World of X

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Mein ist die Rache

von Andrea Muche

Kapitel 2

Wieder und wieder stierte Mulder auf die Überwachungsvideos der Sicherheitskamera. Kristen Kilar. Er seufzte und rieb sich resigniert die Augen. Sie mußte nach ihrer Selbstverbrennung von den Toten wieder auferstanden sein. Als Vampir. Warum nur hatte sie das getan? Er hatte sie doch beschützen wollen.

Wenn er ehrlich war, mußte er sich allerdings eingestehen, daß es wohl nicht in seiner Macht gestanden hatte, sie zu schützen. Nicht gegen diese drei anderen Untoten. Offenbar hatte Kristen vielmehr ihn, Mulder, vor diesen geschützt... Und sich selbst? Hatte sie gewußt, daß sie die drei anderen mit dem Feuer zerstören könnte – selbst dadurch aber zum Vampir wurde? Waren die anderen drei wirklich tot? Nun, vielleicht, jedenfalls traten sie hier nicht in Erscheinung, auch bei den anderen Fällen, von denen sie wußten, hatte niemand Männer gesehen. Immer nur diese Frau. Kristen. Der er damals nicht hatte widerstehen können.

Wieder sah er grübelnd das Videobild an. War sie das? Wieviel von der Vampirin, die er hier auf dem Band vor sich sah, war die Kristen, die er einst gekannt hatte? Wollte er das eigentlich überhaupt wissen...?



Scully näherte sich vorsichtig dem Leichnam. Dem, was davon übrig war. „Overkill“ beschrieb den Zustand der Leiche ziemlich gut. Die Österreicher hatten den Leichnam bereits obduziert, wovon die Schnitte in Form eines Ypsilons auf der Brust zeugten. Das Erschreckende an der Leiche waren jedoch all jene Verletzungen, die dem Mann noch zu Lebzeiten zugefügt worden waren, als er sich in dem Pausenraum einen Kampf mit seiner Angreiferin lieferte, wer immer diese auch sein mochte. Schläge, Stiche, Peitschenhiebe: Der Mann war am ganzen Körper zerschunden. Im übrigen sah er in der Tat aus wie ausgeblutet. Was den Spuren in dem Pausenraum nach allerdings auch nicht gerade ein Wunder war.

Obgleich sie Mulders Theorie nicht viel abgewinnen konnte, drehte sie den Kopf des Opfers zur Seite, um sich seinen Hals genauer anzusehen. Seine linke Seite: nichts. Aber seine rechte... Scully sah genauer hin und wandte sich an den österreichischen Gerichtsmediziner: „Wofür halten Sie das hier?“

„Einstiche mit einem Dolch oder einer Nadel, im Versuch, die Halsschlagader zu treffen“, sagte der österreichische Kollege.

„Ja, vielleicht“, murmelte Scully. Es waren nicht nur zwei, sondern etliche. Soweit man das noch sagen konnte, schienen sie jedoch alle paarweise angeordnet zu sein...



Die Tür ging auf, und Scully trat ein. „Die Analyse des Haars läuft noch.“

„Und die Autopsie?“, fragte Mulder, der, die Fernbedienung in der Hand, noch immer vor den Bändern saß.

Die rothaarige Agentin seufzte.

„Also was? Sie haben was gefunden, stimmt’s?“

„Ja und nein. Da waren Einstiche am Hals.“

„Sehen Sie!“

„Ungefähr ein Dutzend.“

„Sie sagten doch selbst, es war ein Overkill.“

„Ja. Aber es können auch einfach Stichwunden sein.“

„Ausgerechnet am Hals?“

„Da liegt nun mal die Schlagader. Und wenn man gerade dabei ist, jemanden umzubringen... – Haben Sie etwas gefunden?“

Mulder nickte. „Ja. Sehen Sie sich das hier an.“

Er drückte auf „Play“. Die Kamera zeigte einen leeren Gang, von dem mehrere Türen abgingen, am Ende war ein Fenster zu sehen, dessen Vorhang geschlossen war. Niemand kam aus irgendeiner Tür heraus, niemand ging hinein. Niemand bog um die Ecke.

„Mulder, was soll ich hier sehen?“, fragte Scully leicht ungeduldig und verwirrt.

