World of X

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Der 24. August

von Andrea Muche

Kapitel 3

Es klopfte. „Ja, bitte?“ Scully sah von ihren bisherigen Notizen zu dem Fall auf, in die sie sich noch einmal vertieft hatte, und legte ihren Bleistift hin.
Die Tür ging auf, und der blonde Junge aus Matthews Klasse trat ein. „Ich möchte mit Ihnen reden.“
„Das freut mich. Setz dich. Ist dir doch etwas eingefallen?“
„Ich weiß nicht...“ Der Junge zögerte und setzte sich. Er sah zu Boden und dann flehend zu Scully hoch. „Es klingt ein bißchen sehr blöd, wissen Sie...“
„Nur zu“, ermunterte sie ihn. „Du kannst über alles mit mir reden. Wie heißt du übrigens?“
„Gary. Gary Jefferson. Ich bin Matts Freund.“
„Und du denkst, du wüßtest vielleicht etwas, das mit seinem Verschwinden zu tun haben könnte?“
„Ja, Ma'm.“ Und dann erzählte der blonde Gary der Agentin die Geschichte, die sie sich aus seinen Bemerkungen seinen Freunden gegenüber schon zusammengereimt hatte: Matthew hatte ihm davon erzählt, daß die alte Hilda, von der sie glaubten, daß sie wohl eine Art Hexe sei, wüßte, wie man sich von dieser Welt in eine andere versetzen könnte, wenn man mal einfach weg sein wolle von allem, „besser als mit jedem Fernsehfilm, den Sie angucken, verstehen Sie?“. Er habe zur Zeit ziemlich schlechte Noten und allen Grund, sich mal anderswo hinzuwünschen. Also sei er mitgegangen. Und habe es selbst getan: „Es funktioniert über die Bilder, die Hexe Hilda malt. Und man kann in die Welt der Bilder gehen. Ich durfte mir wünschen, in was. Ich wollte, daß ich an der Küste bin und schwimmen gehen kann. Und das habe ich dann wirklich gemacht! Ich mußte nur so eine Digitaluhr mitnehmen und zu einer bestimmten Zeit wirklich fest an meine Rückkehr denken. Dann war ich wi! eder bei Hilda.“
„Ich verstehe.“ Scully dachte nach. Der Junge mußte wirklich zuviel Phantasie haben. Oder ob er beeinflußt worden war, so daß er für wirklich hielt, was er ihr da soeben erzählt hatte?
„Wie funktioniert das, in das Bild zu kommen?“ fragte sie. „Was tut Hilda da? Ist das wie hypnotisiert werden?“
„Man tut es selber“, antwortete Gary. „Das heißt: Ja, doch, sie spricht solche Sachen, auf die man irgendwie müde wird und so. Aber man muß dabei immer das Bild angucken und ganz fest dran denken, daß man da hin will. Und dann geht man los, macht kurz die Augen zu – und ist da.“
Also wirklich eine Art von Suggestion, ganz, wie sie es sich gedacht hatte. „Und Matthew ist vor seinem Verschwinden auch zu Hilda gegangen?“
„Mhm. Ich glaube schon. Er war so stolz auf seine Eins im Aufsatz und wollte nach der Schule gleich nach Hause, um ihn seinen Eltern vorzulesen. Am nächsten Tag war er ganz geknickt. Er hat erzählt, daß sein Dad nur gefragt hat, ob er im Ernst denkt, daß solche Hirngespinste ihm mal eines Tages sein Brot auf den Tisch bringen werden. Bevor er dann einfach rausgegangen ist. Matthew hat dann noch gesagt, daß er seinen Eltern völlig egal ist, und daß er wünschte, er wäre tot.“ Wasser sammelte sich in Garys Augen, dann kullerte ihm eine Träne über die Wange. Scully sah sich in dem bestätigt, was sie über Matthews Eltern dachte. Vermutlich war er also doch fortgelaufen. Hoffentlich hatte er sich nichts angetan! „Und dann hat er zu mir gesagt, ich soll nicht traurig sein, falls er für immer geht. Er gehe zu einer Familie, die ihn wirklich mag und gut findet, was er tut.“
„Wollte er zu irgendwelchen anderen Freunden?“
Gary schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, daß er zu Hilda gegangen ist. Er wollte wieder in das Bild dort. Sein Bild. Von einer glücklichen Familie, die musiziert und liest, und Mutter und Vater erklären ihren Kindern irgendwelche Sachen.“
Scully wußte sofort, welches Bild er meinte. Sie hatte es bei Hilda gesehen. Vielleicht war Matthew ja fortgelaufen und hatte gehofft, eine solche Familie zu finden, die ihren Kindern Aufmerksamkeit schenkte. Sie seufzte. Armer Kerl.

