World of X

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Hell is a place on earth

von Astarte

Kapitel 3

Anstalt für schwererziehbare Jugendliche

Detroit, Michigan





„Der Schmerz wird vergehen.“



Die erste Regel des Teufels wurde gerade gebrochen, wunderte sich Jordan, und trotzdem drehte sich die Welt weiter. Kein Blitz strafte den Frevler. Skeptisch registrierte er diese Tatsache. Vielleicht überschätzte er ihn wirklich, überhöhte die Ängste der Nacht zu einem Bild der Unverwundbarkeit dieser Bestie, deren Präsenz ihm stets bewusst war.



Langsam drehte er sich zu Paul um, der in auf dem Gefängnishof angesprochen hatte. „Bist du dir sicher?“



Nachdenklich blickte Paul in den azurblauen Winterhimmel, kleine Atemwolken bildend, die sich in der Kälte des Februarmorgens kristallisierten, nach Worten suchend, die den Schmerz lindern konnten, der sie beide verband.



„Ja, er muss vergehen. Du wirst diese Last hinter dir lassen, wenn du wieder in die Freiheit kommst, du musst es. Ansonsten bist du innerlich tot, bevor du überhaupt zu leben begonnen hast. Und dann hat er gewonnen.“ Er klang im Moment nicht wie ein vierzehnjähriger Junge, sondern nur wie ein sehr alter Mann.



Nach einer Weile Schweigen wurde es von Jordan gebrochen, „Wie lange bist du schon hier?“



„Ein Jahr, drei Monate, zwölf Tage.“ Ein schiefes Grinsen folgte. „Über drei Viertel habe ich hinter mir, nur noch achtundneunzig Tage und die werde ich ebenfalls überleben.“ Helle Hoffnung zeichnete sich in Pauls braunen Augen ab.



„Seit wann...?“



Paul schüttelte schnell den Kopf. „Zu lange, auf jeden Fall. Du hast neun Monate gekriegt? Dann wird es bei dir kürzer sein und einen Vorteil hat das Ganze, er wird irgendwann das Interesse verlieren, außer du verärgerst ihn. Dann greift er wieder auf dich zurück.“



„So wie nach der Kantine, oder?“ Ein zustimmendes Nicken folgte nach kurzem Zögern auf seine Frage. „Hast du versucht mit jemanden darüber zu reden?“



Pauls höhnisches Lachen kam unerwartet. „Bist du verrückt? Nein, wer sollte mir glauben? Einem Jugendlichen, der anderthalb Jahre für schwere Körperverletzung in mehreren Fällen gekriegt hat. Ich bin nicht gerade das, was man einen glaubwürdigen Zeugen nennt. Außerdem schert es die Leitung hier reichlich wenig, was wir ertragen, solange es nicht zu einem Skandal kommt. Ich werde mein Schweigen jedenfalls nicht brechen. Ich habe keine Lust, dass mir das Leben hier noch schwerer gemacht wird von den anderen Wachen, als es ohnehin tagtäglich geschieht. Ich lasse das Alles hinter mir, sobald ich draußen bin, werde es vergessen. Und keiner wird je wissen, dass es passiert ist, außer mir und ich werde es auch irgendwann vergessen.“ Der kleine Anflug von Hoffnung in Pauls Stimme, wurde von der Gewissheit des Selbstbetruges übertönt.



Diese Hölle würde niemand je vergessen.



„Wenn du daran glaubst, Paul.“











Gefängnis-Archiv

Detroit, Michigan

Montag, 12. Februar 2000, 18:42 Uhr





„Treffer und versenkt“, triumphierend lächelnd hielt Scully Mulder die Akte unter die Nase, nachdem er von seinem Gerichtsbesuch zurückkam. „Die gute Nachricht ist die, er wurde 1987 in Texas festgenommen. Die schlechte, sein Todesurteil wurde im Mai 1995 vollstreckt. Wir müssen es also irgendwie schaffen, dieses Verbrechen auf die Liste seiner Straftaten zu bringen, was in Anbetracht seiner Schuld und der Länge seines Strafregisters zu bewerkstelligen sein müsste, mit den entsprechenden Beweisen und Querverbindungen.“



„Hey, gute Arbeit, Scully, und ich habe auch eine gute Nachricht, die Exhumierung wurde vom Richter auf morgen früh anberaumt. Du kannst mit der Autopsie dann gegen 9:00 Uhr loslegen, ob das für dich ebenfalls positive Neuigkeiten sind, weiß ich nicht“, grinste er sie frech an, dann wurde er wieder ernst. „Okay, was macht dich so sicher, dass du unseren Mann gefunden hast?“



„Erstens wurde er wegen siebenfachen Kindesmords mit vorangegangenem sexuellem Missbrauch verurteilt. Zweitens konnte ihm die Staatsanwaltschaft nur diese Verbrechen eindeutig nachweisen, sie schloss des weiteren nicht aus - Nein, sie ging sogar davon aus, dass es noch einige weitere unbekannte Opfer gibt, weil diese Bestie von 1982 bis 1985 quer durchs Land gezogen ist. Seine Spuren lassen sich aber nur sehr schwer nachvollziehen. Und drittens, das ist für unseren Fall entscheidend, Gabriel Smith war hier Wärter von Januar 1976 bis Mitte Februar 1979. Die Leitung der Erziehungsanstalt kündigte ihm, aufgrund hier nicht näher beschriebener Vorfälle fristlos. Außerdem war er in der Nacht vom 13. Februar auf den 14. der zuständige Nachtwächter des Zellentraktes. Folglich hatte er die Gelegenheit, den Zugang und den für diese Taten notwendigen Trieb, den er nach den Photos von Jordan auch nachgegangen ist.“ Scully hielt nachdenklich in ihrem Monolog inne, dann holte sie die Photos von einem angegriffenen Wächter aus der Mappe. „Sieh dir die Photos noch mal genau an, achte auf die Hämatome, was fällt dir im Vergleich zu denen von Jordan auf?“



„Identisch“, stimmte Mulder ihr nach einem eingehenden Blick knapp zu.



