World of X

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Der 24. August

von Andrea Muche

Kapitel 4

Die Schritte der schönen Rothaarigen, die nun so gar nicht mehr nach einer FBI-Agentin aussah, wurden immer zögerlicher, ja näher sie der Gladiatorenkaserne kam. Würde man sie überhaupt hineinlassen? Und, noch wichtiger: Würden die Mulder hinauslassen, wenn er wirklich als das hier gelandet war, was sie befürchtete? Waren Gladiatoren nicht Rechtlose, die wie Gefangene eingesperrt wurden?!
An der Tür stand ein Wächter-Sklave. „Ja, bitte?“
„Ich möchte zu dem Kämpfer Vulpes. Geht das? Ich muß mit ihm reden.“
Der Wächter grinste anzüglich. „Kann ich mir denken. Die Kerle reißen doch immer die heißesten Bräute auf. Geh rein. Du mußt aber innen noch ein kleines bißchen warten. Er trainiert grade.“
Scully trat in einen dunklen Hausflur, der nach hinten unter einen Säulengang führte, der ein sandiges Trainingsareal umschloß. Mehrere Kämpfer hämmerten dort auf Sandsäcke ein oder übten Attacken mit Holzschwertern. Sie trugen Beinschienen oder Armpolsterungen und verschiedene Arten von Helmen, ansonsten nur einen Lendenschurz, und ihre eingeölten Oberkörper glänzten in der Sonne. Ganz hinten stand einer ohne Helm mit dem Rücken zu ihr und feilte an seiner Netzwurftechnik. Er war schlank, mit muskulösen Oberarmen und hatte dunkle, kurze Haare. Scullys Herz schien einen Sprung auszusetzen. War das Mulder?

„Hallo, Scully. Was machen Sie hier? Ich hätte Sie fast nicht erkannt.“ Er kam mit federnden Schritten auf sie zu und schleifte das Netz hinter sich her. Auch die anderen Gladiatoren hatten ihr Training abgebrochen, den Düften nach zu urteilen, trollten sie sich in Richtung Kantine. Scully konnte ihn einen Moment lang nur anstarren. Er wirkte irgendwie so in seinem Element. Als ob er das hier seit Jahren täglich machte. Als gehörte er hierher. Als sei es das natürlichste von der Welt, daß er als Gladiator hier gelandet war. Im selben Moment, als sie es dachte, gingen bei ihr innerlich die Warnlampen an. War es genau diese Art zu denken, die die Vermißten davon abhielt, in die wirkliche Welt zurückzukommen?! Krampfhaft hielt sie die Digitaluhr in ihrer rechten Faust verborgen. Dennoch konnte sie nicht umhin, seine kraftstrotzende Erscheinung zu bewundern. Er strahlte eine männliche Urgewalt aus, die sie schier umwarf. Sie konnte jeden einzelnen Muskel seines du! rchtrainierten Körpers spielen sehen, wenn er sich bewegte. Sie fühlte, wie ihr Mund trocken wurde.
„Scully?“ Jetzt war er bei ihr. Sie sah in seine lachenden grau-blauen Augen, sah seinen dunklen Haarschopf, sein spitzbübisches Grinsen. Sie schluckte. „Oh Gott, ich dachte schon, ich sehe Sie nie wieder.“
„Sind Sie deswegen hier? Um mich zu suchen?“
Sie nickte. „Ja. Um sicherzustellen, daß Sie auch wirklich zurückkommen, wenn die Zeit da ist.“
Er faßte sie plötzlich unterm Kinn, hob es leicht an und sah ihr tief in die Augen. „Himmel, sind Sie schön, Scully.“
„Was?!“
Er setzte an, um etwas zu sagen, brach wieder ab, und fast dachte sie schon, er würde sie nun am Ende vielleicht gar küssen. Statt dessen ließ er ihr Kinn los und betrachtete sie ausgiebig von oben bis unten. „Dieses Kleid. Die geflochtenen Haare. Der kleine, zarte Schleier, der Schmuck. Scully, Sie verstecken sich viel zu oft in strengen Kostümen und übergroßen Mänteln. Sie sind wunderschön.“
Sie öffnete den Mund und wußte nicht, was sie sagen sollte. „Verraten Sie's Skinner nicht“, antwortete sie endlich, bemüht, mit einem Scherz die Anspannung zu lösen.
Er legte ihr den Arm um die Schultern. „Lassen Sie uns nach drinnen gehen, es ist zur Mittagszeit jetzt wirklich zu allem zu heiß. Es ist mitten im August.“