„Herrgott, Mulder, Sie glauben das doch nicht etwa alles?!“
Scully war fassungslos. Wie konnte ihr Partner selbst bei Fällen, die offenbar nichts mit Aliens zu tun hatten, so naiv sein, wirklich alles und jedes, das irgend jemand erzählte, für bare Münze zu nehmen?! „Der Junge hat einfach zu viel Phantasie. Menschen, die in Bilder einsteigen – das ist unmöglich, Mulder!!“
„Woher wollen Sie das so genau wissen? Und ich erinnere Sie daran: Auch bei allen anderen Verschwundenen scheint es irgend eine Verbindung zur alten Hilda gegeben zu haben.“
„Das ist richtig. Das ist in einer Kleinstadt wie dieser aber auch nicht weiter schwer.“
„Mit einer Person, die abgelegen wohnt, und mit der mindestens die Hälfte der Einwohner kein Wort wechselt, weil sie sie für eine Hexe halten?“
„Eine vermißte Frau hatte bei ihr Malunterricht“, erinnerte ihn Scully. „Das ist eine ganz normale Verbindung. Eine andere ging mit ihr Pilze sammeln, sie kennt offenbar die besten Plätze. Die Kids finden sie vermutlich faszinierend, weil sie sich vorstellen, sie wäre wirklich eine Hexe. Mulder, das alles beweist gar nichts.“
Er packte sie am Arm und schob sie zur Tür des Motelzimmers. „In Ordnung. Dann suchen wir uns jetzt den Beweis. Fahren wir zu Hilda. Ich will wissen, ob es stimmt, was der Junge erzählt. Ich will wissen, was mit all diesen Menschen passiert ist.“

