World of X

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Mein ist die Rache

von Andrea Muche

Kapitel 3

Brainstorming in Kramhöllers Büro. Nur, daß von einem „Sturm“ eigentlich nicht gerade die Rede sein konnte. Totale Flaute hätte es eher getroffen. Sie versuchten, irgendeine weitere Verbindung zwischen den Fällen zu finden, die ihnen bei der Lösung weiterhelfen würde, aber keiner hatte eine Idee.

Das Telefon auf Kramhöllers Schreibtisch klingelte. Er nahm ab, das folgende Gespräch war kurz und einseitig. Der Österreicher sagte nichts außer ein paarmal „ja“ und am Ende „Danke“, aber sein Gesicht hatte sich während des kurzen Gesprächs zusehends aufgehellt. „Die Analyse der Haarwurzel ist abgeschlossen. Sie stammt eindeutig von Kristen Kilar.“

„Vielleicht hat sie ihren Tod nur vorgetäuscht“, wagte Scully einzuwerfen.

Mulder rollte mit den Augen. „Scully, was muß denn noch passieren, daß Sie die Möglichkeit, es hier mit einem Vampir zu tun zu haben, wirklich in Betracht ziehen? Muß sie höchstpersönlich hier zum Fenster hereingeflogen kommen? Sie haben das Video doch gesehen. Was drauf war. Was nicht drauf war. Scully, wenn Sie alle Fakten, die wir kennen, zusammensetzen, dann können Sie nur zu einem Schluß kommen: Wir haben es hier mit einem weiblichen Vampir zu tun.“

Kramhöller gab einen Grunzlaut von sich. „Also, wenn nicht die Sache mit dem Polizeikommissariat gewesen wäre, dann würde ich genau genommen auch sagen, gehen Sie lieber mal ein bißchen an der Donau spazieren und lüften Sie das Gehirn aus, aber so...“

„Halt!“ Mulder sprang plötzlich auf wie elektrisiert und kam um Kramhöllers Schreibtisch herum. An der Wand dahinter hing eine Karte von Österreich. „Was haben Sie eben gesagt?“

„Daß Sie Ihr Gehirn auslüften sollen...?“

„Nein, ich meine davor. Donau! Die Donau! Wir sind hier an der Donau. Und in der Nacht in der Wachau haben Sie auch die Donau erwähnt. Linz liegt ebenfalls an der Donau.“ Er deutete darauf. „Und die Donau fließt mitten durch Budapest. Auch Regensburg ist eine Donau-Stadt. An die Verbindung mit diesen beiden habe ich nur nicht sofort gedacht. Sie sind auf dieser Karte hier auch nicht mehr drauf, da sie nicht in Österreich liegen.“

„Die Donau.“ Scully betrachtete die Karte interessiert. „Aber wie? Wie hängen all diese Taten durch die Donau zusammen?“

Hinter Mulders Stirn arbeitete es wie wild. „Ein Schiff!“, rief er plötzlich.

„Ein Schiff?“, fragte Kramhöller.

„Aber ja, natürlich!“, sagte nun auch Scully. „Die Verbrecherin wechselt ihre Tatorte per Boot oder Schiff. Wo immer sie ist, liest sie Zeitung, hört Radio oder informiert sich übers Internet, was dort gerade los ist, so kommt sie auf jene, an denen sie stellvertretend Rache übt.“

„Und der Fall des Mädchens, der nie in der Zeitung stand?“

Ein wissendes Lächeln umspielte Scullys Lippen. Sie genoß es sichtlich, ihrem Partner gerade eine Nasenlänge voraus zu sein. Wo sonst doch meist er es war, der die unvermutetsten, aberwitzigsten Zusammenhänge auf einmal fast wie durch Magie als Schlüssel zur Lösung erkannte. „Sie hat sie gehört.“

„Gehört?“

„Mulder, wir selbst haben ein Schiff ganz nahe vorbeikommen hören, als wir da waren. Das Kinderzimmerfenster war offen. Wenn nun in dem Moment jemand mit einem Boot vorbeikommt – denken Sie nicht, daß man die Angstschreie eines Kindes vielleicht bis aufs Boot hat hören können? Ich denke, Kristen Kilar ist exakt in diesem Moment mit einem Boot an diesem Haus vorbeigekommen – und hat spontan gehandelt.“

„Nun ja, und Vampire haben angeblich ein überaus scharfes Gehör“, merkte Mulder an.

