World of X

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Der 24. August

von Andrea Muche

Kapitel 2

„Was können die jungen Leute hier auch sonst schon groß machen?“ Das war es, was Hank, der Officer, zu der gleichen Frage zu sagen hatte. „Da nutzen sie die Chance des Bierfestes drüben bei den Nachbarn, das einmal im Jahr stattfindet. Und prompt gibt es eine Keilerei. Sonst ist es bei uns das ganze Jahr über aber immer echt ruhig.“
„Außer in letzter Zeit“, korrigierte Mulder und legte den Ordner mit den Vermißtenfällen auf den Tisch.
Hank nickte. „Außer in letzter Zeit.“
„Und wie war das nun mit den Ufo-Sichtungen?“
„Ah.... ja... das, also, naja.... Es hat ein Typ angerufen, letzte Nacht, er war ungefähr hier, sehen Sie?“ Der Officer zeigte den Bereich auf der Karte. „Als ein Wagen von uns hinkam, war er aber schon weitergefahren. Vielleicht war der Kerl ja auch blau. Da hat in der Nähe vor kurzem eine neue Bar aufgemacht. Vielleicht kam er von dort und fand es gerade lustig, den Notruf zu mißbrauchen.“
„Und der Mann mit den Faxen aus der Hosentasche?“
„Oh Mann, der...! Er hat sie uns sogar vorgelesen. Als ob er sie in der Hand hielte. Das war echt irre. – Der Doc sagt, er leidet unter Schizophrenie und hatte Medikamente nicht genommen, dafür aber allen möglichen anderen Mist eingeworfen.“
„Ist sein Blut untersucht worden?“ fragte Scully.
„Ja, hier.“ Hank reichte ihr das Blatt mit den Daten.
Sie mußte es sich nur kurz ansehen. „Liebe Güte. Das hätte ja ein Pferd lahmgelegt. Bei all dem Zeug, das der genommen haben muß, wundert es mich eher, daß er überhaupt noch fahren konnte, und nicht, daß er sich von Ufos verfolgt glaubt und nicht existierende Faxe vorgelesen hat. Der hätte sich vermutlich auch mit Kennedy unterhalten können.“
„Und was nun? Klappern wir die Familien der Vermißten ab?“
„Ja, ich wüßte nicht, was sonst noch. Die Ursache der Massenschlägerei ist ja auch nur zu klar.“

Scullys Befragungen an diesem Tag endeten ebenfalls so, wie sie es sich gedacht hatte: mehr oder minder ergebnislos. Keine hellen Lichter, keine grauen Männer. Aber auch keine Erpresserbriefe. Eine der Frauen war in einen Wald in der Nähe der Kowalski-Einöde zum Pilzsammeln gegangen und nicht zurückgekehrt. Ein junger Mann war vermutlich mit seiner Freundin durchgebrannt. Die Agentin zückte ihr Mobiltelefon und wählte Mulders Nummer. „Wie steht's bei Ihnen? Hier gibt es nichts wirklich Neues. Die Leute sind fort, keiner weiß warum oder wohin.“
„Die Angehörigen des Mannes habe ich noch nicht erreichen können. Die Frau ist von ihren Malstunden nicht zurückgekommen.“
„Ich glaube, wir sollten für heute Schluß machen.“
„Ja. Nur eine Sache noch. Aber treffen wir uns erst mal am Motel.“

„Was haben Sie denn heute noch vor?“ fragte Scully ihren Partner, als sie eingecheckt hatten und Scully sich eigentlich nur noch auf eine Dusche freute.
„Ich will zu diesem Straßenstück, von dem der Typ wegen der Ufos angerufen hat. Sobald es dunkel wird, müßten wir sie sehen, falls sie noch da sind.“
„Na gut, das dauert ja noch eine Weile, ich geh jetzt erst mal duschen. Soll da in der Nähe nicht außerdem eine neue Bar sein? Dann könnten wir ja vielleicht die bestimmt unnütze Ufo-Jagd mit einem nützlichen Abendessen verbinden.“

Mulder stoppte. „Hier müßte es ungefähr gewesen sein.“
Die beiden Agenten verließen den Wagen und warfen prüfende Blicke an den Nachthimmel.
„Also, ich sehe außer Sternen rein gar nichts, Mulder. Da ist der Große Wagen.“
„Wo?“
„Na, da! Halt, jetzt hat sich ein Dunstschleier davorgeschoben, Sie können ihn nicht mehr sehen.“
„Nein, ich habe die Sterne vom Himmel gestohlen. Wollte sie Ihnen gerade alle schenken.“
Scully mußte lachen.
„Warten Sie! Da!“
„Sind die Sterne wieder da, wo sie hingehören?“
„Nicht die Sterne! Da ist ein grünes, pulsierendes Licht! Gerade hab ich's gesehen!“
Scully blickte in die Richtung, in die er zeigte. Dann sah sie es auch. Kreisende, grüne Bewegungen. Im selben Moment erkannte sie zeitgleich mit ihm, was es war. „Das ist ein Laserstrahl. Er tanzt über die Wolkenschleier. Vermutlich macht er Reklame für die neue Bar. Also los, folgen wir dem Licht – ich habe Hunger!“

