World of X

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Erinnerungen

von Andrea Muche

Kapitel 4

Dana saß noch lange, nachdem sie aufgelegt hatte, mit angezogenen Beinen auf der Couch. Sie legte den Kopf auf die Knie und dachte nach. Die Kraft, das zu tun, was getan werden muß. Gerade jetzt brauchte er ihre Stärke. Die Worte klangen lange in Dana nach. Was konnte sie nur tun, um Fox Mulder zu helfen?
Dann setzte sie sich plötzlich mit einem Ruck auf: Warum gerade jetzt?! Der Gedanke ließ sie nicht mehr los. Sie selbst hatte zu ihm gesagt, er müsse wohl der Wahrheit zu nahe gekommen sein. Aber womit? Es mußte etwas passiert sein, wovon sie nichts wußte. Wovon er vermutlich selbst nichts mehr wußte. Hatte er etwas entdeckt? War er auf etwas gestoßen?
Scully überlegte. Was hatte er gesagt? Er habe sich im Internet mit Ufo-Freaks über Sichtungen ausgetauscht, bevor sie gekommen sei? Ob der Teil seiner Erinnerung an einen Abend, der so nie passiert war, wohl noch stimmte? Hatte er sich wirklich mit Ufo-Freaks ausgetauscht? Falls ja: War er so auf etwas gestoßen? Was den anderen – wer immer die waren – nicht verborgen geblieben war? Aber was konnte an angeblichen Ufo-Sichtungen so brisant sein? Es dachte doch schließlich jeden Tag irgendwo in den USA jemand, das Raumschiff Enterprise sei gerade in seinem Vorgarten gelandet. Hatte Mulder noch etwas ganz anderes gefunden?
Sie hob den Kopf, wischte sich die Tränen ab und beschloß, der Vermutung auf den Grund zu gehen.