„Da.“ Er deutete auf den Vorhang. „Er bewegt sich leicht. Da, jetzt wieder.“

„Und? Das Fenster dahinter wird zum Lüften offen sein.“

„Genau!“

„Und?“

„Das Fenster! Verstehen Sie nicht? So ist sie ins Innere gelangt. Genau vor diesem Vorhang scheint sie sich auf dem anderen Band wie aus dem Nichts plötzlich materialisiert zu haben. Sie ist durchs Fenster gekommen.“

„Und wie soll sie das gemacht haben? Die Fenster sind vergittert.“

„Scully, Scully, Sie sollten mal wieder mehr Gruselromane lesen.“ Er breitete seine Arme aus wie Flügel und bewegte sie auf und ab.

Scully sah ihn konsterniert an. „Eine Fledermaus? Sie denken, diese Kristen Kilar – wenn sie das ist – ist als Fledermaus hier reingeschwebt?“

„Ja. Und sie ist es. Ganz sicher. Ihr Datenvergleich wird es zeigen.“

Die Agentin sah ihren Partner prüfend von der Seite an. „Wieso sind Sie sich da eigentlich so sicher? Ich meine, der Fall, in dem Sie mit ihr zu tun hatten, ist doch schon eine ganze Weile her, Menschen können jemand anderem ähnlich sehen, das Überwachungsband hat nicht die allerbeste Bildqualität... Was macht Sie so sicher, daß sie es ist?“

„Weiß ich nicht“, sagte Mulder störrisch. Er vermied ihren Blick. Scully zog die Unterlippe zwischen die Zähne und überlegte, ob sie ihn weiter drängen sollte. Schließlich ließ sie es bleiben. Sie war damals nicht dabei gewesen. Vielleicht würde sie die Frau ja sonst auch wiedererkennen. Dennoch: Sie war nur eine von vielen Zeugen, mit denen sie im Laufe ihrer Arbeit an den X-Akten zu tun gehabt hatten. Und Mulder reagierte irgendwie komisch. Wieso hatte sich diese Zeugin ihm so besonders eingeprägt? Wegen ihres tragischen Endes? Weil er sich nicht verzeihen konnte, nicht in der Lage gewesen zu sein, ihren Tod zu verhindern?



„Zeigen Sie mir doch noch mal die Unterlagen der anderen Fälle, die wir haben“, forderte Scully ihren Partner auf, als sie ihn in seinem Hotelzimmer besuchte. Mulder breitete die Tatortfotos und Berichte auf seinem Bett aus.

„Hier, der Hinterhof, das war in Budapest. Das Opfer war vorher in einer Kneipe, in der es bei seinen Kumpels damit geprahlt hatte, früher seine Alte ausradiert zu haben. Das stimmt tatsächlich: Er wurde vor 20 Jahren wegen Totschlags verurteilt. Jüngst wäre er übrigens auch fast schon wieder im Bau gelandet: Er soll seine jetzige Freundin verprügelt haben, es kam zum Prozeß, aber die Frau hat sich dann wohl ständig widersprochen, sie mußten ihn laufenlassen.“

„Hatte sie vielleicht zu große Angst vor ihm?“

„Und hat dann einen Killer angeheuert, um ihn umzubringen? Aber dann wäre in dem Fall die Mörderin ja wohl eine andere als hier in Wien. Das paßt nicht zur gleichen Vorgehensweise.“

„Ja, stimmt. Auffällig ist allerdings, daß beide Opfer einen Hang zur Gewalt gegen Frauen hatten.“