„Diese Mann-gegen-Mann-Geschichte ist einfach phantastisch!“ schwärmte Mulder ihr in seiner Zelle von seinem neuen „Beruf“ vor. „Nach dem Mittagessen habe ich einen Testkampf.“
„Nein. Da haben Sie einen Termin. Mit einer Digitaluhr.“
„Den müssen Sie sich ansehen, Scully, unbedingt. Die Kampftechnik ist höchst interessant.“
„Mulder! Hören Sie mir überhaupt zu?!“ Dann durchfuhr sie wieder der Schreck, als ihr einfiel, daß Mulder zu der Zeit, die er nicht verpassen durfte, unter Umständen auch in seiner Zelle eingeschlossen sein könnte. „Dürfen Sie sich denn eigentlich frei bewegen? Oder sperrt man Sie hier ein? Ich meine, als Gladiator sind Sie doch Gefangener, oder?“
Mulder schmunzelte, faßte seine Partner-Agentin, die neben ihm auf seiner Pritsche saß, am Nacken und zog ihren Kopf zu sich herüber. „Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben, Schätzchen, ich bin kein Wüstling, der über kleine Mädchen hergefallen ist. Ich bin hier so etwas wie ein Popstar. Die kleinen Mädchen wollen über mich herfallen.“
Scully hob ihren Kopf und sah ihn fragend an. „Sie sind also kein Sklave oder Verbrecher?“
„ Nein.“
„Was soll das bedeuten? Daß Sie das hier freiwillig tun?“
„Ja.“
Scully schloß die Augen. „Also dann... dann können Sie hier weg, oder? Man schließt Sie nicht ein? Es ist nicht so, daß Sie zurückmöchten und nicht können?“
„Ich gehe schon zurück, Scully, keine Sorge. Gleich nach meinem Testkampf.“
„Aber Mulder! Wann soll der denn sein? Sie haben jetzt vielleicht noch eine Stunde!“
„Dana.“ Die ungewohnte Anrede gefiel ihr gar nicht. Er sah sie jetzt auch nicht an, sondern an ihr vorbei. „Einen Moment lang habe ich mit der Möglichkeit gespielt, wirklich hier zu bleiben, wissen Sie. Hier bin ich Vulpes, der trickreiche Netzkämpfer. Nicht Spooky Mulder, der Volltrottel vom Dienst. Aber...“ Er seufzte. „Aber ich gehe zurück. Zur Suche nach meiner Schwester. Zu meinem aussichtslosen Kampf gegen die Regierungsverschwörung. Und zu Ihnen. Aber das hier... Ich will diesen Kampf hier noch bestreiten, ich will wissen, ob ich's kann. Mann gegen Mann, das ist so... so...“
„...eine machomäßig gehirnverbrannte Vollidiotenidee!“ schrie sie ihn nun an. „Das ist hier kein Spiel, Mulder! Es sind Kämpfe auf Leben und Tod! Vielleicht siegen Sie. Mag schon sein. Vielleicht trägt man Sie aber auch mit den Füßen voran hier raus. Das ertrag' ich nicht, Mulder!“
„Keine Angst, Scully.“ Er strich ihr zärtlich über die Wange. „Es endet längst nicht jeder Kampf mit dem Tod eines der beiden Gladiatoren. Unentschieden ist viel häufiger. Laut Statistik.“
Sie sah ihn an, sie hörte ihn reden, und sie konnte nicht glauben, was sie da vernahm. Sie wurde zusehends wütender. Machte er sich über ihre Sorge um ihn lustig? Nahm er sie kein bißchen ernst? Hörte er ihr überhaupt zu?! Da saß er in seiner Gladiatorenausrüstung und redete, als versuchte er sie im FBI-Hauptquartier von der Häufigkeit von Ufosichtungen zu überzeugen oder irgend so etwas. Merkte er überhaupt noch, wie in die Irrealität abgedriftet er sich anhörte?!
„Ich scheiß' auf Ihre Statistik!“ entgegnete sie schließlich heftig. „Und ganz abgesehen davon: Sie haben nicht mehr genug Zeit! Sie können nicht einen Kampf bestreiten und ihn auch noch gewinnen. Sie dürfen Ihr Rückreisefenster nicht verpassen! Sie müssen die Uhr bei sich haben, und Sie müssen sich an einem Ort im Freien darauf konzentrieren, zurückkehren zu wollen. Wenn Sie das nicht schaffen, dann bleiben Sie für immer hier, als Gladiator mit Dreizack und Netz auf einem Bild in dem Haus von dieser Verrückten!“
Er sah sie überrascht an. „Und ich dachte, Sie glauben nicht an die Sache mit der Figur im Bild!“
Sie wich seinem Blick aus. „Tu ich auch nicht. Nicht wirklich. – Aber was ist, wenn Sie recht haben? Ich will Sie nicht hier verlieren, Mulder! Ich war in Sorge. – Und immerhin sind wir ja wohl beide tatsächlich hier. Falls das hier real ist. Ich muß allerdings zugeben, daß es sich sehr real anfühlt.“
„Es stimmt irgend etwas nicht, oder? Was hat die alte Hilda Ihnen erzählt?“ Er sah sie auf einmal unbehaglich an. Und dann fragte er: „Warum hat sie Sie ins Bild gelassen? Um Ihnen etwas zu beweisen? Damit Sie mich retten können? – Oder war es vielleicht eine Falle?“
„Eine Falle?“
„Ja. Könnte doch sein. Vielleicht wollte sie ihren Alten über das Bild schlicht loswerden. Und nun uns. Oder sie findet das einfach lustig.“
„Sie denken, wir können vielleicht gar nicht zurück, selbst wenn wir wirklich wollen?“ Scully fiel das vernichtete Familienbild wieder ein, und dieser Gedanke gefiel ihr gar nicht.
„Denken Sie an die Geschichte mit dem Bild der Titanic...“
„Das hier ist aber nicht die Titanic!“
Sie sahen sich einen Moment unsicher an. In der Mittagshitze regte sich kein Hauch, die Luft schien wie eine alles erstickende Decke mit einemmal schwer auf ihnen zu lasten. Und dann hörten sie plötzlich ein Grollen, gleichzeitig begann der Boden zu schwanken. Der Laut, der immer stärker anschwoll, kam aus der Richtung des Berges, den Scully auch vom Forum aus gesehen hatte.
Sie liefen in den Säulengang. Und von dort verfolgten Mulder und Scully mit schreckgeweiteten Augen, wie aus der Spitze des Berges eine Rauchsäule aufstieg. Ein Vulkan! Und dann flog mit einemmal mit einem riesigen Knall die gesamte Spitze davon. Dick und schwarz schoß Qualm in die Höhe, verteilte sich weiter oben dann in verschiedene Richtungen und nahm die Form einer Pinie an.
„Oh mein Gott!“ ächzte Scully. „Was ist das?!“
Mulder schluckte. „Es sieht aus wie ein Atompilz.“
Mit morbider Faszination starrten sie weiter ungläubig auf die Szenerie, die sie sahen. Dann, nach Momenten, die ihnen lang wie Stunden vorkamen, fragte Mulder: „Was für ein Tag ist heute?“
Scully blickte auf die Datumsanzeige der Uhr. Sie sah ihren Partner an und wagte kaum auszusprechen, was sie nun wußte. „Es ist...“ Sie leckte sich nervös über die Lippen. „Es ist der 24. August. 79.“
Er nickte und fügte ruhig und leise an: „Der Tag, an dem Pompeji untergeht.“