Baseball. Mulder hatte die ganze Zeit davon geredet, zu diesem Spiel zu gehen. Sogar, ob sie nicht mitkommen wolle, hatte er sie gefragt. – Hoffentlich war er jedenfalls wirklich hingegangen.
Sie steckte seinen Schlüssel ins Schloß der Wohnungstür mit der Nummer 42 und ließ den Sicherheitsriegel zurückschnappen. Sie öffnete, trat ein und ließ die Tür hinter sich wieder sachte ins Schloß gleiten. Schon als sie Partner geworden waren, hatte er ihr den Zweitschlüssel für seine Wohnung anvertraut. Daß sie sich damit einmal bewußt hinter seinem Rücken Zutritt verschaffen würde, hätte sie damals allerdings selbst nicht geglaubt, wenn ihr das jemand erzählt hätte!
Nun ja, es war ja schließlich nur, um ihm zu helfen, sagte sie sich. Sie würde ihn ja nach dem fragen, was sie herauszufinden hoffte – aber wie sollte das gehen, bei all seinen durcheinandergewirbelten Erinnerungen?!
Sie ging hinüber zu seinem Schreibtisch, setzte sich vor seinen Computer und schaltete ihn ein. Als er hochgefahren war, rief sie den Internetbrowser auf. Und nun? „Versuchen wir es doch mit den letzten Seiten, die er besucht hat.“ Der Computer bot ihr die Seiten an, die er sich als jüngst benutzte Adressen gemerkt hatte. „Ladies in Strapsen?“ murmelte sie mit hochgezogenen Augenbrauen, als sie darunter die Seite eines nicht jugendfreien Angebotes entzifferte. Das konnte sie wohl getrost ignorieren. „Ein Krankenhaus, das ist schon eher interessant.“ Sie erinnerte sich an die Geschichte mit den Klonen von Mulders angeblicher Schwester. Sowohl diese als auch ihre Klon-Väter hatten alle mit Abtreibungen oder der Arbeit an Genmaterial zu tun gehabt: So hatten sie forschen können, wie sich vielleicht eine Verbindung von menschlicher und außerirdischer DNS ermöglichen ließe, deren Träger sich nicht alle gleichen würden wie ein Ei de! m anderen. Wenn Mulder nun hier auf etwas gestoßen war... Scully spürte, wie Erregung von ihr Besitz ergriff. Dieses Thema wäre sicherlich brisant genug, um eine Reaktion der Gegenseite auszulösen...!
Die dritte Seite, die sie fand, hatte mit Popmusik zu tun. Scully rief die Seite des Krankenhauses auf.
Auf der Homepage gab es einen Film, mit dem das Hospital bei jungen Frauen für den Beruf der Krankenschwester warb. Scully klickte ihn an. Ein Arzt sprach da von dem wunderbaren Gefühl, helfen zu können. Wie herrlich es sei, Anteil daran zu haben, daß heute kaum mehr eine Frau im Wochenbett sterben mußte, wie das noch vor wenigen Jahrzehnten gang und gäbe gewesen war. Und die niedlichen Babies auf der Station! Die Kamera schwenkte in die Säuglingsstation. Eine strahlende Schwester übernahm hier den Text. Im Hintergrund arbeitete noch eine weitere Frau mit Haube. „Cecilia, komm du doch auch her“, hörte man im offenbar nicht wirklich professionell hergestellten Film plötzlich eine Stimme aus dem Off. Die Frau drehte sich um, entdeckte die auf sie gerichtete Kamera, winkte ab und verschwand sofort aus dem Bild. Dennoch war Scully wie elektrisiert: Sie hatte Mulders angebliche Schwester selbst nur kurz und bei Nacht gesehen, ! und auch diese Frau hier war nur einen Moment voll im Bild – aber sie war sich plötzlich hundertprozentig sicher, einen der anderen Klone vor sich zu haben. Mulder hatte, als man ihn aus dem brennenden medizinischen Institut geborgen hatte, ja ständig von den anderen Frauen gesprochen, deren Leichen nie gefunden wurden. Er hatte daraus geschlossen, daß der Alien-Kopfjäger sie getötet hatte. Allerdings konnten genausogut eine oder mehrere entkommen sein... Und vielleicht war dies hier eine davon.
Scully notierte sich Namen und Adresse des Krankenhauses und den Namen der anderen Schwester, die in dem Film vorkam, sowie den des Arztes. So. Der Vollständigkeit halber rief sie nun auch noch die Pop-Seite auf, obgleich sie hier höchstens etwas über Mulders Musikgeschmack zu erfahren vermutete. Um so mehr staunte sie dann jedoch. Sie landete auf der Homepage einer etwas ausgeflippten Künstlerin, die zur Zeit einen der Spitzenplätze in der Hitparade belegte. Sie hatte orange gefärbte Haare, die wild gegelt in alle Richtungen von ihrem Kopf abstanden, schminkte sich die Augen wie ein Zombie, trug Lederkluft und außen über der Jacke einen Art Super-Büstenhalter aus Metall. Scully wollte das schon ebenfalls in die Rubrik „Mulders sexuelle Phantasien“ ablegen, als ihr plötzlich auffiel, wie sehr die Gesichtszüge denen der Krankenschwester glichen, wenn man sich all die schrille Aufmachung wegdachte.
„Ja, aber... das gibt's doch nicht!“ murmelte die Agentin verblüfft. Die Krankenschwester ergab ja noch Sinn. Aber eine Musikerin? Und noch dazu eine, die dermaßen im Licht der Öffentlichkeit stand?! Waren die Klone nicht alle darauf bedacht, schön unauffällig im Hintergrund zu bleiben?! „Vielleicht irre ich mich ja auch.“ Aber Mulder mußte wohl die gleiche Idee gehabt haben. Scully beschloß jedenfalls, daß sie auch dieser Spur nachgehen würde.