Mulder schloß für einen Moment die Augen. Er hatte wieder das Bild von Kristen vor sich, damals, in ihrem Haus, in der er auf ihre Rückkehr gewartet hatte. Wo er dann die Geschichte ihres Lebens erfahren hatte. Wie schon ihr Vater sie schlug, so hart, daß sie nur am Geschmack des Blutes, das ihr die Kehle hinunterrann, erkannte, daß sie noch nicht tot war. Wie sie später auch ihr Freund geschlagen hatte. John, der sie dann zur Mitspielerin bei der unheiligen Dreieinigkeit machte, nachdem er sie auf den Geschmack des Blutes gebracht hatte. Des Blutes anderer... Ihr Leben war eine einzige Aneinanderkettung von Mißhandlungen. Mulder hatte es fast nicht ausgehalten, ruhig dazustehen und dieser wunderschönen, intelligenten, jungen Frau zuzuhören, wie sie mit fast unbeteiligter Stimme erzählte, was ihr alles widerfahren war. Aus Unterlagen kannte er viele Mißhandlungs-Schicksale. Die Opfer lernten nie Liebe kennen, wenn sie Pech hatten. Wenn sie noch mehr Pech hatten, verwechselten sie das Geschlagen-Werden damit. Oft sehnten sie sich ihr Leben lang regelrecht nach Schlägen, begaben sich in masochistische Beziehungen, litten weiter – nur weil ihre Kindheitserfahrungen waren, statt Liebe Schläge zu erhalten. Und weil selbst die Schläge noch besser waren als gar keine emotionale Reaktion von denjenigen, die eigentlich für einen hätten sorgen und einen vor den Gefahren der Außenwelt hätten schützen sollen... Es war so grausam. Und er hatte sich dafür geschämt, ein Mann zu sein, als er so einfach dastand, zuhörte, und wußte, daß er nichts tun konnte um das Unrecht, das ihr widerfahren war, wieder gut zu machen. Und im gleichen Moment entstand ein ungeheures sexuelles Verlangen nach ihr in ihm. Sicher, sie war schön. Aber damit hatte es eigentlich gar nichts zu tun. Er hatte auf einmal das Gefühl, ihr nicht nur sagen zu müssen, sondern ihr zeigen zu müssen, ihr körperlich beweisen zu müssen, wie die Liebe sein konnte. Auch wie eine Gier, eine Extase, aber nicht die Gier nach Blut und Gewalt, sondern die Sehnsucht, mit Körper und Seele des anderen eins zu werden, miteinander zu verschmelzen... Und dabei hatte er da noch nicht einmal sicher gewußt, was sie wirklich war, beziehungsweise, was sie damals noch nicht war. Er hatte ihre unerschrockene Art gesehen, die ihn so sehr an Scully erinnerte. Scully, an die er andererseits aber in dem Moment überhaupt nicht denken wollte; er glaubte, seine Partnerin für immer verloren zu haben, und der Schmerz war zu groß, zu frisch. Und dann wollte er Kristen nur noch nahe sein, so nahe wie nur irgend möglich.

Und wenn sie doch ein weiblicher Vampir gewesen wäre? Er erinnerte sich daran, wie sie belustigt Scullys Kreuz zwischen den Fingern gedreht hatte, das er damals selbst trug, um Scully wenigstens noch irgendwie nahe zu sein. Ob er das zur Abwehr trage, hatte sie gefragt. In dem Moment hatte er gedacht, daß sie vielleicht doch nicht das war, was sie alle gern glauben machen wollte. Andererseits: Was wußte man schon wirklich sicher über Vampire und deren Abwehr? Tatsache war: Er ging nicht, als er die Chance dazu hatte. Er wollte sie nicht allein lassen. Wollte sie schützen. Das war jedenfalls, was er sich zur Beruhigung seines Gewissens erzählte. Er blieb in ihrem Haus ohne Spiegel. Ließ ihre Verführung zu, obwohl er da noch immer nicht wußte, ob sie nicht doch eine Vampirin war. Hielt sie dann davon ab, das Blut seiner Rasier-Schnittwunde genüßlich von ihrem Finger zu lecken – und zeigte ihr statt dessen, was er von Leidenschaft hielt. Was, wenn sie nun doch eine Vampirin gewesen wäre? Er kam erneut zu dem Schluß, daß es ihm in dem Moment schlicht egal war. Ohne Scully war er sowieso völlig neben der Spur. Vermutlich war das die Zeit, in der er zum ersten Mal bewußt registriert hatte, wie wichtig ihm seine Partnerin geworden war.

„Mulder?“ Eben diese Partnerin hatte ihm nun ihre Hand auf den Arm gelegt und sah ihn besorgt von der Seite an. „Alles in Ordnung?“

„Ja, ja, es geht schon.“ Er fuhr sich über die Augen. „Ich bin nur müde. Das, was Sie über die Gewalt gesagt haben... Kristen war auch ein Gewaltopfer. Schon als Kind.“

„Sie denken, sie rächt sich stellvertretend?“

„Vielleicht. Legt der Rachespruch das nicht nahe?“

„Woher kennt sie die Täter? Woher weiß sie von den Fällen?“

Sie schwiegen beide und überlegten.