„Kommen Sie rein. Die Tür ist offen.“ Die Stimme der alten Frau klang matt. Scully und Mulder betraten das Atelier und gingen auf Hilda zu. Sie saß mit müdem Blick vor einem Bild, das noch auf der Staffelei stand. Es zeigte eine Szenerie, die Scully wie aus der Antike vorkam. Es gab Tempel, Säulengänge, Menschen in Togen und langen Kleidern. Hilda hob den Blick, als sie näher kamen. Scully zuckte zusammen. Die alte Frau sah sie an, mit einem Blick wie ein verwundetes Tier. Eine graue Haarsträhne war ihr ins Gesicht gefallen, die sie nun mit einer langsamen Bewegung zurückstrich.
„Es ist zu spät“, sagte sie. „Ich weiß jetzt, wo mein Mann ist. Er kommt nicht zurück.“
„Woher wollen Sie das wissen?“ fragte Scully. „Haben Sie ihn gesehen? War er noch mal hier?“
„Gewissermaßen“, sagte Hilda.
„Und Matthew?“
Der Blick der alten Frau huschte von den Agenten zu dem Bild mit der glücklichen Familie und wieder zurück.
„Ich habe mit Gary gesprochen“, warf Scully in den Raum. „Er hat mir das mit den Bildern gesagt.“
Hilda nickte. „Dann wissen Sie ja Bescheid. – Ich hätte Alfred nie vermißt melden sollen. Aber da wußte ich noch nicht... Ich hätte nie gedacht, daß auch er... Und vor allem, wie er überhaupt alleine, ohne meine Hilfe dorthin kommen konnte. Das geht eigentlich nicht.“
„Wo ist Matthew?!“
„Scully! Kommen Sie her! Sehen Sie sich das an!“ Mulder war inzwischen am anderen Ende des Raumes vor dem Bild der Familie stehengeblieben. Er sah seine Kollegin an und zeigte dann auf eine Stelle im Bild. „Sehen Sie sich dieses Kind hier doch einmal genau an. Kommt es Ihnen nicht bekannt vor?“
Scully trat neben Mulder und beugte sich vor. Sie musterte die Gesichtszüge eines Knaben, der, ermuntert von seiner Mutter, offenbar gerade dabei war, einen Aufsatz oder ein Gedicht zu verfassen. Ihre Augen weiteten sich überrascht, als ihr die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zu dem Foto des vermißten Jungen aus der Akte aufging. Überrascht und unsicher sah sie Mulder an. „Das ist Matthew! Was bedeutet das?“
Mulder schüttelte leicht den Kopf. „Keine Ahnung.“ Er drehte sich zu Hilda um. „Hilda, Sie haben Matthew in das Bild gemalt. Warum?“
Die alte Frau verneinte. „Das habe ich nicht. Er ist dort. Er ist in dem Bild. Oder besser, in der Welt, für die es steht. Er hat seine Familie gefunden. Er wollte ganz offensichtlich nicht zurück.“
Scully rannte zu der Alten, ging vor ihr in die Hocke und packte sie bei den Schultern. Sie sah ihr eindringlich ins Gesicht, ihr eigenes Antlitz von heiligem Zorn entflammt und von ihren roten Haaren umrahmt wie das eines Racheengels. „Sehen Sie mich an! Was haben Sie getan?! Haben Sie ihn mit einer Art Voodoo-Zauber belegt, indem sie ihn in dieses Bild malen, oder was? Haben Sie etwas mit seinem Verschwinden zu tun?!“
„Nur so, wie Gary es Ihnen erzählt hat“, sagte die alte Frau ruhig. „Sie sagten doch, Sie haben mit ihm gesprochen. Er hat es Ihnen doch erzählt, oder? – Er war selbst in einem Bild. In dem da.“ Sie drehte sich um und zeigte auf das Bild einer einsamen Bucht, die Wellen brachen sich am Strand. „Aber er ist zur vereinbarten Zeit zurückgekommen. Matthew nicht. So wie die anderen, die Sie vermissen.“ Sie seufzte. „Ich habe nie gedacht, daß so viele Menschen sich nach einer anderen Welt sehnen. Jedenfalls nicht, daß sie sich genug danach sehnen...“
„Genug?“ fragte Mulder, der hinter Scully getreten war. „Was meinen Sie damit?“
„Genug, um für immer da zu bleiben.“
„Blödsinn!“ fuhr Scully sie an. „Wenn das wahr ist, was Sie sagen... Dann konnten diese Leute nicht zurückkommen. Kein Mensch bleibt freiwillig für den Rest seines Lebens in einem Bild!!!“
„Und doch ist es so. Wenn man zur vereinbarten Zeit den Willen dazu hat, läuft man ins Freie und kommt immer wieder zurück. Ich war auch selber in meinen Bildern. Deswegen habe ich sie ursprünglich ja überhaupt erst gemalt. Für meine kleinen Fluchten. Es ist wie ein Buch zu lesen und völlig in die Geschichte abzutauchen, nicht mehr zu hören und zu sehen, was um einen herum vorgeht. Das kennen Sie doch, oder?“ Sie sah Scully herausfordernd an, dann Mulder, während sie weitersprach. „Sie lesen ein Buch, wissen auf einmal, was die Hauptperson denkt, was sie empfindet, und manchmal, wenn die Figur traurig ist, müssen Sie weinen.“
„Ja“, sagte Mulder.
„Und dabei ist es doch nur Papier.“ Kurz schwiegen sie alle drei. Dann sprach Hilda weiter. „Sehen Sie, so ist es mit meinen Bildern. Nur ein wenig extremer. Es ist vor allem ein tatsächliches Abtauchen, nicht nur ein geistiges.“ Sie drehte sich um. „Mein Lieblingsort ist der da.“ Sonne schien auf dem Bild hinter ihr in eine schmale, südländisch aussehende Gasse, leuchtete von hinten durch die Wäsche, die bunt auf Leinen quer über die Straße gespannt war, unten liefen Passanten, Kinder mit fröhlichen Gesichtern tollten mit Hunden und Katzen. „Das ist in Italien.“
„Schön“, meinte Mulder, den Blick auf dem Bild.
„Ich glaube Ihnen nicht“, sagte Scully, den Blick auf Hilda.
Hilda drehte sich wieder ihr zu und blickte sie mit klaren, grau-grünen Augen entschlossen an, die viel wacher und jünger wirkten als das Gesicht mit den Runzeln, aus dem sie Scully ansahen. „Ich beweise es Ihnen. Sie gehen jetzt da hin. Und dann fragen Sie Matthew einfach.“