„Sie kommen, um sich als Krankenschwester zu bewerben?“
„Nein.“ Scully seufzte. Die junge Frau am Empfang schien nicht gerade mit übergroßen Geistesgaben gesegnet zu sein. Sie zückte ihren Ausweis und hielt ihn ihr unter die Nase. „Ich bin vom FBI und Ärztin.“
„Und Sie wollen hier arbeiten?“
„Nein, Herrgott nochmal!“ Scully wurde langsam wütend.
„Aber Sie sagten doch, es geht um den Film über die Arbeit hier in...“
„Vergessen Sie's. Sagen Sie mir doch einfach, wo ich Dr. Hopkins finde.“
„Äh... nun ja. Der ist nicht mehr bei uns. Er ist jetzt in der Klinik für Nervenleiden.“
„Er hat die Stelle gewechselt?“
„Äh, nein. Ich meine als Patient. Er ist als Patient da. Vielleicht die Arbeitsüberlastung...“
Scully beschloß, so bald wie möglich einen Patientenbesuch in der psychiatrischen Klinik zu machen. „Schön. Ist Nurse Scott da?“
War sie. Wo Cecilia geblieben war, wußte sie hingegen nicht. „Es kam vor kurzem ein sehr unhöflicher Mann ins Krankenhaus. Ich hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß er in einem Krankenhaus auf gar keinen Fall rauchen dürfe, aber das hat er einfach ignoriert. Er hat mit Cecilia gesprochen. Irgendwas lag da in der Luft. Sie war schon panisch, kaum, daß sie ihn gesehen hat.“
Der Raucher! „Hat der Mann sie bedroht?“
„Nein, ganz im Gegenteil. Es war eher, als hätte sie Angst vor Nachrichten, die er brachte. Als ob das ein Signal zum Aufbruch war. Sie sagte zu Doug – Dr. Hopkins – dann nur noch, sie müsse fort, es tue ihr leid, und sie würde nicht wiederkommen, es handle sich um einen Notfall in der Familie.“
„Also, da war Dr. Hopkins noch da?“
Die Schwester nickte. „Oh ja. Sein Zusammenbruch ereignete sich erst kurz darauf. Er hatte offenbar Halluzinationen.“

„Ich sah sie, verstehen Sie?!“ sagte Dr. Hopkins, der jetzt selbst Patient war, wenig später zu Scully. „Inzwischen ist mir auch klar, daß ich mir das eingebildet haben muß. Aber es war so... so... real.“
Die Agentin sah ihn forschend an. „Was genau ist passiert? Was glaubten Sie gesehen zu haben?“
„Naja, also... Cecilia war ja gegangen, zusammen mit dem rauchenden Mann. Ich wußte, daß sie weg war. Sie hatte ja auch gesagt, sie würde nicht zurückkommen. Nicht nur an diesem Tag nicht mehr, sondern gar nicht mehr. Ich sah noch aus dem Fenster, sah ihr nach, wie sie zu dem Kerl ins Auto stieg. Naja, und im selben Moment, also, während ich noch runter sehe und ihr nachschaue, wie sie davonfährt, geht hinter mir die Tür auf, und sie steht vor mir, lächelnd, in ihrer Schwesterntracht!“
Scully mußte an einen der anderen Klone denken. „Eine Zwillingsschwester, von der Sie nichts wußten?“ fragte sie vorsichtig.
„Nein, ganz gewiß nicht“, sagte der Arzt, und seine braunen Augen wurden auf einmal ganz dunkel und traurig. „Denn im nächsten Moment war sie auf einmal ein Mann.“
Scullys Mund wurde trocken. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Ein fremder Mann... Während man glaubte, einen Menschen, den man kannte, gerade zweimal gesehen zu haben...! Das erinnerte Scully doch wirklich sehr an etwas: Wie lange war das jetzt her, daß sie in einem Motel Mulder die Tür geöffnet hatte, während er dann gleichzeitig auf ihrem Mobiltelefon anrief?! Der Mann in ihrer Tür, der genau wie Mulder aussah, war ein außerirdischer Kopfjäger gewesen, der die Gestalt jedes beliebigen Menschen annehmen konnte. Also hatte er, um ungehindert und ohne Verdacht zu erregen in die Klinik gelangen zu können, einfach Cecilias Gestalt angenommen. Er wollte sie ganz offensichtlich töten. Aber der Raucher war schneller gewesen und hatte sie mitgenommen. – Was hatte das alles zu bedeuten?!
„Glauben Sie mir“, sagte Scully zu Dr. Hopkins, „Sie sind nicht verrückt.“
„Oder vielleicht sind Sie's ja auch“, sagte er darauf nur, und mit Betonung: „Doctor Scully.“

