World of X

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Erinnerungen

von Andrea Muche

Kapitel 3

Sie hatten sich bis zum Morgengrauen geliebt, wie im Rausch, wie zwei fast Verdurstete, die endlich auf Wasser gestoßen sind. Und in der Tat hatte sie ihn noch mit so etlichem überrascht. Angefangen damit, daß sie unter ihrem braven Agenten-Kostümchen feuerrote Strapse trug. Er hatte auch nicht gewußt, daß sie so hingebungsvoll sein konnte, so leidenschaftlich. Sie, die immer die kühle, beherrschte, distanzierte Wissenschaftlerin darstellte. Obwohl... Er selbst ließ eigentlich sonst auch nie jemanden wissen, wie es in seinem Herzen aussah. Nur bei Dana war das alles anders... Er hatte das Gefühl, sie könne ohnehin in ihm lesen wie in einem Buch.

Dana lag währenddessen in ihren weißen Krankenhauskissen, starrte aus dem Fenster und wußte nicht mehr, was sie von sich und der Welt halten sollte. Mulder... Sie erinnerte sich an rein gar nichts. Sie war hingegen völlig sicher, am Morgen in ihrer eigenen Wohnung aufgewacht zu sein. Wie immer. Allein. Auch wie immer. Sie könnte es doch wohl nicht völlig vergessen haben, wenn sie und Mulder...?! Oder doch? Eine Liebesnacht, an die er sich erinnerte und sie nicht... Was, wenn es stimmte?!
Wollte sie, daß es stimmte? Was sah sie in Mulder? Nur ihren Kollegen, Arbeitspartner? Auch einen Freund? Mehr als einen Freund?!
Sie mochte ihn. Sie arbeitete gern mit ihm. Von Anfang an hatte es sie gestört, wenn andere abfällig über ihn und seine Methoden sprachen. Spooky Mulder. Sie stritt sich zwar beileibe nicht selten mit ihm über eben diese Methoden, aber sie dienten dabei beide immer der Sache, sie argumentierten fair, behandelten sich mit Respekt, ließen sich immer auf die Argumente des anderen ein, auch wenn sie gegenteiliger Auffassung waren. „Wie in einer guten Ehe“, murmelte sie. Nur, um im selben Moment zu erschrecken. Himmel, wie konnte sie nur so etwas denken?! Ganz abgesehen davon, daß sie, wenn sie ein Paar würden, aufhören müßten, gemeinsam zu arbeiten. Die FBI-Vorschriften wollten es so, und aus gutem Grund: Wer im Einsatz nicht nur um den Kollegen, sondern um den geliebten Menschen Angst hatte, dachte nicht mehr rational. Die gemeinsame Arbeit... Wie viel bedeutete es ihr, mit Mulder zu arbeiten? Viel, beschloß sie. Sehr! viel. Es herrschte ein so tiefgehendes, grundlegendes Vertrauen zwischen ihnen... Und wieder mußte sie denken „wie in einer Ehe“. Sie begann sich zu fragen, ob sie sich tatsächlich mehr von ihm wünschte. Wie stand es eigentlich mit dem körperlichen Verlangen? Sie hatte bisher nie in dieser Weise an ihn gedacht. Dabei berührten sie sich oft; faßten sich gegenseitig am Arm, trösteten sich, lehnten sich aneinander. Selbst bei ihrem allerersten gemeinsamen Einsatz war sie ihm – noch dazu halb nackt – erleichtert um den Hals gefallen, als er ihren Rücken untersucht und festgestellt hatte, daß die Male, die sie dort gefunden hatte, nichts Außerirdisches an sich hatten, sondern schlichte Mückenstiche waren. Sein Gesicht hatte ihre Erleichterung gespiegelt, er hatte gelacht. Nicht sie aus-, sondern mit ihr gelacht, froh, daß ihr nichts fehlte, hatte sie mit seinen starken Armen umfangen und sie gestreichelt. Dennoch ! hatte sie die Szene als irgendwie asexuell empfunden. Da war e! ine gro& szlig;e, emotionale Nähe, aber kein Begehren. Damals kannte sie ihn aber allerdings auch noch kaum.
Und jetzt? Kannte sie ihn jetzt gut genug, um ihn ganz zu wollen? Oder erlaubte sie es sich selbst nicht, daran auch nur zu denken, selbst wenn sie ihn begehren sollte? Würde sie zu verwundbar, wenn sie sich ihm ganz hingab? Aber andererseits war sie sich seiner sicher: Er war vermutlich der eine, der sie nie verletzen, ihr geheimes Wissen über sie niemals mißbrauchen würde. Wenn er eines war, dann aufrichtig und loyal. Zu hundert Prozent. Und gerade häßlich war er nun ja auch nicht...
Was war letzte Nacht passiert?! Wenn sie sich nur erinnern könnte!