„Konzentrieren Sie sich. Sehen Sie das Bild an.“
Mulder und Scully hielten beide eine Digitaluhr in ihrer rechten Faust und blickten geradeaus auf das Bild mit der Familie, vor dem sie standen.
„Suchen Sie sich einen Platz auf dem Bild, an dem Sie sein möchten. Fixieren Sie ihn. Sehen Sie nicht weg. Jetzt atmen sie tief ein und wieder aus. Ein und aus.“ Hilda in ihrem Rücken sprach mit monotoner Stimme. „Sie fühlen, wie Sie ruhig werden. Ein bißchen müde vielleicht. Arme und Beine werden schwer. Ihr Körper will nichts mehr als an diesen schönen Ort, Sie sehnen sich danach. Sie... Halt!“ Hilda hatte scharf gesprochen, und Mulder wandte sich mit glasigem Blick ihr zu, wie jemand, der gerade aus einem schönen Traum aufwacht. „Ich hatte doch gesagt, Sie sollen nicht wegsehen“, rügte Hilda. Es war klar, daß sie Scully meinte.
Scully drehte sich zu ihrem Partner um. „Tut mir leid, Mulder, aber es ist bloß ein Trick. Und er funktioniert nicht.“
Hilda funkelte sie böse an. „Er funktioniert nur deswegen nicht, weil Sie sich weigern, den Gedanken an diese Möglichkeit zuzulassen!“
Mulder sah immer noch aus, wie gerade erst aus dem Halbschlaf gekommen. „Also, ich...“ Er verstummte.
„Was?!“ Scully wandte sich so heftig zu ihm um, daß ihre roten Locken flogen. Sie starrte ihn an.
Er öffnete die Lippen, schloß sie wieder. Endlich sagte er: „Schon gut, vergessen Sie's.“
„Verhaften Sie mich jetzt?“ fragte Hilda.
„Wofür denn?“ fragte Mulder zurück.
„Ich werde rausfinden, was hier passiert ist“, versprach ihr Scully. „Und wenn Sie etwas mit dem Verschwinden all dieser Leute zu tun haben, werden wir einen Haftbefehl mitbringen. – Kommen Sie, Mulder.“ Sie schnappte ihn am Ärmel und zog ihn hinter sich her ins Freie.

Scully sah Feuer. Und sie sah Mulder. Und sie wußte, daß sie ihm irgendwie helfen mußte, nur konnte sie ihn nicht erreichen.
„Uaaah!“ Schreiend erwachte die Agentin aus ihrem Alptraum. Ihr Pyjama war naßgeschwitzt, sie zitterte am ganzen Körper und brauchte ein paar Sekunden, bis ihre Orientierung wieder einsetzte. Natürlich, sie waren noch immer in dem Motel. Draußen stürmte es. Und das hatte wohl ihren Alptraum ausgelöst. Sie griff nach dem Wecker auf dem Nachttisch. 11.21 Uhr nachts. Sie hatte noch nicht einmal eine Stunde geschlafen. Wieso träumte sie von Mulder? Und von einer Gefahr? Sie legte sich zurück, nur um festzustellen, daß sie nicht wieder würde einschlafen können.
Sie schlug die Decke zurück und stand auf. In Pantoffeln und mit einer schnell über den Pyjama gezogenen Jacke trat sie auf den Flur und ging zur Tür des Zimmers nebenan. Sie klopfte.
„Mulder!“ Keine Reaktion. „Mulder? – Mulder, ich bin's. Kann ich kurz reinkommen? Mulder!“
Scully atmete hörbar aus, dann biß sie sich auf die Lippen. Schließlich probierte sie die Tür. Nicht abgeschlossen! Die Tür schwang auf. Im Zimmer war es finster. „Mulder?“ Sie tastete nach dem Lichtschalter und fand ihn. Das Bett war leer.

„Wenigstens habe ich darauf bestanden, daß wir wegen der Befragungen ein zweites Auto mieten, damit wir getrennt fahren können“, murmelte Scully, als sie kurz darauf wieder angezogen zu ihrem Auto rannte und den Schlüssel ins Schloß steckte. Mulders Wagen war nicht da. Scully öffnete die Tür und schob sich auf den Fahrersitz. „Mulder, Sie Idiot, auf was für einem Trip sind Sie diesmal nur wieder?!“ sprach sie ins Dunkel, während sie den Wagen anließ.