Scully blickte nur gen Decke.

„Also, mit einem Boot am Tatort wird es schwierig. Falls es jedoch ein Schiff war, werden wir gleich wissen, welches es vielleicht gewesen sein könnte“, versprach Kramhöller und griff wieder zum Telefon.



„Die Schleusen verzeichnen, welche Schiffe wann bei ihnen durchgekommen sind“, erläuterte der Österreicher den beiden Amerikanern nur wenig später. „Das hier ist der zu Berg und zu Tal fahrende Verkehr, der sich zur infragekommenden Uhrzeit im betreffenden Streckenabschnitt aufgehalten haben könnte.“

„Zu Berg und zu Tal?“, fragte Scully.

„Stromaufwärts und stromabwärts“, erläuterte Kramhöller. Er wedelte mit dem Zettel herum, auf dem er sich die Namen notiert hatte. „Acht Schiffe sind es insgesamt, sieben Frachter und ein Passagierschiff.“

„Ich würde auf einen der Frachter tippen“, murmelte Mulder. „Darauf kann man so schön bequem mit Sarg reisen.“

„Ob sie die Schiffe – wenn es denn ein Schiff ist – wechselt oder immer das gleiche nimmt?“ rätselte Scully. „Oder am Ende darauf angeheuert hat, darauf lebt?“

„War eines der betreffenden Schiffe an den Tagen, an denen die anderen Morde passiert sind, jeweils an diesem Ort?“, fragte Mulder.

Kramhöller streckte wieder die Hand zum Telefon aus. „Das werden wir auch gleich wissen.“

Es war zur Überraschung aller das Passagierschiff, die „Empress Sissi“.

„Scully, was halten Sie von einer Kreuzfahrt auf FBI-Spesen?“, fragte Mulder.



„Wunderbar, daß Sie sich unserer Naturerlebnis-Kreuzfahrt noch anschließen“, flötete die blonde Empfangsdame mit Betonfrisur, die auf Mulder und Scully zugeschwebt kam, kaum daß die beiden, Koffer in der Hand, die Lobby des Schiffes betreten hatten, das relativ klein war und eher die Atmosphäre eines Luxushotels verströmte. „Ihr Gepäck wird sofort auf die Kabinen gebracht.“ Sie schnippte einem Steward mit den Fingern, der augenblicklich diensteifrig angetrabt kam. „Frau Scully und Herr Mulder, Kabinen 11 und 12, backbord.“

„Sehr wohl. Gnä’ Frau, gnä’ Herr.“ Der Steward verbeugte sich leicht, nahm ihnen die Koffer ab und eilte damit den Flur entlang davon.

„Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden.“ Die Empfangsdame schob ihnen das Registrier-Formular hin. „Und Ihre Pässe benötige ich, bitte. So. Hier sind Ihre Kabinen-Magnetkarten. Mit denen registrieren Sie sich bitte auch jeweils nach einem Landausflug, damit wir wissen, daß Sie wieder an Bord sind. Den Speisesaal finden Sie in diese Richtung, er befindet sich am Heck. In entgegengesetzter Richtung, am Bug, stoßen Sie auf den Tanzsalon und die Bar. Über alle weiteren Annehmlichkeiten, die unsere schwimmende Luxusherberge bietet, informiert Sie eine ausführliche Broschüre auf Ihren Kabinen. Jeden Morgen wird das Bordprogramm unter der Kabinentür durchgeschoben. Es gibt ein allgemeines Weckprogramm über das Kabinenradio, wenn Sie schon früher geweckt werden möchten, melden Sie dies bitte hier an der Rezeption an. Und hier habe ich noch das spezielle Angebot der Lektoren, die auf dieser Fahrt mit uns reisen.“ Sie griff hinter sich, nahm zwei schmale Hefte von der Theke und reichte sie ihnen. Und schon sprach sie weiter: „Denn da es sich hier um eine Naturerlebnis-Fahrt handelt, gibt es nicht nur die üblichen Vorträge zu Sehenswürdigkeiten, die selbstverständlich während des Landganges auch besichtigt werden können, sondern zudem Spezial-Referate zu geographischen oder biologischen Themen, so wird beispielsweise Professor Keck über die Eiszeiten sprechen, die das tertiäre Hügelland überformt haben, das sich südlich der Donau vor den Alpen erstreckt, und Silvia Abendroth wird über ,Kleine Schatten in der Nacht‘ referieren – die in Österreich und Bayern heimischen Fledermausarten.“

„Fledermäuse – na, das nenne ich Glück“, schaffte es Mulder endlich, den Redefluß der Dame zu unterbrechen. „Das ist ein Thema, das uns derzeit doch ganz besonders interessiert, nicht wahr, Scully?“

„Wie schön“, nahm die Empfangsdame den Faden jedoch sofort wieder auf. „Wenn Sie mir nun zur Bar folgen wollen, dort wartet ein kleiner Empfangscocktail auf Sie, bevor Sie sich dann auf Ihre Kabinen begeben und mit allem vertraut machen können. Passend zum Fledermaus-Thema haben wir den Cocktail des heutigen Tages ,Batman‘ getauft.“

„Warum nicht Batwoman?“, murmelte Mulder, als sie sich an die Fersen der redefreudigen Dame hefteten.

Sie hatte ihn gehört. „Ach ja, in Amerika sind Sie mit dem Gender Mainstreaming natürlich längst weiter“, sagte sie und lächelte wie Doris Day.



„Cheers, Batwoman-Jäger.“ Scully prostete Mulder zu, als sie ihren Cocktail in der Bar in Empfang genommen hatten und die resolute Herrin der Rezeption endlich davongeschwebt war und sie sich selbst überlassen hatte. Sie nahm einen Schluck, dann sah sie ihren Partner fragend an. „Und nun? Wie wollen Sie vorgehen, um unsere Kandidatin zu finden? Falls sie wirklich an Bord ist.“

„Mhm.“ Mulder rührte nachdenklich in seinem Drink. „Sie dürfte bei Tag nicht zu sehen sein und nur bei Nacht auftauchen. Ich habe sie auf dem Video der Polizei erkannt, ich werde sie also auch hier an Bord wiedererkennen, wenn ich sie sehe.“

„Mulder, falls sie sich an Sie auch so deutlich erinnert wie umgekehrt... Ist Ihnen klar, daß sie Sie dann ganz bestimmt ebenfalls wiedererkennt? Falls sie Sie zuerst entdeckt, kann es für Sie gefährlich werden.“

„Das glaube ich nicht, Scully.“ Er sah seiner Partnerin in ihre besorgt dreinblickenden, blauen Augen. „Mein ist die Rache... Sie scheint es doch ausschließlich auf solche Menschen als Opfer abgesehen zu haben, die Frauen oder Kinder mißhandeln und mißbrauchen. So wie sie selbst einst mißbraucht und geschlagen wurde. Sie übt stellvertretend Rache. Ich denke nicht, daß ich zu ihren potentiellen Opfern zähle.“

„Aber Sie jagen Sie. Sie können Ihr gefährlich werden. Wenn sie das ist, was Sie glauben, ist sie vermutlich ziemlich unberechenbar, sobald sie sich in die Enge getrieben fühlt. Passen Sie auf sich auf, Mulder.“