„Ich hab' uns was zu essen mitgenommen.“ Mit Schwung stellte Scully zwei Tüten auf Mulders Schreibtisch.
Er hatte eben ein Hängeregister zurücksortiert und drehte sich interessiert zu ihr um. „Mit Getränk und Nachspeise?“
„Yep.“
„Was ist die Nachspeise? Das Sesameis, das Sie so gern essen?“
„Nein. Und Sie meinen Tofu.“
„Bitte?“
„Das Eis, das ich öfter esse und Sie nicht ausstehen können, ist Tofueis.“
„Aber nein! Nie im Leben! Sie haben immer Sesameis gegessen.“
„Das stimmt nicht.“
„Und ob das stimmt!“
„Mulder, ich vergesse doch nicht einfach so, was mein Lieblingseis ist!“
„Ach, ist ja auch egal. Da Sie ohnehin eine Apfeltasche mitgebracht haben... Jetzt bin ich aufs Getränk gespannt. – Oh, Eistee.“
„Sie haben mal gesagt, mit Eistee könnte es Liebe werden, wissen Sie noch?“
„So etwas hab ich nie gesagt.“
„Doch, natürlich. Als ich Sie bei Ihrer Privat-Überwachung von Tooms abgelöst habe. Ich hatte Ihnen allerdings leider bloß Malzbier mitgebracht.“
„Orangensaft.“
Sie sah ihn merkwürdig von der Seite an. „Wieso haben Sie mich vorhin übrigens zu Direktor Skinner geschickt?“
„Weil er angerufen und nach Ihnen verlangt hat.“
„Mulder – das hat er nicht.“
„Doch. Aber natürlich hat er das!“
Langsam schlich sich Verzweiflung in ihren Blick. „Nein, Mulder. Er wußte jedenfalls rein gar nichts davon.“
„Sowenig wie Sie von... Naja, Sie wissen schon.“ Er sah betreten zu Boden, dann wieder seine Partnerin an. „Sie erinnern sich an wirklich nichts davon, oder?“
Sie schüttelte langsam den Kopf, strich sich dann eine Haarsträhne aus der Stirn. „Nein, leider nicht. Ich denke ständig darüber nach, aber da... ist einfach nichts. Und die Ärzte sagen, ich bin völlig gesund. – Ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß wir uns in den letzten Tagen ständig streiten, wer sich an was exakt richtig erinnert? Das war doch früher nie der Fall. Und wir können doch unmöglich jeweils beide recht haben. Mulder, irgend etwas stimmt da nicht.“
„Sie denken, wir werden manipuliert?“
„Naja... Wie ist es mit dem Mann mit der Waffe: Hatte er eine – oder nicht?“
„Nein.“
„Mulder, er hatte eine. Ich bin ganz sicher.“
Er sah sie grübelnd an. „Mhm. Vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts mehr.“
„Und wenn jemand nun genau das erreichen wollte? Daß sich einer von uns oder wir beide uns falsch erinnern, uns widersprechen, daß wir uns nicht einigen können? Dann würde doch wohl genau passieren, was unsere Gegner wollen, oder?“
„Sie haben recht. Wenn unsere Berichte nicht mehr übereinstimmen, dann können wir nicht mehr miteinander arbeiten, und dann...“
„...können die die X-Akten schließen! Mulder, ich denke, Sie waren zu nahe an etwas dran. An der Wahrheit.“
Der Agent hatte inzwischen seine Tüte geöffnet und den Eistee herausgeholt. Er drehte die Dose in seinen Händen hin und her. „Eistee.“
„Was?“
In der Kneipe hatte ich plötzlich das Gefühl, meinen Informanten zusammen mit dem Raucher gesehen zu haben. Und ich fing an, ihm zu mißtrauen. Dann war ich aber wieder sicher, daß ich mich irrte. Doch plötzlich wollte er nicht mehr reden. – Ich habe bei dem Gespräch auch Eistee getrunken. Er ist mir zwar runtergefallen, als das Glas noch halb voll war, aber...“
Die beiden Agenten warfen sich einen alarmierten Blick zu. „Und wenn er Ihnen was ins Glas getan hat? Hätte er unbemerkt die Möglichkeit dazu gehabt?“
„Ja. Zumindest hatte er auch mein Glas in der Hand.“
„Ich brauche Ihr Blut, Mulder!“
„Wußte ich's doch, die Schlange hat Sie nachhaltig beeindruckt!“
„Die Schlange? – Oh. Das hat Ihnen meine Mutter erzählt, stimmt's?“
„Ja. Na wenigstens etwas, bei dem wir uns zur Abwechslung mal wieder einig sind.“