Die Bimssteine fielen immer heftiger und prasselten in immer größeren Brocken.
„Wir müssen hier weg!“ schrie Mulder. „Schließlich wissen wir, was mit Pompeji passiert ist.“
„Sie sind ohnehin gleich weg. Ihre Zeit ist so gut wie da. Nur mit dem Standort im Freien wird es schwierig.“ Scully sah besorgt nach draußen, wo im Trainingshof der Gladiatorenkaserne die Bimssteinschicht höher und höher stieg, und das Prasseln aufs Dach wollte nicht nachlassen.
„Und Sie?! Ich kann Sie doch nicht hier zurücklassen?!“
„Sie müssen. Ich komme schon klar, keine Sorge.“ Sie klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Neueste Erkenntnisse haben ergeben, daß Pompeji nicht so schlagartig untergegangen ist, wie man immer gedacht hat. Der Bimssteinhagel ging noch lange so weiter, und bis zum nächsten Morgen gab es noch Leben in der Stadt. Die erste pyroklastische Wolke, die all die Menschen umgebracht hat, kam erst dann.“
Er nickte. „Klingt gut. Stimmt es auch?“
Sie lächelte tapfer. „Ich denke schon. – Und jetzt müssen Sie da raus.“ Sie lächelte wieder. „In den Kampf.“
Er hielt sich eine Decke von seiner Schlafstelle über den Kopf und wollte schon hinaus in den Steinhagel treten, als sie ihn noch einmal zurückhielt.
„Wo haben Sie denn Ihren Gladiatorenhelm? Wollen Sie den nicht lieber aufsetzen, um Ihren Kopf zu schützen?“
Er grinste schief. „Da muß ich Sie enttäuschen. Ich bin Netzkämpfer. Der hat keinen.“
Und mit diesen Worten trat er beherzt hinaus in den Bimssteinhagel, die Uhr fest in der Hand, die Gedanken auf die Rückkehr fixiert.
Dana begann zu beten. Doch dann stockte ihr der Atem, als sie es sah: Ein riesiges, steinernes Geschoß kam von oben auf ihren Kollegen und Freund zugerast, so schnell, daß sie nicht einmal mehr einen Warnruf loslassen konnte. Es traf ihn unvorbereitet am Kopf, trotz der Decke, die Wucht war zu groß. Wie gefällt sank der Agent zu Boden. Scully dachte, ihr Herz müsse stehenbleiben vor Angst. „Mulder!“ schrie sie verzweifelt. „Mulder...!!!!!“