„Keine Sorge, Scully, so schnell werden Sie mich schon nicht los.“

Die Agentin sah wieder nachdenklich in ihr Glas, in dem der Cocktail dunkelrot leuchtete. „Blut“, sagte sie, „wenn sie ein Vampir sein soll, dann sollte man annehmen, daß sie Blut braucht. Wieso verschwendet sie bei jedem der Opfer so viel davon? Außerdem liegen zwischen den Taten unregelmäßige Zeitabstände. Anders gefragt: Wovon lebt sie?“

„Naja“, sagte Mulder, „Blutkonserven? Auch Vampire gehen mit der Zeit. Meist arbeiten sie in einer Blutbank oder etwas ähnlichem.“

„Das dürfte bei jemandem, der mit einem Schiff von Tatort zu Tatort reist, doch wohl eher unwahrscheinlich sein.“

„Wir werden es schon noch herausfinden. Im übrigen würde mich eine noch viel naheliegendere Frage interessieren: Wie schafft sie es, daß ihr Sarg an Bord nicht auffällt?“

Scully ließ ihren Blick über ihre Mitreisenden schweifen, die sich gerade im Salon Ansichtskarten zeigten oder sich mit Drinks in bequemen Korbsesseln der Bar niedergelassen hatten. Die Agentin zog die Augenbrauen hoch. „Sehen Sie sich doch hier um: Das ist ein schwimmendes Altenheim. Ich habe mal gehört, daß auf jeder Kreuzfahrt immer mindestens einer der Passagiere das Zeitliche segnet. Wer weiß, vielleicht haben die grundsätzlich ein paar Särge dabei. Oder denken Sie, die legen die Leiche einfach ins Kühlhaus neben Ihren Frühstücksschinken?“

„Hallo, Entschuldigen Sie!“, rief Mulder quer durch die Bar zur Empfangsdame hinüber, die soeben noch einen neuen Gast herangeschleppt hatte. „Ich hätte da noch eine Frage: Was passiert eigentlich mit der Leiche, falls jemand an Bord unterwegs stirbt?“

Das Doris-Day-Lächeln sah aus wie im Gesicht festgefroren. Die Empfangsdame wurde abwechselnd weiß und rot, mehrere der Senioren drehten sich indigniert zu den Agenten um, und der Neuankömmling hätte sich um ein Haar den Cocktail über die Hose geschüttet. „Ich will nicht hoffen, daß Sie vorhaben, uns schon so schnell und vor allem so endgültig zu verlassen, mein Herr“, rettete der Barkeeper die Situation schließlich.

Mulder drehte sich zu ihm um und grinste. „Naja, nein. Aber jetzt mal im Ernst: Hat so ein Schiff eigentlich einen Sarg an Bord?“

Der Barkeeper schüttelte den Kopf. „Nein. Vielleicht gibt es so etwas bei einer Atlantiküberquerung, aber nicht bei uns hier auf dem Fluß. Sollte wirklich jemand ableben, so wird sein Körper den Behörden im jeweiligen Land übergeben, in dem wir gerade sind. Die Überführung passiert von dort. Und falls Angehörige mitreisen, können die entweder ebenfalls von Bord gehen oder aber die Kreuzfahrt trotzdem fortsetzen, ganz wie sie wollen.“

„Tja, soviel zum Thema Särge“, sagte Scully und merkte dann trocken an: „Und eins lassen Sie sich gesagt sein, Mulder: Wenn ich erst einmal anfange, das Luxusleben hier zu genießen, gehe ich bestimmt nicht von Bord, nur weil Sie sich vielleicht umbringen lassen. Prost!“



„Und nun?“

„Sicher ist nur eins: Ich platze gleich.“

Die beiden Agenten hatten soeben den Speisesaal nach dem abendlichen Dinner mit fünf Gängen verlassen und wußten nicht recht, wie sie weiter vorgehen sollten.