„Ich brauche eine zweite Meinung“, sagte Scully zu der älteren, dunkelhaarigen Spezialistin im FBI-Labor, der sie die Ergebnisse von Mulders Blutuntersuchung gereicht hatte. „Was bedeutet das Ihrer Ansicht nach?“
„Hm, merkwürdig.“ Sie verglich, blätterte vor und zurück. „Der Mann hat keinen Alkohol im Blut. Auch kein Wahrheitsserum oder sonst eine bekannte Droge. Aber es ist da etwas in sein Blut gelangt, das sich so ähnlich zu verhalten scheint. Herrgott nochmal, was ist das jetzt wieder für ein verdammtes Party-Zeug?“
„Könnte es....“ Scully zögerte. „Könnte es außerirdisch sein?“
„Ebenfalls möglich. Unbekannt ist es auf alle Fälle.“

„Und?“ fragte Mulder, der auf dem Flur auf seine Partnerin gewartet hatte, bang.
Scully schüttelte leicht den Kopf. „Ich weiß nicht, Mulder. Irgend etwas ist in Ihr Blut gelangt. Wir wissen nicht, was es ist. Nur, daß es sich ähnlich wie eine Droge oder Alkohol verhält. Ich würde sagen, Ihr Kontaktmann hat Ihnen was ins Glas geschüttet.“
„Hm. Heißt das, daß es sich wieder abbaut?“
„Auf alle Fälle scheint seine Wirkung länger vorzuhalten und stärker zu sein als bei jeder anderen Droge, die wir kennen. Sonst wäre schon längst nichts mehr nachweisbar. Und wir wissen nicht, ob es vielleicht dadurch das Gehirn selbst verändert. Ganz offensichtlich verfälscht der Stoff, was immer er ist, Ihre Erinnerung. Ob er dazu im Gehirn etwas umgebaut hat, oder ob der Einfluß verschwindet, sobald sich der Stoff abbaut – falls er sich abbaut –, wissen wir nicht. Wir müssen einfach abwarten.“
Mulder seufzte. „Das alles ist schwer zu glauben, Scully. Wenn wir selbst unseren eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen können... Und sie sind so wahr, sie fühlen sich so echt an, so real. Ich bin mir so sicher, daß alles, an das ich mich erinnere, genau so passiert ist, wie ich mich daran erinnere.“
„Nun, eines kann ich Ihnen definitiv sagen: Zumindest das ist sowieso eine Illusion. Nichts ist jemals exakt so gewesen, wie man sich daran erinnert. Selbst wenn man glaubt, es wirklich ganz genau zu wissen. Denken Sie nur an die Unfallzeugen, von denen der eine schwört, ein Auto wäre grün gewesen, der andere sagt gelb, und beide sind sich völlig sicher, sich hundertprozentig korrekt zu erinnern.“
„Ja. Aber ich fühle mich wie ein seniler Demenzpatient. Als ob mir jemand mein Gedächtnis gestohlen hätte.“
Scully sah ihn mit einem unfrohen Lächeln an, Hilflosigkeit lag in ihren blauen Augen. Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte.