Der FBI-Agent wußte nicht, wo er war. Möglicherweise hatte er eine ganze Nacht durchgemacht und sich sinnlos betrunken. Die gräßlichen Kopfschmerzen deuteten definitiv darauf hin. Überhaupt tat ihm irgendwie alles weh. Wie nach Treffern in einem Boxkampf. Kampf... mhm. War da nicht irgend etwas gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Seine Hände begannen, über seinen Körper zu tasten. Das war der Moment, in dem er realisierte, daß er außer einem Armschützer und einem Lendenschurz nichts trug. Neben ihm lag etwas, das sich anfühlte wie eine Decke. Und hier? Ach, das schien eine Armbanduhr zu sein. Die Uhr...! Aber natürlich! Mit einem Ruck setzte Fox Mulder sich auf, legte sich allerdings sofort stöhnend wieder zurück, als es in seinem Kopf erst recht zu hämmern begann. Er blinzelte, erkannte die Holzdecke als die in Hildas Atelier, hustete und erinnerte sich dann wieder an alles. Pompeji. Die Gladiatorenschule. Der Vesuvausbruch. Die herabschießenden Bimss! teine. Es mußten ihn mehrere getroffen haben. Verflucht, tat das weh! Und wo war eigentlich Hilda? Er konnte keine Geräusche in der Scheune hören. Sie schien fort zu sein. Langsam setzte er sich zum zweiten Mal auf.

