier. Ich kann arbeiten und auch meinen Geist beschäftigen. Ich fühle mich wohl.“ Dann nahm sein Gesicht jedoch einen gequälten Ausdruck an. „Das Einzige, was mich belastet, sind die Erinnerungen an den Tod meiner armen Frau – und dass niemand das Unglück verhindern konnte, das mit ihm einherging.“

„Sie haben es geträumt?“

Er nickte traurig.

„Und es ist wahr geworden?“

Er nickte wieder.

„Was war es?“

Seine Stimme klang rau, als er sprach. „Ich habe von einem Schiff geträumt, das wie ein lebendiges Wesen einen Beschluss fassen kann; den Beschluss, mitten auf der sturmgepeitschten Ostsee sein Maul zu öffnen und zu trinken. Und sich dann zum Schlafen auf den Grund des Meeres zu legen. – Sehr lyrisch, nicht wahr? Habe ich erwähnt, dass ich Professor für Philosophie und Literatur war?“

„Die Katastrophe war also ein Schiffsuntergang?“

Er seufzte. „In der Nacht auf den 28. September 1994 ist die Fähre ,Estonia‘ vor der finnischen Südküste gesunken. Der Kapitän hatte das Schiff trotz schwerer See zu schnell fahren lassen. Die Bugklappe der Fähre wurde abgerissen, Wasser lief ins Autodeck. Schließlich funkte die Besatzung SOS, Elektrik und Maschinen waren komplett ausgefallen. Doch die Hilfe ist zu spät gekommen. Eine Fähre, die voll Wasser läuft, kentert schnell; es hat wohl maximal 30 Minuten gedauert, und das Schiff war untergegangen, kurz vor zwei Uhr morgens verschwand es von den Radarschirmen. Die meisten Menschen wurden im Schlaf überrascht. Sie hatten keine Chance. Andere sind im kalten Wasser umgekommen. Überlebt haben nur 137 Menschen, an Bord der Fähre müssen aber über tausend gewesen sein. Ursächlich für das Unglück waren Mängel, Schlamperei. Wenn mich irgendjemand ernst genommen hätte, hätte es sich vielleicht verhindern lassen. Ein Schiff, das sein Maul öffnet... Es konnte nur eine Fähre mit Bugvisier gemeint sein. Man hätte sie alle sofort überprüfen und mehr auf die Sicherheit achten müssen...“

„Ist so etwas nicht früher schon einmal passiert? Mit einer Englandfähre?“

Er nickte. „Sie meinen die ,Herald of Free Enterprise‘. Sie ist 1987 im Hafenbecken von Zeebrugge gesunken, weil die Klappe beim Ablegen noch offen war. 188 Tote, und es waren wohl nur deswegen nicht mehr, weil die Fähre nicht komplett versinken konnte, denn so tief war das Hafenbecken nicht. Auch dort war Schlamperei die Ursache. Ein Mann namens Stephen Homewood hat 1989 darüber sogar ein Buch geschrieben und darin auch prophezeit, dass ein derartiges Unglück jederzeit wieder passieren kann.“

„Fähren sind beim Kentern anderen Schiffen gegenüber immer im Nachteil.“ Das wusste auch Scully. „Ihr Schwerpunkt liegt falsch. Und sobald in das nicht unterteilte Autodeck Wasser eindringt, legen sie sich so schnell auf die Seite wie kein anderes Schiff. Sie versinken wie Steine.“

„Bugklappen sind ebenso idiotisch.“

„Die Menschheit hält sich zu oft für unverwundbar“, sagte Scully. „Wie bei der quasi unsinkbaren Titanic...“

„Ja. Die menschliche Hybris.“

„Tröstet es Sie, wenn ich sage, es war zumindest nicht allein Ihre Schuld? Nach dem Schicksal der ,Herald‘ hätten schließlich auch schon alle gewarnt sein und die anderen Schiffe überprüfen müssen. – Denken Sie nicht, nur Sie hätten es verhindern können.“



Die braune Tür mit der Nummer 42 öffnete sich, und Mulder bat sie in sein Apartment. Er sah aus, als sei eine gewisse Tatkraft in ihn zurückgekehrt. „Kommen Sie rein“, sagte er, „ich glaube, ich habe es gefunden. Ich werde alles daransetzen, dass sie wenigstens nicht umsonst gestorben ist. Die Vorhersage darf sich nicht erfüllen!“

Angesichts dessen, was sie von Jeffrey McLeod erfahren hatte, hielt sie die Chancen dafür inzwischen selbst für gering bis nicht vorhanden, aber das wollte sie ihm lieber nicht sagen.