„Die Medien“, schlug Scully dann vor. „Sie haben gerade gesagt, gegen diesen Mann hier wurde vor Gericht verhandelt, weil er seine Freundin verprügelte. Kramhöller hat erzählt, daß Stranner die Schlagzeilen der Regenbogenpresse gefüllt hat.“

„Mhm. Wobei die Ereignisse sich aber an ganz unterschiedlichen Orten abgespielt haben. Der Budapester Prozeß hat es auch bestimmt nur in die örtliche Zeitung geschafft, würde ich annehmen...“

„Sie wechselt einfach den Ort, wenn sie an einem ein Verbrechen begangen hat“, schlug Scully vor. „Und schlägt wieder zu, sobald ihr am neuen Aufenthaltsort ein Frauen-Mißhandler auffällt. Wo haben sich die anderen Morde ereignet?“

Mulder deutete auf ein weiteres Tatortfoto. „Linz. Und ja: Auch dieser Typ war in den Zeitungen.“ Mulder lächelte schief. „Allerdings als Tierquäler.“

Scully zog eine Augenbraue hoch. „Sie denken, wer Tiere quält, schlägt auch seine Frau? Da könnte schon was dran sein...“

„Habe ich schon erwähnt, daß ich zu meinen Fischen immer nur lieb und nett bin?“

Scully mußte schmunzeln. Dann wurde sie wieder ernst. „Und das da ist Regensburg?“

„Ja. Gemetzel in einer Krypta. Das Opfer war Pfarrer. Einer von denen, die in Internaten Hausverbot haben.“

Scully verzog angewidert das Gesicht. „Auch das ging durch die Medien, nehme ich an?“

Mulder nickte. „Ja. Vor allem deswegen, weil die aufgebrachten Eltern seine strafrechtliche Verfolgung wollten. Während hingegen die Kirche dachte, mit einer Rüge und einer Versetzung ist es getan – genau wie die anderen zweimal vorher.“

„Er war ein Wiederholungstäter?“

„Yip.“

Das Telefon in Mulders Zimmer klingelte. Er nahm ab, hörte kurz zu und sagte dann: „Wir sind schon unterwegs.“

„Was ist passiert?“ fragte Scully, während sie nach ihrer Jacke griff.

„Wieder ein Mord. In der Wachau. Wo immer das ist. Kramhöller holt uns gleich ab.“



Sie waren länger nach Westen gefahren, in stockdunkler Nacht. Auch in dem Ort, den sie jetzt erreicht hatten, war es finster. Die Straßenlaternen schienen nicht die ganze Nacht hindurch zu brennen. Das Haus, zu dem sie mußten, war allerdings nicht schwer zu finden: Blinkende Lichter von Polizei und Notarzt warfen bizarre Muster auf die umliegenden Gebäude. Kramhöller trat auf die Bremse.

„Was ist das?“, fragte Scully verwirrt, als sie beim Aussteigen ein dumpfes Maschinengeräusch näherkommen hörte.

„Bloß ein Schiff“, erklärte Kramhöller, „das Haus liegt direkt vor dem Damm. Sie können das Schiff nur nicht sehen, weil der Damm den freien Blick zur Donau versperrt. Kommen Sie.“

Er zeigte den Beamten, die den Tatort sicherten, seinen Ausweis, Mulder und Scully ließen ihre FBI-Marken ebenfalls sehen. Dann sprach Kramhöller mit dem Einsatzleiter. Als er sich wieder Mulder und Scully zuwandte, war seine Miene grimmig.

„Diesmal gibt es eine Augenzeugin. Ein zwölfjähriges Mädchen. Der Mord ist in ihrem Kinderzimmer passiert. Allerdings steht sie unter Schock. Sie erzählt im Moment, es sei ein Monster durchs Fenster gekommen. Die Mutter hat nichts gesehen, sie ist aber auch völlig durch den Wind, seit sie ihren Mann gefunden hat.“

„Durchs Fenster“, murmelte Mulder. „Ja, das klingt doch durchaus einleuchtend.“

„Können wir trotzdem mit den beiden sprechen?“

„Versuchen auf alle Fälle. Deswegen sind wir ja hier.“



Die Frau und das Kind hielten sich eng umschlungen. Sie saßen auf unbequemen Stühlen am Küchentisch. Scully fragte sich, warum sie sich nicht auf eine bequeme Wohnzimmercouch gesetzt hatten. Aber vielleicht war das sein Refugium.