„Sie sind an Geschichte interessiert?“ Die hübsche, blonde Bibliothekarin im Minirock blickte ihn an, als wäre sie auch interessiert – an anderen Dingen. „Da könnte ich Ihnen auch noch ein Buch über die Besiedlung unseres Ortes hier empfehlen.“
Mulder schüttelte den Kopf, schnappte sich das Buch, das sie ihm über den Tresen gereicht hatte und ignorierte ihren offensichtlichen Flirt-Versuch. „Danke, ich möchte nur in römischer Geschichte etwas nachsehen.“
Er ging mit dem Buch an einen der wenigen Tische und begann zu blättern. Endlich fand er, was er suchte. „Der Untergang von Pompeji.“ Er las und las. Die Berichte von Plinius dem Jüngeren. Die neuesten Erkenntnisse zum Ablauf des Ausbruchs. Immerhin gab es Augenzeugenberichte. Es waren Menschen davongekommen. Aber eben bei weitem nicht alle. Er las von den Menschen am Strand von Herkulaneum. Die Glutwolke, die sie traf, war so heiß, daß ihre Haut verdampfte und die Knochen verbrannten. Ihre Gehirne begannen zu kochen und barsten. Was, wenn Scully in die falsche Richtung gelaufen war? Mulder vermochte sich das schreckliche Geschehen nicht vorzustellen. Und daß es seiner Partnerin zustoßen könnte... Er schluckte hart. Vielleicht war sie auch in Pompeji geblieben, hoffend, daß sie zurückkäme, bevor die tödliche Wolke sie holte. Aber hatte sie die Zeit? Von Bildern im Buch sahen ihn die Gipsabdrücke der Toten an, im Todeskampf verzweifelt um Luft ! ringend für die Ewigkeit konserviert. Es schüttelte ihn. Was, wenn sie in der Gladiatorenkaserne gewesen war und sich dort in Sicherheit wähnte? Er blätterte und entdeckte, daß man an dem Ort, den er erst vor so kurzer Zeit verlassen hatte, 63 Skelette gefunden hatte. Und eines darunter war das einer Frau. Einer reichen Frau, wie die Archäologen ihrem Schmuck zufolge vermuteten.
Mulder schloß gequält die Augen. Er mußte an Scully denken, so, wie er sie zuletzt dort gesehen hatte. Die roten Haare geflochten nach hinten gefaßt, mit ihren klaren, blauen Augen, die ihn so überaus besorgt ansahen, in einem herrlich fließenden Kleid, das das Weibliche an ihr betonte. Und er erinnerte sich überdeutlich an den Schmuck, den sie getragen hatte. Ringe, Reifen an Oberarmen und Handgelenken, Ohrringe, eine Kette... „Nein“, murmelte er und konnte nicht verhindern, daß Tränen unter den zusammengepreßten Lidern hervortraten. „Nein, oh nein, bitte nicht....!“