Was nun? Die Popsängerin? Aber warum waren die anderen einer derart in der Öffentlichkeit agierenden Person nicht schon längst auf die Schliche gekommen? Hatte das veränderte Äußere sie getäuscht? Oder war sie doch keiner der Klone und sah ihnen nur zufällig ähnlich?
Beim ersten Versuch, zu der Künstlerin am Telefon durchgestellt zu werden, wurde Scully glatt aus der Leitung geworfen.
Beim zweiten riet man ihr, doch mit Samiras Agentin zu sprechen. „Hören Sie zu!“ brüllte Scully in den Hörer. „Ich bin vom FBI. Und ich will mit ihr sprechen! Jetzt sofort!“
Sie bekam die Adresse eines Fernsehstudios, in dem Samira sich gerade für ein Interview befand. Immerhin war sie also wohl offensichtlich sowohl noch da als auch am Leben.

Genervt war sie auch. „Und was wollen Sie jetzt noch?!“ fragte sie Scully gereizt. „Steht die ganze Regierung jetzt auf einmal auf meine Musik, oder was?“
„Die Regierung?“ fragte die Agentin nach und konnte ihren Blick nicht von den als Spießchen in alle Richtungen stehenden orangefarbenen Haaren der Künstlerin abwenden.
„Ja, der rauchende Idiot, der so tat, als wolle er ein Autogramm, dabei kann er Madonna nicht von Cher unterscheiden, hat nicht die mindeste Ahnung, was Funk ist, und sagte dann schließlich bloß, er habe sich geirrt. Bei was auch immer. Der Anzug von dem sieht aus, als sei sein ganzes Leben von vorne bis hinten ein einziger Irrtum. Und der andere mit dem Bürstenschnitt, den er dabei hatte, war auch nicht viel besser. Geben Sie's zu, die waren doch von Ihrem Laden!“
„Kurze, graue Haare? Hatte er eine steile Nasenfalte?“
„Sag' ich doch, daß die von Ihrem Laden waren!“
„Wohl eher vom Pentagon.“
„Na und? Ist doch alles der gleiche Saftladen. Und dann kommt auch noch so'n stiernackiger Marine, der meinen Bodyguard niederdrischt, als wäre es ein Kinderspiel, mich irre anguckt und plötzlich sagt ,das ist sie ja gar nicht‘. Wen hat der denn erwartet? Marilyn Monroe?!“
„Und dann?“
„Ist er wieder gegangen. So. Und was wollen Sie jetzt eigentlich noch?“
Das war interessant. Wenn der Kopfjäger die Frau nicht getötet hatte, dann hieß das wohl, daß sie mit den Klonen tatsächlich nichts zu tun hatte. Er sah, daß sie keiner war. Also doch einfach nur eine äußere Ähnlichkeit. Ein Zufall. Auch der Raucher schien sie ja wohl nicht zu kennen. Aber offenbar waren sie auf die optische Täuschung alle im ersten Moment hereingefallen. Wie Mulder. Der sie wohl alle auf die Spur der Frauen gebracht hatte. Mulder, der nur endlich wissen wollte, was eigentlich mit seiner Schwester geschehen war...
Scully musterte die Künstlerin mit neu erwachtem Interesse wieder. Und was, wenn sie sie nun deswegen nicht als Klon erkannt hatten, weil sie keiner war? Was, wenn es sich hier tatsächlich um Samantha, Mulders Schwester, handelte? Wenn sie die echte war? Die irgendwie hatte entkommen können? Oder einfach zurückgebracht worden war, so wie sie selbst? Wenn sie keinen weiteren Nutzen mehr hatte, weder für den Raucher noch für die Aliens, so daß keiner sich weiter mit ihr befaßte?
„Samira“, fragte sie, „ist das ein Künstlername?“
„Ja. Aber was geht das FBI das an?“
„Wie heißen Sie wirklich?“
„Martha. Martha Wilkins.“ Nicht Samantha.
„Ist in Ihrer Jugend eigentlich irgend etwas Außergewöhnliches passiert? Hatten Sie beispielsweise einen Bruder, von dem Sie plötzlich getrennt wurden?“
„Nein, ich war ein Einzelkind. Ein außergewöhnliches Einzelkind. Ich habe nämlich geträumt, daß ich berühmt werde. Und sehen Sie mich heute an!“
„Mhm“, machte Scully. Ihre Enttäuschung war grenzenlos. Sie war es nicht. Für einen Moment hatte Scully tatsächlich gedacht, das Schicksal könnte ihr in einer Laune Mulders Schwester zeigen, nach der er nun schon so lange suchte. „Was halten Sie eigentlich von Ufos?“ fragte sie noch, als sie sich schon im Gehen ein letztes Mal umdrehte. Aber Samira lachte bloß.