Es läutete dreimal, dann nahm am anderen Ende der Leitung jemand ab. „Ja, bitte?“ fragte die warme, dunkle Stimme von Scullys Mutter.
„Hi, Mom!“
„Dana! Schön, dich zu hören. Geht es dir gut?“
„Ja, Mom. Warum fragst du?“
Ihre Mutter lachte warm und herzlich. „Weil du vor allem immer dann anrufst, wenn du was auf dem Herzen hast.“
Oh Gott, dachte Dana. War sie wirklich so leicht zu durchschauen?
„Und eine Mutter merkt immer, wenn ihre Kinder etwas auf dem Herzen haben“, kam prompt die Antwort auf die gar nicht laut gestellte Frage.
„Mom... wodurch sind wir, wer wir sind?“
Ihre Mutter schwieg einen Moment überrascht. „Das ist eine sehr philosophische Frage. Jedenfalls nehme ich nicht an, daß du die Definition durch unsere Gene und Erbanlagen meinst.“
Dana mußte schmunzeln. „Nein. Eher unsere Beziehungen zueinander. Und vielleicht die Frage, wie wir uns selber im Weg stehen.“
Wieder eine kurze Pause. Dann fragte ihre Mutter: „Hast du Probleme mit Fox?“
„Nenn' ihn nicht Fox. Das kann er nicht ausstehen.“
„Also hast du Probleme mit ihm.“
„Mom! Wir haben nicht mal eine Beziehung.“
„Das habe ich auch nicht unterstellt, Kind.“ Sie schwieg erneut. „Aber ihr... Weißt du eigentlich, daß ihr euch bei weitem näher seid als die meisten Leute in einer Beziehung? Vielleicht liegt es an der Arbeit, die ihr zusammen tut, daß ihr euch aufeinander verlassen können müßt. Jedenfalls liegst du Mulder sehr am Herzen; und das weiß ich nicht erst, seit wir dachten, daß wir dich verlieren. Und er liegt dir auch am Herzen. – Ich glaube, du warst damals sehr nahe dran, zu deinem Vater zu gehen. Wenn Mulder nicht gewesen wäre, ich weiß nicht... Vielleicht hättest du's getan.“
„Mom!“ Jetzt sammelten sich Tränen in Danas Augenwinkeln, rannen ihr über die Wange. Sie mußte schlucken. „Ich... Ich bin so froh, noch hier zu sein. Bei dir. Bei meiner Familie.“
„Ja, ich weiß. Aber er hat den Ausschlag gegeben. – Letzten Endes war ja auch er es, der es einfach nicht akzeptieren konnte, daß du sterben würdest. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte er es dir schlicht verboten.“
„Gut möglich. Das klingt jedenfalls sehr nach ihm. So ist er...“ Ihre Stimme brach. Dann seufzte sie tief. „Oh, Mom...!“
„Also: Was ist mit ihm?“
Sie erzählte. Von seiner Veränderung, von seinen falschen Erinnerungen, daß er zwar einerseits er selbst war – aber andererseits eben nicht. Nur den Teil mit der angeblichen Liebesnacht ließ sie lieber aus. „Mom, was, wenn er nie wieder der wird, der er war?“
„Dana, du kennst das ,Gebet‘, in dem es heißt ,Herr, gib mir die Kraft, das zu tun, was getan werden muß, die Fähigkeit, das hinzunehmen, was ich nicht ändern kann – und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden‘, nicht wahr?“
„Ja.“
„Erinnerst du dich auch an deine alte Tante?“
„Tante Lilly?“
„Ja, Tante Lilly.“
Dana zog die Beine hoch auf die Couch und überlegte. „Ich war noch ziemlich klein, als sie starb. Aber ich erinnere mich an lustige, kleine Wollpüppchen, die sie immer in der Schürzentasche bei sich hatte. Sie holte sie raus, wenn sie mich sah, und erzählte mir lustige Geschichten mit ihnen. Ich mochte Tante Lilly sehr.“
„Du hast sie heiß und innig geliebt.“ Danas Mutter atmete tief durch. „Sie hatte Alzheimer.“
„Was?!“
„Sie war schon schwer krank, als du auf die Welt kamst. Es mußte immer jemand bei ihr sein, weil sie sonst weggelaufen wäre und nicht mehr zurückgefunden hätte. Man mußte ihr manchmal sagen, was ein Löffel ist und was man damit macht. Die Püppchen waren die Welt, in die sie sich zurückgezogen hatte. Die einzige Welt, die es für sie noch gab. Und doch warst du irgendwie mit drin. Ihr habt euch immer hervorragend verstanden. Dana, sie wußte kaum noch, wie sie hieß. Aber sie hat dich definitiv geliebt. Und für dich war das ganz selbstverständlich. Weißt du, alle Menschen verändern sich. Durch ihre Erfahrungen, durch das, was sie erleben, Gutes wie Schlechtes. Und manchmal auch durch eine schwere Krankheit. Manchmal so sehr, daß wir uns selbst kaum mehr wiedererkennen. Sicher bin ich mir aber über eines: Die Liebe stirbt nie. Jedenfalls nicht an so etwas. Für die Liebe sind das nichti! ge Äußerlichkeiten. Echte Zusammengehörigkeit wird immer da sein und im tiefsten Inneren gefühlt werden. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Mom?“
„Ja?“
„Du magst Mulder sehr, oder?“
„Ja, das tue ich.“ Sie wollte sich schon verabschieden, doch dann setzte sie noch hinzu: „Vertrau auf Gott und warte ab. – Er hat nicht verzweifelt, als dein Leben am seidenen Faden hing. Verzweifle nun du auch nicht. Gerade jetzt braucht er deine Stärke.“
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