„Hallo.“ Mulder zog sich einen Stuhl an den Tisch, setzte sich und sah das verängstigte Mädchen an. „Ich bin Fox Mulder und das ist Dana Scully. Wir sind Agenten vom FBI. Die österreichische Polizei denkt, daß wir dir vielleicht helfen können. Das FBI arbeitet normalerweise in Amerika, und meine Partnerin Dana und ich arbeiten an Fällen, die so schlimm sind wie das, was du gesehen hast.“

„Ich weiß, was das FBI ist“, sagte das Mädchen ein wenig altklug, und hatte dabei offenbar für eine Sekunde vergessen, was passiert war. „Da arbeitet Jerry Cotton.“

„Wer?“

Scully hielt sich die Hand vor den Mund, um ein kleines, belustigtes Glucksen zu unterdrücken. „Jerry Cotton. Ich dachte, Sie mögen alte Filme aus Europa. Der super FBI-Agent, der jeden Fall löst. Manchmal bekommt er immer noch Fanpost. Nie davon gehört?“

Mulder sah sie kurz an, dann setzte er sein wissendes Gesicht auf. Es war für Scully sonnenklar, daß er keine Ahnung hatte, wovon sie redete, als er zu dem Mädchen sagte: „Oh, ach so, ja, der Jerry Cotton. Der kann nur leider nicht kommen. Erzählst du mir vielleicht statt dessen, was passiert ist?“

Das Mädchen schien in sich zusammenzusinken. Alle Freude darüber, etwas besser zu wissen als ein Erwachsener, war aus dem Gesicht verschwunden wie weggeblasen.

„Der Papa war bei mir im Zimmer. Und dann kam da dieses Ding. Und hat ihn umgebracht.“

„Wie ist es denn ins Zimmer gelangt? Durchs Fenster?“

Das Kind nickte.

„War das Fenster offen?“

„Ja.“

„Wie hat das Ding ausgesehen? Hat es dich auch angegriffen?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Nein. Es kam rein, da... da war es bloß so groß wie ein Vogel. Aber es ist dann ganz schnell ganz groß geworden. Es hatte das Gesicht von einer Frau, aber die Augen haben so komisch geleuchtet. Gelb oder grün. Das Monster hat meinen Vater angegriffen. Ich hatte fürchterliche Angst und bin unters Bett gekrochen. Ich habe nicht genau gesehen, was dann passiert ist, aber da war plötzlich Blut...“ Das Kind wiegte sich vor und zurück und begann zu weinen. „Und das Monster hat weitergemacht und weitergemacht. Ich hätte meinem Vater helfen sollen. Aber ich hatte so Angst.“

„Hast du geschrieen?“ fragte Mulder.

„Ja, hab’ ich. Erst jedenfalls. Dann nicht mehr. Ich dachte, vielleicht findet es mich unterm Bett dann nicht.“

„Hat dein Vater auch geschrieen?“

„Nein. Ich glaube, das Monster hat ihm den Mund zugehalten.“

„Entschuldigen Sie mich einen Moment“, bat Scully und entfernte sich in Richtung des Tatorts.

Sie stieg über die Treppe hinauf zum Kinderzimmer. Das Opfer lag noch an Ort und Stelle. Auch hier war viel Blut verspritzt worden. Das „Rache“-Zitat stand auf der Wand über dem Bett. Dieser Mann mußte ebenfalls ausgepeitscht worden sein. Dazu gab es Messerstiche, Schnitte. Und punktförmige Löcher am Hals. Dem Hals einer ausgebluteten Leiche.

„Müßte hier nicht noch mehr Flüssiges zu sehen sein, so blutleer wie die Leiche ist?“

„Ja, würde ich auch sagen“, pflichtete ihr der österreichische Gerichtsmediziner bei.

Scullys Blick fiel auf einen Gürtel, der nahe bei der rechten Faust des Mannes lag. Hatte er ihn rasch gegriffen und sich damit gegen den Eindringling zu wehren versucht? Etwas daran gefiel Scully nicht.