In seinem Wohnzimmer sah es noch weniger aufgeräumt aus als gewöhnlich. Überall lagen Notizbücher verstreut, mit Einträgen in Mulders Handschrift. „Ich habe das Tagebuch aus der bewussten Zeit gesucht. Ich bin fündig geworden. Nun kenne ich den Traum.“

„Sie führen Tagebuch?“ Scully zog eine Augenbraue hoch. Sie konnte sich langsam wirklich nicht mehr genug über ihren Partner wundern. Als sie sich auf das Sofa setzen wollte, dazu aber eines der aufgeschlagenen Hefte beiseite räumen musste, fiel ihr Blick auf eine Zeile, in der von „sagenhaft festen Brüsten“ und „großen Titten“ die Rede war. Okay, es gab noch Seiten von ihm, die sie kannte. Wie beruhigend. Sie klappte das Heft zu und legte es zur Seite, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

„Hier.“ Mulder hielt ihr ein anderes unter die Nase. Sie las die Stelle, auf die er mit dem Finger deutete. Dort stand, wie er den ganzen restlichen Tag darüber nachgegrübelt hatte, wieso er Erica nicht auf dem Grillplatz gefunden hatte, und vor Sorge um sie auch praktisch keinen Schlaf fand, bevor er dann am frühen Morgen doch in einen unruhigen Schlummer gefallen war. Und dabei hatte er von einer ungeheuren Welle geträumt. Von Wasser, das sich an einem zweiten Weihnachtstag zurückzog und plötzlich mit geballter Wucht wiederkam, um Fischer und arglose Strandurlauber zu verschlingen wie das Rote Meer einst angeblich die Verfolger der Israeliten.

„Das ist die Beschreibung eines Tsunami“, sagte Scully.

„Eine solche Riesenwelle kann Tausende in den Tod reißen.“

„Ja, es hat sie immer wieder einmal gegeben. So wie beim Erdbeben von Lissabon.“

„Wann war das? 1755? Erst kam das Erdbeben, und dann der Tsunami, der alle mit sich gerissen hat, die sich vor den Bränden ans Tejo-Ufer geflüchtet hatten. Ich glaube, es gab rund hunderttausend Tote.“

„Die Gewalt des Erdbebens war angeblich so groß, dass in Hamburg die Glocke des Turmes von Sankt Michaelis geläutet hat.“

„So etwas kann jederzeit wieder passieren.“

Sie sahen sich höchst unbehaglich an.

„Wir müssen das verhindern“, beschwor Mulder sie.

„Aber wie wollen Sie das machen?“

„Ein Warnsystem. Im Pazifik gibt es eines, schon seit den 50er Jahren, damals zum Schutz der USA eingerichtet, mit der Zentrale auf Hawaii. Im Indischen Ozean nicht. Ich bin mir sicher, ich habe in dem Traum den Indischen Ozean gesehen. Es muss so schnell wie möglich ein Tsunami-Warnsystem in diesem Teil der Welt aufgebaut werden.“



Die Lippen von Assistant Director Skinner waren dünn wie ein Bleistiftstrich. Eine Ader an seiner Stirn trat deutlich hervor, als er seine Brille abnahm und sich an seinem Schreibtisch drohend nach vorn beugte.

„Sind Sie eigentlich noch ganz bei Trost?!“, brüllte er. „Ich soll was?!“

Mulder starrte böse zurück. Und schwieg nun, nachdem er Skinner dargelegt hatte, was der seiner Meinung nach tun sollte.