Das Auto hoppelte um die letzte Kurve des primitiven Weges zu Hildas Haus. Der Scheinwerferkegel erfaßte Mulders Auto, das vor dem Eingang parkte.
„Dachte ich's mir doch“, murmelte Scully.
Aus der Scheune drang Licht. Dorthin rannte sie, als sie den Wagen abgestellt hatte. Sie riß die Tür auf. „Wo ist er? Wo ist, verdammt noch mal, mein Partner?!“
Hilda saß wieder vor der Staffelei. Scullys Blick fiel auf die Stelle, wo das Familienporträt gehangen hatte. Dort war nur weiße Wand. Die Agentin fühlte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. „Was haben Sie mit Mulder gemacht?“ brachte sie mühsam heraus.
Hilda lächelte. Traurig, wissend – vielleicht auch spöttisch, wie es Scully schien. Die Agentin wagte nicht, das Undenkbare zu denken. Im selben Moment realisierte sie, wie viel Mulder ihr bedeutete. Er war nicht einfach nur ihr Kollege. Sie verband längst eine innige Freundschaft. Und sie würde es nicht ertragen, ihn zu verlieren.
„Er ist nicht im Familienbild“, sagte Hilda. „Er ist in dem da.“ Sie deutete auf die antike Szene auf der Staffelei. „Er kam her und wollte zu Matthew. Aber ich hatte das Bild verbrannt, weil ich das Gefühl hatte, es ist besser für Matthew, wenn er ganz ungestört dort bleiben kann, wo er jetzt ist. – Aber er wollte es wissen. Also besucht er jetzt meinen Mann.“ Sie streckte den Finger aus und deutete auf einen Römer in weißer Toga, der sich eben anschickte, das dargestellte Forum zu verlassen. „Ich habe ihn heute dort entdeckt. Daher weiß ich, daß auch er nicht zurückkommt. Ein Rätsel ist mir nur, wie er überhaupt alleine dahin gehen konnte. Nun ja. Vielleicht hat er mich beobachtet...“
Fasziniert starrte Scully auf das Bild. Der Mann hatte die Gesichtszüge des vermißten Alfred. Aber was bewies das anderes, als daß Hilda eine phantastische Malerin war? Sie betrachtete die anderen Figuren auf dem Bild. Kein Mulder. Aber im Raum war er auch nicht. Wo also dann? Sein Wagen stand doch vor der Tür!
„Ich kann meinen Partner hier nicht sehen.“
Hilda lächelte und sah sie nachsichtig an, ein wenig so, als wäre Scully die Schwachsinnige. „Natürlich nicht. Er ist ja bislang auch nur zu Besuch dort.“
„Aber er kommt zurück?“
„Gesagt hat er es jedenfalls.“
„Was soll das heißen?“
„Naja. Wer weiß. Vielleicht entscheidet er sich ja auch dafür, dort zu bleiben.“
„Nein! Das würde er nicht. Niemals!“
„Na schön, dann warten wir es ab, bis er wiederkommt. In zwei Stunden.“
Scully sah zweifelnd zwischen dem Bild und Hilda hin und her. Sie wußte nicht mehr, was sie glauben, nicht, was sie tun sollte. „Ich hatte einen Alptraum“, sagte sie endlich. „Er war in Gefahr. – Was, wenn er zum vereinbarten Zeitpunkt nicht im Freien sein kann? Oder wenn er den Zeitpunkt übersieht?“
Hilda blickte gen Decke, zuckte die Schultern und machte eine vage Handbewegung.
In Scully reifte der Entschluß.
„Bringen Sie mich dahin!“
„Bitte? Sie haben es doch heute nachmittag schon nicht geschafft. Weil Sie nicht glauben. Weil Sie es nicht wirklich wollen.“
„Oh doch. Jetzt schon. Jetzt will ich auf alle Fälle wirklich da hin. Ich muß zu meinem Partner.“
Hilda sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Dann stand sie auf.
„In Ordnung. Sie brauchen aber mehr Zeit, einen vollen Tag, würde ich sagen. Denn wie wollen sie ihn in nur zwei Stunden finden. Er kann jetzt überall in der Stadt sein.“
„Was nützt ein ganzer Tag? Ich denke, er kann dann gar nicht mehr zurückkommen, wenn er es nicht in zwei Stunden schafft?!“
„Naja.“ Hilda biß sich auf die Lippen. „Ich glaube, man kann jemanden auch holen. Falls der zu der Zeit, zu der man selbst zurückkommt, ebenfalls zurückkehren will und man bei ihm ist. Das habe ich allerdings nie ausprobiert. Das ist mehr... Theorie. Und was für einen Sinn sollte das in meinem Fall wohl auch haben...?“
„Na schön. Ich versuche dann wohl lieber, Mulder schnell zu finden. Falls es nicht klappt, hoffe ich allerdings, Sie haben recht.“