„Scully, Sie hatten recht mit dem Eistee.“
„Womit?“ Die FBI-Agentin sah von den Akten auf, die sie zusammen mit Mulder sortierte. „Daß er Ihnen was reingemischt hat? Er muß es getan haben.“
„Nein, nicht dieser Eistee. Mein Eistee-Scherz im Auto. Ich erinnere mich wieder. Und Sie murmelten irgendwas von Schicksal und reichten mir das Malzbier rüber.“
Sie sah ihn aufmerksam an, ihre Lippen öffneten sich leicht. Hoffnung lag in ihrem Blick. „Ja, das stimmt.“
„Und ich erinnere mich jetzt auch an die Waffe. Sie hatten recht. Er hat auf mich gezielt.“
„Dann bedeutet das, daß die Wirkung nachläßt. Und Ihre echten Erinnerungen kommen zurück, während die falschen verschwinden. Das ist gut. Ich hatte schon befürchtet...“ Sie biß sich auf die Lippen.
Er nickte kurz. „Ja. Ich auch. Und vielleicht hätte es wirklich mein Gehirn angegriffen, wenn ich... Scully, als ich das Glas hinuntergestoßen hatte, war es noch halb voll. Und ich hatte davon auch schon getrunken, bevor der Typ reingekommen ist. Und danach kaum etwas. Alles in allem glaube ich, auf keinen Fall die volle Dosis erwischt zu haben. Der Kerl wollte mir einen neuen Eistee holen. Und ist abgehauen, als ich ablehnte.“
„Das heißt, daß er wußte, daß es nicht richtig wirken würde. Daß er Sie nicht so manipulieren könnte, wie er gerne wollte. Vielleicht ahnte er in dem Moment auch, daß sie sich an ihn erinnern und mißtrauisch werden.“
Mulder nickte. „Also war das alles einfach nur eine weitere Falle.“
„Wie gesagt: Wir scheinen jemandem gewaltig auf die Nerven zu gehen.“ Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm sagen sollte, daß sie sich heimlich Zugang zu seinem Computer verschafft und was sie herausgefunden hatte. – Wenn sie Samantha gefunden hätte, ja, dann...! Aber so? Und seine Erinnerung kam zurück. Dann würde er sich auch an die Seiten im Internet erinnern. Und am Ende selbst erkennen, daß die Künstlerin die falsche war. Oder sie auch gar nicht erst aufsuchen, es war egal. Und die Frau aus dem Krankenhaus war ohnehin fort. Scully schwieg.
Er sah sie auf einmal mit seinem Hundeblick an. „Schade nur, daß...“ Das Bedauern in seiner Stimme war überdeutlich.
„Daß was?“
„Daß auch wir nie passiert sind. Unsere Nacht. Die Erinnerungen waren so... echt.“
Scully wandte den Blick ab. „Aber was immer in Ihrer Erinnerung da passiert ist, Mulder, es war trotzdem nicht real.“
„Ich weiß. Die falsche Erinnerung verblaßt jetzt auch. So wie ein Traum, sobald man am Morgen aufwacht und erkennt, daß es nichts als ein Traum war. Trotzdem: Um den Teil ist es irgendwie schade. Ich meine, es war so schön, Sie so vertraut bei mir zu haben, Ihnen so nahe zu sein. – Und Sie sahen heiß aus in Ihren Strapsen.“
Sie sah ihn wieder an. „Mulder, ich besitze keine Strapse.“ Dann mußte sie an die Internet-Adresse auf seinem Bildschirm denken und wurde rot. Kurz wandte sie den Blick ab. Dann hatte sie sich wieder gefangen. Ihre Augen blickten ihn tröstend an, und er fühlte sich ihr fast so nahe wie in der Nacht in seiner falschen Erinnerung. „Es war nur ein Traum“, wiederholte sie.
„Ja.“ Er seufzte. „Nichts davon ist wahr.“
„Nicht ganz“, korrigierte sie und legte ihm die Hand auf den Arm. „Sie sind mir nahe. Als Kollege, als Freund. Sie sind ein Freund, auf den man sich immer verlassen kann, und ich mag Sie sehr. Ich schätze Sie als Kollegen überaus, und ich arbeite gerne mit Ihnen, ich mag es, mit Ihnen gemeinsam auf der Jagd zu sein nach der Wahrheit da draußen. Mulder, den Teil haben Sie nicht nur geträumt. Sie wissen mehr von mir als sonst jemand. Sie stehen mir tatsächlich am nächsten, und ich fühle mich in Ihrer Gegenwart immer wohl.“
Er legte den linken Arm um ihre Schultern, zog sie näher zu sich. Sie sah zu ihm hoch, legte dann den Kopf an seine Brust. Er hielt sie nun auch mit dem rechten Arm locker umfangen und beugte den Kopf zu ihr herab. „Danke“, sagte er und hauchte sacht einen Kuß auf ihr Haar.