„Was mußten Sie auch unbedingt die Schokoladencreme noch reinschieben“, zog Mulder seine Partnerin auf.

„Na, nun tun Sie mal nicht so, als ob Sie nicht zweimal vom Hauptgericht nachgeordert hätten!“

„Wenigstens kann man auf einem Flußschiff nicht seekrank werden.“ In dem Moment machte die Empress Sissi, die kurz vorm Abendessen abgelegt hatte, eine kleine Schlingerbewegung, so daß Mulder instinktiv nach dem Handlauf im Gang griff. Er zog eine Grimasse und sah Scully wenig begeistert an. „Kann man doch nicht, oder...?“

„Kaum.“ Sie grinste in sich hinein und zog ihn dann freundschaftlich am Arm. „Kommen Sie, schnappen wir mal etwas Luft.“

Sie gingen nach draußen, nahmen die Treppe zum oberen Deck und ließen sich den Wind um die Nase wehen.

„Ganz schön frisch hier“, sagte Scully. Der Wind blies ihr die roten Haare ins Gesicht, als sie sich zu ihrem Partner umwandte.

„Aber wunderbar!“, sagte der, vergaß einen Moment, weswegen sie hier waren, und genoß den Blick auf die abendliche Landschaft, die ruhig am Auge vorbeiglitt. Die Nacht brach herein; noch waren die Konturen des Ufers deutlich zu erkennen, aber bald schon würde es völlig dunkel sein, in der Ferne sah man immer wieder Lichter von Häusern blinken, hin und wieder begegnete ihnen ein anderes Schiff, Frachter zumeist. Vorne erhob sich die gläserne Kommandokanzel des Kapitäns, es war darin völlig dunkel, damit keine ablenkenden Lichter das Ablesen der Instrumente erschwerten, auf der Kanzel drehte sich beständig das Radar.

„Ja, Sie haben recht“, sagte Scully, die an die Reling getreten war und abwechselnd zum Ufer hin und nach unten auf die Wellen sah, die ihr Schiff zog, während es stetig durchs Wasser pflügte. Ganz leise hörte man das dumpfe, beruhigende Geräusch der Motoren, spürte sacht die Vibration unter den Füßen. Hin und wieder stieg ihr ein leicht modriger Geruch in die Nase, den die Süßwassergischt mit sich trug, gerade soviel, daß er interessant, aber nicht unangenehm war. Der Wind spielte in ihren Haaren, und sie merkte, wie sie auf einmal innerlich zur Ruhe kam. Die ruhige, nicht schnelle, aber stetige Fortbewegung des Schiffes schien sich auf ihren Geist zu übertragen.

„Aber Ihnen ist kalt“, sagte Mulder, als er sah, wie Scully die Arme um ihren Oberkörper mit der dünnen Bluse schlang. „Hier, nehmen Sie meine Jacke.“

Er hatte sein Jackett ausgezogen und legte es Scully um. Einen Moment ließ er auch seinen Arm noch um ihre Schultern ruhen, und der Duft seines Rasierwassers vermischte sich mit dem der Gischt und der Abendluft. Die Agentin wünschte plötzlich, sie könnte für immer so hier stehen bleiben, mit Mulder an ihrer Seite in der Abendbrise – aber just da war der irgendwie romantische Moment auch schon vorbei: „Lächeln!“, rief eine Männerstimme, und ein grelles Blitzlicht blendete sie.

Scully blinzelte verwirrt.