„Konzentrieren Sie sich. Sie wollen dort sein. Sie sind müde, Sie sehnen sich nach diesem Ort.“ Hildas einlullende Stimme drang wie aus weiter Ferne an Scullys Ohr.
„Und jetzt heben Sie Ihr rechtes Bein. Sie schließen die Augen, Sie machen einen Schritt – und sind da!“
Scully setzte den Fuß auf und öffnete die Augen. Gleißendes Licht blendete sie. Sie stand auf einem großen Platz, auf dem wild das Leben wuselte. Er war von Kolonnaden umgeben, und an der Stirnseite stand ein prächtiger Tempel, hinter dem sich ein Berg erhob, der bis obenhin von Weinreben bedeckt zu sein schien. Es schien, als ob soeben die Markthändler ihre Waren und Stände zusammenräumten. In dem Moment fiel es Scully wieder ein: der Mann! Sie mußte unbedingt Alfred erwischen, bevor er das Forum verließ! Wo war er nur? Hatte sie ihn nicht bei dem Triumphbogen dort hinten gesehen?
Scully fing an, in die Richtung zu rennen – und stellte fest, daß ihr das lange Kleid, das sie auf einmal trug, dabei mehr als hinderlich war. Endlich sah sie ihn. Dort war er! Er wandte sich kurz in ihre Richtung um. Ja, es war Alfred, kein Zweifel! Sie erkannte ihn vom Foto. „Alfred Kowalski!“ rief sie. „Halt! Warten Sie!“ Doch das führte nur dazu, daß der Mann ebenfalls zu laufen begann. Dann bog er um eine Ecke. Scully rannte hinterher. Verdammt, sie durfte ihn nicht verlieren! Da, die Ecke! Und nun...
Sie stoppte mitten im Lauf und drehte sich in alle Richtungen. Herrgott! Die Straße war leer! Wo war er hin? Sie suchte weiter, aber sie fand ihn nicht mehr. Mist! Wie, um alles in der Welt, sollte sie nun Mulder finden?! Sie hielt den nächstbesten Passanten an. „Entschuldigung. Ich suche jemand. Er heißt Fox Mulder. Kennen Sie ihn zufällig?“
Der Mann sah sie an, als sei sie nicht ganz dicht. „Lady, in dieser Stadt wohnen paar tausend Leute. Woher soll ich denn wissen, wie die alle heißen, hä?“
„Ah, vergessen Sie's. Entschuldigung.“ Ein paar tausend...! Na toll. Ein Tag würde nie reichen!
Denk nach, denk nach, denk nach! Wie ein Mantra hämmerte es in Scullys Kopf. Was würde Mulder hier tun? Wohin würde er gehen? „Gibt es hier auch eine Organisation wie das FBI, mit der er sich anlegen und sich in Schwierigkeiten bringen kann?“ murmelte sie halblaut zu sich selber. Zumindest ihr Sarkasmus funktionierte also noch, stellte sie dann fest.
Sie versuchte sich zu konzentrieren. Dann fiel ihr Blick plötzlich auf ein Graffito an der gegenüberliegenden Wand. Es waren Gladiatoren beim Kampf abgebildet, und ein begeisterter Fan dieses blutigen Sports hatte ihre Namen neben die Figuren geritzt. Neben einem Kämpfer mit Netz stand „Vulpes“. Scully starrte noch ein paar Sekunden länger darauf. Dann murmelte sie „Vulpes, der Fuchs. Fox. – Das ist es!“ Den nächsten Passanten fragte sie nach dem Weg zur Gladiatorenkaserne.
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