„Sir.“ Scully mischte sich mit der sanftesten, ruhigsten Stimme ein, derer sie fähig war. „Es ist doch nicht ganz von der Hand zu weisen, dass im Indischen Ozean eine fürchterliche Katastrophe geschehen könnte, falls eine Killerwelle über diese Küsten herfällt. Der Aufbau eines Warnsystems würde bedeuten, dass man die Menschen rechtzeitig evakuieren könnte.“

„Und wen, bitte, soll das in einer Krisenregion interessieren? Wo sich Rebellen sowieso ständig gegenseitig umbringen? Und die Regierungen entweder korrupt sind oder unfähig oder beides – und auf alle Fälle nicht daran interessiert, für den Schutz ein paar armseliger Fischer Milliarden auszugeben? Und Sie“ – dabei stieß sein Zeigefinger anklagend in Mulders Richtung – „wollen, dass ich unseren Präsidenten dazu überrede, sich für ein solches Projekt einzusetzen und sich auch noch um eine Finanzierung zu kümmern?! Was sollte denn Amerika davon haben?!“

„Eine bessere Publicity in dem Teil der Welt“, konterte Mulder. „Wäre es nicht schön, wenn die USA einmal als Wohltäter aufträten, ohne dass Erdölquellen als Motiv angenommen werden können?“

Skinner erhob sich. „Noch so ein Satz, und ich lasse Sie aus dem Dienst entfernen, Agent Mulder! Eine solche antiamerikanische Bemerkung kann und werde ich Ihnen nicht durchgehen lassen. Wenn Sie auf die weitere Beschäftigung im Dienst für die USA keinen Wert mehr legen, brauchen Sie es nur zu sagen!“

Mulder blickte zur Seite und biss stocksauer auf seiner Lippe herum. Eine Weile sprach keiner ein Wort.

„Könnte das Geld für den Aufbau eines solchen Warnsystems nicht doch aufgetrieben werden?“, fragte Scully dann sanft. Ihre wasserblauen Augen waren bittend auf ihren Vorgesetzten gerichtet.

Skinner strich seine faltenfrei hängende Krawatte glatt, atmete schwer aus, setzte seine Brille auf und setzte sich wieder hin.

„Vermutlich könnte es das“, gab er dann zu, „wenn die Lage in diesem Teil der Welt nur ein klein wenig stabiler wäre. Oder die Bedrohungslage offensichtlich akut. Aber beides ist nicht der Fall.“ Er seufzte. „Sehen Sie sich zum Beispiel Sri Lanka an. Dort haben Sie einen andauernden bewaffneten Konflikt zwischen tamilischen Separatisten auf der einen und dem srilankischen Militär einschließlich diverser paramilitärischer Einheiten auf der anderen Seite. Der Bürgerkrieg tobt schon seit 1983, mit unzähligen Toten auf beiden Seiten. Selbst wenn durch internationale Hilfe das seismographische Warnsystem aufgebaut werden könnte – um zu warnen, brauchen Sie zumindest funktionierende Informationskanäle, die Warnung muss weitergeben und die Evakuierung eingeleitet werden. Denken Sie, dass das dort irgendjemanden interessiert? Oder nehmen Sie Indonesien. Die Konflikte in Aceh auf der Insel Sumatra nehmen ständig zu. Die Menschen dort sehen sich im ökonomischen Abseits, obwohl die Insel reich an Bodenschätzen ist. Von diesen profitieren in Suhartos Klüngelsystem aber nur die Javaner. Suharto unterdrückt jede Opposition, die Reaktion sind Anschläge. Die Unruhen nehmen zu, und jeder fragt sich, wie lange dieser Präsident dort sich überhaupt noch halten kann. Das ist die Region, von der wir hier reden. Und, Agent Mulder, einen Tsunami ungeheuren Ausmaßes vorherzusagen aufgrund eines Traumes, den Sie nach dem Tod Ihrer Frau hatten – mein Beileid, übrigens –, also, das ist unmöglich etwas, womit ich zu unserem Präsidenten gehen kann, begreifen Sie das doch. Damit macht sich das FBI nur endgültig lächerlich. Natürlich geschehen Seebeben immer wieder. Jawohl. Und zwar aufgrund von Plattentektonik, und nicht, weil irgendwo jemand gestorben ist, der sich für eine Vestalin gehalten hat.“