„Na, das ist aber mal ein nettes und auch noch junges Paar“, sagte der junge, dunkelhaarige Bursche, der sich ihnen genähert hatte, ohne daß sie es gemerkt hatten. Sein Gesicht tauchte soeben hinter einer Nikon auf. Er streckte ihnen die Hand mit seiner Karte hin. „Gruber, Bordfotograf. Ich hänge die Abzüge jeden Tag vor dem Abendessen in den Schaukästen im Foyer aus, wenn Sie ein Foto kaufen möchten, tragen Sie die aufgedruckte Nummer ins Bestellformular ein.“

„Danke“, sagte Scully, die die Karte entgegennahm. Sie hatte keine Lust, den Irrtum bezüglich der Beziehung, in der sie zu Mulder stand, aufzuklären. Erstens sollte ja zumindest im Moment keiner an Bord wissen, daß sie nicht nur zu ihrem Privatvergnügen diese Reise machten. Und zweitens... Nun ja. Der Gedanke hatte irgendwie durchaus auch einen gewissen Reiz, wenn sie ehrlich war.

Mulder schwieg ebenfalls. Der Fotograf nickte ihnen zu und verschwand wieder. Scully hoffte, der einträchtige und irgendwie private Moment, den sie vorher erlebt hatten, würde noch einmal zurückkommen, aber der Zauber war verflogen. Sie seufzte und reichte Mulder sein Jackett zurück. „Lassen Sie uns rein- und an die Arbeit gehen. Es ist jetzt gleich völlig dunkel. Falls Kristen Kilar sich auf dem Schiff unter die Menschen mischt, dann ja wohl jetzt. Wir sollten vielleicht einfach einmal alle öffentlichen Räume absuchen.“

„Apropos dunkel: Der Fotograf müßte doch eigentlich auch eine Dunkelkammer an Bord haben, oder? Wie der Name sagt, ist es darin dunkel. Vielleicht sollten wir ihn bei Gelegenheit mal fragen, ob er nicht auch noch eine Partnerin hat, die ihm beim Entwickeln und Abziehen hilft...“



Ihre Tour durch alle öffentlichen Bereiche des Schiffs brachte sie keinen Schritt weiter. „Sie könnte auch im Servicebereich irgendwo im Hintergrund arbeiten“, gab Scully zu bedenken. „In der Küche zum Beispiel. Oder aber auch im Maschinenraum.“

„Andererseits ist dieses Schiff hier so riesengroß nun auch wieder nicht.“

„Also, ich muß jetzt ins Bett, ich bin völlig fertig.“

„Heißt das auf einem Schiff nicht Koje?“ neckte er sie.

„Aussehen tut es wie ein Bett, wenn Sie mich fragen. Und genaugenommen sieht auch die Kabine nicht wie eine Kabine aus, sondern wie ein x-beliebiges Hotelzimmer. Gute Nacht, Mulder.“

Einen Unterschied sollte sie dann allerdings doch noch recht schnell entdecken: Die Wände waren nicht wirklich dicke Wände. Sie hörte Mulder lautstark fluchen, als er seinen Schrank aufgeklappt hatte und ihm daraus holterdiepolter die Hälfte seines nur schlampig verstauten Kofferinhalts vor die Füße gefallen war. Um sich vorm Schlafengehen noch etwas abzulenken, zappte Scully sich dann kurz durch die schiffseigenen Fernsehkanäle. Auf dem ersten lief ein Schiffsvideo, sehr originell. Auf dem zweiten irgendein Krimi. Nein danke. Das Programm auf dem dritten war dem Bekleidungszustand der Akteure nach zu urteilen ein Softporno. Scully schaltete wieder aus, kuschelte sich in ihr Bett und wollte eben die Augen schließen, als sie den Softporno erneut hörte – diesmal von der anderen Seite der Wand. „Ja, oh ja“, stöhnte eine Stimme orgiastisch. Scully hob die Faust und ließ sie gegen die Wand krachen: „Mulder...!!!“



„Sie müssen sie ein wenig mit der Hand beschirmen. Das helle Licht mag sie nicht so besonders“, instruierte Silvia Abendroth.