„Es muß ein längerer Kampf gewesen sein“, sagte Scully, als sie wieder in der Küche eintraf.

Mulder nickte und konzentrierte sich dann auf das Problem, das sich für ihn daraus ergab: „Wieso konnten Sie Ihrem Mann nicht helfen?“

Die Frau schüttelte hilflos den Kopf. „Ich war zu spät oben.“

„Das Monster war schon fort?“

„Es war niemand im Zimmer außer meinem toten Mann...“ Sie preßte sich das Taschentuch vor die verheulten Augen. „...und meiner Tochter unter dem Bett.“

„Ihre Tochter sagt aber doch, sie hätte geschrieen? Sind Sie denn da nicht sofort gerannt, um nachzusehen, was los war?“

„Die Tat muß wie gesagt eine ganze Weile gedauert haben“, sprang Scully ihm bei.

„Ja... doch... ich...“ Sie brach ab und sah ihre Tochter hilflos an.

Scully warf einen näheren Blick auf das Kind. War die eine Wange etwas stärker gerötet als die andere und geschwollen? Kam das nur vom Weinen? Oder...?

„Er hat dich geschlagen, oder?“, fragte Scully ins Blaue. „Und deswegen haben Sie nicht sofort reagiert.“ Das galt der Mutter. „Es war gar nichts besonderes, daß Ihre Tochter geschrieen hat, wenn Ihr Mann bei ihr war. Darum sind Sie nicht sofort zu ihr gelaufen. – Hat er Sie auch geschlagen?“

Mulder drehte sich mit betroffenem Gesicht zu ihr um.

„Ich habe seinen Gürtel gesehen“, sagte Scully. Sie wußte jetzt, was sie gestört hatte: Er hätte sich seinen Gürtel unmöglich so schnell aus seiner Hose ziehen können. Einfach nur danach gegriffen haben konnte er aber auch nicht: Denn in welchem Kinderzimmer liegt schon ein Gürtel des Hausherrn griffbereit?! Auch dieses Opfer war aggressiv und gewalttätig.

Die Frau antwortete nicht, weinte nur beständig in ihr Taschentuch. „Sie hat es nicht getan, sie hat es nicht getan“, heulte sie dann.

„Wer? Ihre Tochter?!“ Nun war Scully wirklich wütend. „Natürlich hat sie das nicht getan...! Sie hätte Ihren Mann niemals auf diese Weise töten können. Denken Sie, Ihre Tochter wäre so mies, wie Ihr Mann sie behandelt hat?!“

Die Frau sagte nichts. „Mami!“, heulte das Kind und klammerte sich wieder an. „Ich bringe Willi sein Bier das nächste Mal, wenn Papa das sagt, ganz bestimmt. Er stinkt auch gar nicht wirklich. Ich wollte doch bloß nicht, daß er mich wieder so komisch anfaßt. Ich bin jetzt bestimmt immer ganz brav und mache alles, was Papa sagt!“

Der Schock hatte wieder die Oberhand gewonnen. Scully bedeutete Mulder, die beiden alleine zu lassen, damit sich der Arzt um sie kümmern konnte. Sie wußten ohnehin, was es für sie zu wissen gab. „Er hat seine Tochter mißbraucht“, sagte Scully.

„Und dieses Aas von einer Mutter hat es zugelassen.“

„Mulder...“

Der Agent atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen.

„Sie ist wahrscheinlich selbst sein Opfer gewesen“, sagte Scully. „Das ist in diesen Fällen meistens so.“

„Ja. Ich weiß. Ob auch dieser Kerl polizeibekannt ist und in der Zeitung vorkam?“

„Fragen wir Kramhöller.“

Die Antwort war allerdings ein definitives Nein. Noch nicht einmal die Nachbarn hatten geahnt, was in dem Haus vorging. ,Oder es nicht wissen wollen‘, dachte Scully grimmig. Die Schreie durchs offene Fenster konnten keinem verborgen geblieben sein.

Aber jedenfalls hatte nie jemand die Polizei eingeschaltet oder gar die Presse auf den Mann aufmerksam gemacht. Mulder und Scully sahen sich ratlos an.

„Woher hat sie es gewußt?“
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