Die Eltern des vermißten Zwölfjährigen Matthew Parker waren keine große Hilfe. Er habe keine Probleme in der Schule gehabt, sonst auch keine, ließen sie Scully bei der Befragung am nächsten Tag wissen, und sie könnten sich keinen Grund für ein freiwilliges Verschwinden denken. Anhaltspunkte für eine Entführung gab es allerdings auch nicht, keine irgendwo aufgetauchten Kleidungsstücke des Jungen, keine Geldforderungen. Allerdings begann Scully sich im Laufe des Gesprächs mit den Eltern immer stärker zu fragen, was die beiden Eheleute von ihrem Sohn eigentlich überhaupt wußten. Sie konnten weder sagen, wie er seine Freizeit in der Regel verbrachte, noch, wer seine Freunde waren. Letztere wollte Scully nun zu finden versuchen. Die kannten Matthew vermutlich besser als seine Eltern.
Sie warf beim Fahren kurz einen Blick auf den Straßenplan, der auf dem Beifahrersitz lag. Jetzt mußte die Schule eigentlich gleich kommen. Da! Ein schwarzer, schmiedeeiserner Zaun mit einem großen Tor, dahinter ein repräsentatives, weitläufiges Backsteingebäude. Direkt davor fand Scully keinen Parkplatz, also fuhr sie um die Ecke, stellte den Wagen dort ab und machte sich zu Fuß auf den Weg zurück.
Es schien gerade Pause zu sein. In Gruppen standen Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen auf dem Areal beisammen. Ein Schuppen, wohl für Gartengeräte oder ähnliches, versperrte ihr dann kurzzeitig die Sicht. Bevor sie wieder aus dem Schatten des kleinen Häuschens trat, hörte sie auf einmal die Stimmen mehrerer Jugendlicher, die sich offensichtlich in unmittelbarer Nähe auf der anderen Seite des Zauns miteinander unterhielten. Und irgend etwas an ihrem Gespräch klang eindringlich. Scully blieb stehen.
„Ich sag' dir doch, es ist real, du Idiot“, pflaumte ein Junge gerade seine Kumpels an.
„Der Idiot bist du, Gary!“ fauchte ein anderer zurück. „In ein Bild einsteigen...! Ich bitte dich! Du hast schlicht zuviel Phantasie, Mensch! Im übrigen erinnert mich das stark an eine Gruselstory, die ich mal gelesen habe. Da entdeckt auch einer eine Methode, in Bilder einzutauchen. Es endet bloß leider ziemlich tödlich, weil er nicht gemerkt hat, daß er sich auf die Titanic beamt, die gerade untergeht, und er ein Kerl ist, die bekanntlich nicht in die Rettungsboote durften.“
Scully mußte schmunzeln. Sie konnte sich erinnern, diese Geschichte auch mal gelesen zu haben.
„In einem Film hab' ich das auch schon mal gesehen, da konnten zwei Typen sich in Videos reinprojizieren. Gib's zu, Gary, du hast zuletzt zuviel ferngesehen.“
Scully wollte ihren Weg schon fortsetzen, als sie jedoch plötzlich den Namen „Matthew“ hörte.
„Und wie erklärst du dir dann Matthews Verschwinden?“ fragte einer der Jungs. „Vielleicht hat Gary doch recht. Ich meine: Was ist denn das letzte, was wir von Matt wissen? Daß er zu der alten Hexe wollte. Die malt. Wenn sie ihn nun wirklich in so ein Bild gehext hat?“
„Sie hext einen nicht rein.“ Das war wieder der Junge, den sie Gary nannten. „Sie malt das Zeug nur. Es ist ihre Art, in eine andere Realität zu verschwinden, sagt sie. Ich fragte, ob ich das auch tun kann, sie sagte ja. Sie hat mir erklärt, was ich tun muß. Aber sonst macht sie gar nichts. Du machst es selber!“
„Und wie ist das dann so? Wie virtuelle Realität? Du bist dann in einem Bild, oder wie?“
„Ähm... ja... nein. Ich meine: Es ist viel besser als virtuelle Realität oder ein Computerspiel oder so. Auch besser als jeder Film. Du gehst in das Bild. Aber du gehst nicht wirklich in das Bild als solches. Das Bild ist nur... es ist bloß... Mist, wie soll ich das bloß erklären? Das Bild ist wie das Cover einer DVD. Wie... wie eine Art Internetportal. Es gibt bloß eine ungefähre Ahnung von dem, was dahinter kommt.“
„Und man ist dann da drin wie in einem Film?!“