Scully formte ihre Hände zu einer kleinen Höhle und sah fasziniert zu der Biologin hoch. „Das kitzelt.“

Die Frau mit den langen, blonden Haaren, die sie mädchenhaft von einem Haarreifen zurückgehalten trug, lachte herzhaft. „Das sind die Haftkrallen. Damit halten sie sich normalerweise am Hangplatz an Holz und Dachziegeln fest.“

Scully riskierte wieder vorsichtig einen Blick ins Innere der Handhöhle. Dort saß ein flauschiges, kleines Etwas, das Fell oben braun und unten hell, und sah mit leuchtenden Knopfäuglein interessiert in ihre Richtung. Jetzt öffnete das kleine Tier das Mäulchen, ein winziges Raubtiergebiß wurde sichtbar, und ein zwitschernder Ruf erklang. „Ich glaube, sie will wieder in den Korb.“

Abendroth nahm ihr das Große Mausohr vorsichtig ab und setzte es zurück in sein Domizil.

„Wo hat sie denn ihre Flügel?“, fragte Mulder interessiert.

„Eingeklappt“, erklärte die Biologin und deutete auf einen winzigen, dunklen Knochen, der aus dem Fell hervorstand. „Das ist der Ellenbogen.“

Das Mausohr war eine der Fledermäuse, die zur Zeit bei Silvia Abendroth lebten. Sie nahm öfter verletzte Tiere zur Pflege auf, die später wieder ausgewildert wurden. Manche mußte sie allerdings auch auf Dauer behalten: Wenn sie sich so schwerwiegend verletzt hatten, daß sie zum Beispiel nicht mehr richtig fliegen und somit nicht jagen konnten, blieben sie bis zum Ende ihrer Tage Abendroths Mitbewohner.

„Und wie ist das nun mit den Vampirlegenden?“

Die Biologin lachte. „Sieht dieses niedliche Fellknäuel aus, als ob es Sie gleich aussaugen wollte?“, fragte sie. „In den Ruf des Unheimlichen sind die Tiere nur gekommen, weil sie sich bei Tag verstecken und erst in der Dämmerung und bei Nacht zum Jagen ausfliegen. Also zu einer Zeit, in der man sie nicht wirklich gut sehen kann. Dazu das Mysterium, daß man lange nicht wußte, wie sie es machen, in der Dunkelheit trotzdem ihre Beute zu orten. Außerdem haben sie natürlich keine Mäusezähne, sondern ein Raubtiergebiß.“

„Ja“, sagte Scully, „sieht aus wie bei einer Katze, nur ein paar Nummern kleiner.“

„Greifen sie Menschen an?“

„Um Himmels willen, nein. Sie leben nicht einmal wirklich von Blut – jetzt mal abgesehen von den sogenannten Vampirfledermäusen, die aber nur in den Tropen und Subtropen vorkommen, aber auch dort nur Vögel und kleine Säugetiere angreifen. Unsere heimischen Fledermäuse hingegen ernähren sich von Insekten. Wenn Sie also von Mücken ungestört abends auf Ihrer Terrasse sitzen wollen – gut für Sie, wenn Sie Fledermäuse unterm Dachfirst haben! Aber vermutlich kennen Sie die Geschichten, die man früher den Kindern erzählt hat. Da hieß es zum Beispiel immer, wenn man in der Dämmerung draußen ist, würden einem die Fledermäuse in die Haare fliegen. Hat meine Mutter mir auch erzählt.“ Die Biologin lachte. „Zum einen wollte sie, daß ich mir die Haare kürzer schneiden lasse. Und zum anderen sollte ich bei Einbruch der Dunkelheit vom Spielen zu Hause sein. – Wie Sie sehen, hat der vermeintlich abschreckende Spruch nicht viel bewirkt.“ Sie schüttelte ihre langen Haare. „Und ich bin nur erst recht in der Dämmerung rausgegangen, weil ich diese geheimnisvollen Tiere erforschen wollte. Tja, so kann’s gehen.“
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