Skinner seufzte, als er aufstand, diesmal, um den Agenten anzudeuten, dass das Gespräch beendet war. „Es tut mir leid, Agents. Aber es gibt einfach konkretere und dringendere Dinge, um die wir uns kümmern müssen, und wenn in den letzten hundert Jahren keine derartige Katastrophe, wie Sie sie beschrieben haben, passiert ist, dann stehen die Chancen doch nicht so schlecht, dass auch in den nächsten hundert Jahren keine geschehen wird.“

Mulder und Scully erhoben sich ebenfalls und wandten sich zur Tür. „Wächterin“, murmelte Mulder im Gehen. „Sie war eine Wächterin. Keine Vestalin.“



„Diese verdammten, arroganten Mistkerle in ihren Anzügen mit Ärmelschoner!“, wütete Mulder. Er saß mit Scully in seinem Büro und hatte eben sein Memo zurückbekommen, mit dem er beim Dienst angemeldet hatte, nach dem Verbleib von Heathers Vater und den anderen Sektenmitgliedern suchen zu wollen. Sie sah ihn an und zog fragend eine Augenbraue hoch. Er warf es ihr entnervt zu, stand auf und lief in die andere Ecke des Büros, wandte Scully den Rücken zu und verschränkte die erhobenen Arme hinter dem Kopf.

„Pling!“ Die Neonröhre flackerte.

Sie nahm das Memo und wusste schon, was auf dem angehefteten, roten Vermerk stand, bevor sie ihn las. „Antrag abgelehnt. Ein weiteres investigatives Vorgehen in diesem speziellen Fall würde als Verschwendung von Arbeitsleistung und Steuergeldern angesehen.“

Sie legte das Memo auf den Schreibtisch und ging zu Mulder, der inzwischen die Hände in die Hüften gestemmt hatte.

„Mulder.“ Ihre Hände legten sich von hinten auf seine Schultern. „Lassen Sie es auf sich beruhen. Jedenfalls für jetzt. Vielleicht ergibt sich irgendwann der Hinweis auf eine konkrete Gefährdungslage, wie Skinner sie voraussetzt. Oder es wird aus anderen Gründen wichtig, nach Frank O’Carroll zu fahnden. Aber für den Augenblick können Sie nichts tun.“

„Aber all diese unschuldigen Menschen, die noch sterben werden!“, sagte ihr Partner verzweifelt.

„Ich weiß“, antwortete Scully leise, und ihre Stimme spiegelte seinen Schmerz.



Die Beisetzung fand im denkbar kleinsten Rahmen statt. Nur Mulder und Scully waren da – und ein katholischer Priester. Die beiden Agenten sahen schweigend zu, wie der Kirchenmann nach den Gebeten die Urne, die die Knochen von Heather O’Carroll enthielt, in die dunkle Erde senkte. Mulder warf den Kopf einer Nelke hinterher, und dann schaufelte der Friedhofsdiener das Loch zu.

Scully stand neben Mulder und drückte seine Hand. Dann griff sie in ihre Manteltasche und hielt ihm den goldenen Ehering hin, in dem sein Name stand. „Ich wollte nicht, dass er mit in die Urne kommt“, sagte sie, als sie ihn ihm reichte. „Wenigstens die Ringe sollten wieder vereint sein.“

Er nahm ihn und nickte. „Immerhin weiß ich jetzt endlich, was geschehen ist. Und dass sie nie wiederkommen wird. Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit.“

„Vielleicht werden Sie eines Tages wieder lieben können“, sagte Scully. „Sie sind ein wundervoller Mensch, der zu viel zu geben hat, als dass Sie zeitlebens nur Befriedigung in kurzfristigen Abenteuern suchen sollten. Geben Sie die Hoffnung nicht auf.“

Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. „Danke, Scully. Für Ihren Trost und für Ihr Vertrauen. Danke dafür, dass Sie da sind.“


ENDE
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