Epilog

Samira dankte Gott für die Gabe, die er ihr geschenkt hatte. Sie sah nicht so aus, aber sie war tief religiös. Und obendrein... Die seltsamen Fragen der Agentin hatten in der Künstlerin wieder Erinnerungen wachgerufen, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte. Ob etwas Außergewöhnliches passiert sei... Ihre ganze Karriere war außergewöhnlich. Es war, wie sie es der Agentin gesagt hatte: Sie hatte plötzlich ihre Berühmtheit geträumt. Sie war ungefähr acht Jahre alt, da sah sie eines Nachts plötzlich ein gleißend helles Licht. Sie fühlte sich davon emporgehoben und fortgetragen, und wußte plötzlich, daß sie auf diesem Licht schweben würde, immer und immer wieder, und die Menschen würden ihr zujubeln, die Musik würde in ihr sein, und sie selbst ein Teil des Lichts und all das wiederum verschmolzen mit all den Menschen jenseits des Lichts. Und genauso war es! . Bei jedem einzelnen ihrer Konzerte. Die Bühne lag in gleißendem Licht, sie fühlte sich wie davon hinausgetragen, jenseits der hellen Scheinwerfer lag tiefste Schwärze, und doch waren sie da, ihr Publikum, all diese Menschen, es war, als könne sie sie atmen hören, gemeinschaftlich, ein und aus, ein und aus, und dann öffnete sie den Mund und begann mit ihren Liedern all ihre gemeinsamen Gedanken auszudrücken, immer getragen von all dem wunderbaren Licht um sie. Sie hatte immer gewußt, daß es so sein würde. Seit damals, seit Gott selbst es ihr so offenbart hatte. Und dabei – und das war das eigentliche Wunder – hatte sie bis dahin genaugenommen überhaupt nicht singen können. Immer, wenn sie es versucht hatte, hatte ihr Bruder nur über sie gelacht... Bruder? Ach, Quatsch! Nun hatte diese Agentin sie auch noch durcheinandergebracht. Ihr Cousin natürlich, der Neffe ihrer Adoptiveltern. Er hatte sie ve! rspottet. Daran erinnerte sie sich ganz genau. Die Eltern hatt! en ihr a uch gesagt, daß sie sich da nur etwas einbilde. Aber sie hatte ihnen nicht geglaubt. Sie hatte immer gesagt, sie würde sich Samantha nennen und wäre ein Popstar. Nun gut, Samantha war ihr später genauso altbacken erschienen wie Martha, und so wurde Samira daraus, aber sie stand auf der Bühne, sie sang, und sie war berühmt. Was wollte sie mehr?!
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