„Viel besser, Leute. Es ist real!!“
„Du meinst, du bewegst dich in so etwas wie einer Parallelwelt?“
„Ja, genau! Genau so ist es.“
„Also, das glaub ich immer noch nicht. Gary, das hast du dir ausgedacht!“
Ein anderer fragte aber gleichzeitig: „Und was ist, wenn du dir da drin das Bein brichst, hast du dir das dann auch gebrochen, wenn du wieder da bist?“
„Ich glaube schon“, antwortete Gary zögernd. „Ich meine, es ist ja kein Double von mir, versteht ihr? Ich war ja selber an den Orten, die ich da gesehen habe.“
„Dann kann man da drin aber doch auch sterben, oder? Also, das wäre nun ja wirklich nicht mein Ding!“
„Naja... In ein wirklich gefährliches Bild sollte man vielleicht in der Tat nicht gerade gehen...“
„Gibt es nicht so etwas wie einen Notausstieg?“
„Das weiß ich nicht.“
„Was, wenn Matthew nun genau das passiert ist? Vielleicht ist er dort gestorben!“
„Ach, Quatsch! Nun hört schon mit dem Mist auf! Ihr steigert euch da bloß in Hirngespinste rein! In Bilder marschieren und dort sterben, ihr habt sie doch nicht mehr alle! So etwas ist nicht möglich! Gary, du hast zuviel Phantasie!“
Scully schmunzelte. Ganz ihre Meinung. Was halbwüchsige Jungs sich nicht so alles zusammensponnen! Das waren ja noch abstrusere Theorien als die ihres Kollegen über die Außerirdischen! Etwas anderes machte die FBI-Agentin allerdings stutzig. Die Jungen hatten beim Thema Bilder „die alte Hexe“ erwähnt. Ob sie Hilda damit meinten? Die war ja in der Tat Malerin. Und auch ihr Mann war verschwunden. Irgend ein Zusammenhang zwischen den Fällen existierte da ja möglicherweise doch, auch wenn sie das Gesamtbild des Puzzles im Moment noch nicht einmal ansatzweise sehen konnten...
Sie ging weiter und warf dabei einen flüchtigen Blick auf die Gruppe, deren Gespräch sie eben belauscht hatte. Gleichzeitig erklang der Gong, und die Schüler setzten sich alle langsam wieder in Bewegung in Richtung ihrer Klassenzimmer. Scully betrat das Schulgelände, steuerte ebenfalls auf die Eingangstür zu und machte sich dann zum Büro der Direktorin auf, die sie schon telefonisch auf ihr Anliegen vorbereitet hatte.
Die alte Dame – die immer wieder murmelte „schrecklich, daß ein Junge einfach so wegläuft, und das von unserer Schule, schrecklich, schrecklich“ – führte sie zur Klasse, die Matthew Parker besucht hatte. Schon als sie eintrat, erkannte Scully unter den Schülerinnen und Schülern die Gruppe, die sie nahe des Zauns hatte reden hören. Der Platz neben einem blonden Jungen aus der Gruppe war leer.
Sie erklärte den Kindern, daß sie vom FBI war und an allem Ungewöhnlichen oder Auffälligen interessiert war, an das sich Matthews Freunde erinnern konnten. Irgendwelche Dinge, die vielleicht kurz vor seinem Verschwinden passiert waren. Etwas, das er gesagt oder getan hatte. Jeder noch so kleine Hinweis, auch wenn er einem selber unbedeutend vorkam, konnte wichtig sein.
Die Reaktion war allerdings gleich null. Scully registrierte, wie die Gruppe vom Zaun sich vorsichtige Blicke zuwarf. Der blonde Junge öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber wieder anders und schwieg.
„Also gut“, sagte Scully. „Denkt noch mal darüber nach. Vielleicht fällt jemandem doch noch irgend etwas ein. Ich bleibe noch ungefähr eine Stunde in der Schule. Wenn einer mit mir sprechen möchte, kann er mich im Besprechungszimmer am Ende des Flurs finden. Und habt keine Angst, daß ich irgend etwas, das ihr sagt, vielleicht albern finden oder nicht ernst nehmen könnte. Es bleibt auch alles unter uns, was ihr mir erzählt. Ich meine: falls Matthew vielleicht irgend etwas angestellt haben sollte. Oder wenn ihr befürchtet, er könnte etwas angestellt haben. Solange es uns nur helfen könnte, ihn zu finden, damit ihm nichts Schlimmes passiert...“
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