Licht. Da war endlich wieder Licht. Nach einem ganzen Tag, der so stockdunkel gewesen war wie die tiefste Nacht. Und es war nicht der Flammenschein, der von den Feuern herrührte, die überall loderten. Es riefen auch keine Mütter mehr auf der Flucht nach ihren Kindern, keine Männer nach ihren Frauen. Ruhe. Frieden. Es fühlte sich irgendwie alles gut an. Sie mußte husten und schloß die Augen wieder. All die Asche, die in der Luft gewesen war...
Im selben Moment fühlte sie, wie eine Hand unter ihren Kopf glitt und jemand ihr half, sich aufzusetzen. „Dem Himmel sei Dank, da sind Sie ja wieder“, flüsterte die vertraute Stimme von Fox Mulder nahe bei ihrem Ohr. Sie schlug die Augen erneut auf und blickte ihm direkt ins Gesicht. Er hatte ein Pflaster auf der Stirn, schien aber ansonsten nicht verletzt zu sein.
„Sie tragen ja wieder einen Anzug“, sagte sie matt. „Das ist gut.“
Sie schloß die Augen wieder. Sie brannten vom Ruß.
„Schade um Ihr Kleid“, kommentierte er und blickte auf sie hinab, während ihn die Erleichterung durchströmte. Er war so dankbar, daß auch sie davongekommen war. Seit Einbruch der Nacht hatte er im Atelier gesessen, gebangt, gehofft und darauf gewartet, daß sie wiederkam. Und nun war sie endlich hier. Mit dreckigem Kleid, rußverschmiertem Gesicht, die aus der Frisur gelösten Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht, ihre Augen waren geschwollen, und sie sah furchtbar müde aus. Aber sonst schien ihr nichts zu fehlen.
„Sie denken doch wohl nicht im Ernst, ich hätte das hier irgendwann noch mal angezogen?“ fragte sie matt.
„Naja“, sagte er. „An Halloween vielleicht?“
Sie lehnte sich gegen seine Brust und murmelte: „Mulder, Sie sind unmöglich.“
Dann kam ihr ein anderer Gedanke und sie schlug ihre Augen wieder auf. „Wo ist eigentlich Hilda?“
„In Italien.“
„Was? Sie ist auch zu ihrem Alfred nach Pompeji?“
Mulder schüttelte den Kopf. „Nein. Ich glaube, er wollte wirklich fort von ihr, und sie hat ihn gelassen, als sie ihn auf dem Bild erkannt hat. Nein, sie ist jetzt selbst gegangen. Nach Italien. In ihr Lieblingsbild. Sehen Sie, da!“
Er half ihr beim Aufstehen und ging mit ihr zu dem Bild hinüber, das die italienische Gasse zeigte. Jetzt spielten da nicht mehr nur die Kinder und Tiere. Jetzt saß da im Schatten eines Türeinganges eine alte Frau mit Strickzeug, die glücklich zu ihren Enkeln beim Spiel hinübersah. Sie war auf den ersten Blick kaum zu sehen. Aber eindeutig zu erkennen war sie doch. Scully nickte. „Sie ist es. Sie ist dort drin. Mulder, wie ist das nur möglich?!“
„Jedenfalls ist es jetzt vorbei. Ich glaube, ohne ihre Einstiegshilfe kann niemand mehr in ihre Bilder. Um ganz sicher zu gehen, können wir sie auch vernichten.“ Scully konnte nicht genau sagen, ob er erleichtert oder auch ein klein wenig traurig war.
„Sind die anderen Vermißten auch auf den Bildern?“
Er nickte. „Ja. Alle.“

Dana Scully warf, bevor sie das FBI-Hauptquartier verließ und ihren Feierabend begann, noch einen Blick in Mulders Büro. Es war dunkel, aber der bläuliche Schein seines Computers beleuchtete sanft sein Gesicht. Sie trat ein und sah ihn fragend an.
„Läßt Sie der Fall noch nicht los? An was arbeiten Sie da?“
Er machte eine müde, abwehrende Handbewegung und knackte einen Sonnenblumenkern zwischen seinen Zähnen.
„Naja, es hat eigentlich nichts mit arbeiten zu tun.“
Sie kam neugierig näher und umrundete den Schreibtisch, um hinter ihn zu treten und ihm über die Schulter sehen zu können. Auf seinem Bildschirm lief ein Videospiel. Computergenerierte Figuren, die römische Gladiatoren darstellten, lieferten sich Kämpfe in der Arena. Scully sah Mulder an und lächelte schief. „Sie hätten es wirklich gern wissen wollen, stimmt's?“
„In einem Kampf siegen wollen, das ist doch eigentlich, was wir hier täglich versuchen, oder?“ Nun warf er ihr einen nachdenklichen Blick zu. „Bloß, daß man hier bisweilen noch nicht mal seine Freunde von seinen Gegnern unterscheiden kann.“
Sie nickte leicht. „Ich weiß, was Sie meinen. Trotzdem bin ich froh, daß Sie nicht versuchen konnten, sich dort unter Beweis zu stellen.“ Sie schwieg kurz. „Ich bin sehr froh, daß Sie wieder hier sind. Daß wir beide hier sind.“
„Oh ja, Scully“, sagte er aus tiefstem Herzen und warf ihr einen intensiven Blick zu, den sie nicht deuten konnte, vielleicht auch nicht deuten wollte, „ich auch.“
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm und legte ihm dabei leicht die Hand auf die Schulter. „Welcher Gladiator sind Sie?“
„Der Netzkämpfer, wie in Pompeji.“ Er deutete auf die Figur, die gerade über einem Gegner stand, der in den Maschen gefangen und kampfunfähig auf dem Boden der Arena lag.
Scully mußte schmunzeln. „Naja“, sagte sie, „ich würde mal sagen, Sie haben gewonnen.“


ENDE
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