„Sicher ist dieser Hinweis vor Gericht nicht haltbar, aber es ist wirklich eindeutig. Wenn ich nun noch die entsprechenden Beweise an der Leiche finden würde, wäre der Fall zu hundert Prozent abgeschlossen. Gabriel Smith würde offiziell noch eine weitere Tat auf seinem Gewissen haben und Jordan könnte in endlich in Frieden ruhen.“



„Scully, fällt dir eigentlich auf, dass du das Opfer ständig mit dem Vornamen ansprichst?“, fragte Mulder vorsichtig.



„Nein, mache ich das wirklich?“, verblüfft hob Scully eine Augenbraue.



„Ich will nicht, dass du dich da zu sehr reinhängst, okay? Es ist schwer bei so einem gravierenden Fall von Kindesmisshandlung die Ermittlerrolle beizubehalten, aber es geht nicht anders. Lass bitte nicht zu, dass es dir zu nahe geht. Du kanntest den Jungen nicht und auch wenn es unermesslich grausam erscheint, was ihm zugestoßen ist, so sind wir nur hier, um zu erfahren, wer ihm das angetan hat. Nicht um uns selber emotional zu involvieren.“



Er hatte diesen beschwörenden Unterton, bei dem sie stets zwischen einem ‚Mulder, es geht mir gut!‘ oder einem ‚Mulder, halt die Klappe und kümmere dich um deinen eigenen Kram!‘ schwankte. Scully entschied sich für die diplomatische Variante. Ihr war es aus irgendeinem Grund tatsächlich zuwider, das Opfer Junge zu nennen, aber was war dabei, wenn sie ihn Jordan nannte?



„Sollte das nicht mein Spruch für dich sein, Mulder? Schließlich bist du derjenige, der gerne zur Personalisierung eines Falles neigt?“ Als er zu einer Entgegnung ansetzen wollte, schnitt Scully ihm das Wort ab. „Es ist ja auch egal, da ich dabei nie an deiner Integrität gezweifelt habe. Du solltest mein Verhalten jetzt nicht überbewerten, was ist den daran schlimm, wenn ich das Opfer mit seinem Vornamen bezeichne? Wie du richtig festgestellt hat, kannte ich ihn nicht und ich bin nur an der restlosen Klärung seines Todes interessiert.“



Scully sah ihren Partner aufmerksam an.



„Ich habe nur eine Vermutung geäußert, wenn ich falsch liegen, ist es okay“, wendete der vorsichtig ein. „Der Tatverlauf spricht also für diesen Gabriel Smith?“ Sie nickte ihm zu. „Dann hat es hier seinen Anfang genommen, wie ich vermutet habe. Ich will gar nicht wissen, wie viele Kinder unter diesem Sadisten leiden mussten, bevor sein Trieb eskalierte und ihn die Erziehungsanstalt endlich raus warf. Warum sie ihn allerdings nicht direkt an die Staatsanwaltschaft auslieferten, ist mir schleierhaft.“



Mulder starrte die Photos noch einmal genauer an, „Er konnte seine Machtphantasien ausleben und spezialisieren. Wahrscheinlich hat er eine Menge Anregungen aus diesen drei Jahren mitgenommen, dieser Schweinehund, und dabei seine Vorgehensweise und das Schema an dem er sich orientierte mitgenommen. Zumindest haben wir eine gute Argumentationsgrundlage vor der Staatsanwaltschaft diesen Fall zu berücksichtigen und ihn in seine Akte aufzunehmen, die Indizien sprechen zu unseren Gunsten“, endete Mulder zuversichtlich.



„Ich würde sagen, für den einen Tag, den wir hier sind, haben wir ein annehmbares Ergebnis erzielt. Sollen wir ins Motel gehen? Bevor die Autopsie morgen früh beginnt, erwarte ich sowieso keine großen Erkenntnisse mehr und außerdem will ich dem Mief, der hier unten herrscht entkommen.“



„Du hast recht, lass uns von hier verschwinden“, stimmte er ihr schnell zu.











Anstalt für schwererziehbare Jugendliche

Detroit, Michigan





Der Plan hatte langsam begonnen in seinem Kopf zu reifen.



Ununterbrochen dachte er darüber nach, es ließ ihn nicht mehr los. Wenn er Paul überzeugen konnte, mit ihm gemeinsam gegen den Teufel vorzugehen, dann hätten sie eine realistische Chance. Vielleicht würden noch andere Opfer bereit sein gegen ihn auszusagen. Die Anstaltsleitung würde einfach darauf reagieren müssen, sie konnten nicht die Augen verschließen und das Offensichtliche dann noch ignorieren.



Er konnte diese Hölle nicht weitere acht Monate und dreizehn Tage ertragen. Dafür war er nicht stark genug. Vor allem wenn er an die anderen dachte, diejenigen die vor ihm gewesen waren und nach ihm kommen würden. Sie schienen eine unendliche Reihe von Jungs zu ergeben, die nachts durch seine Zelle marschierte und ihn mit vorwurfsvollen Augen ansahen, weil er nichts für ihre Rettung unternommen oder es zumindest versucht hatte, um sie zu rächen.



Er war immer noch das Lieblingsspielzeug des Teufels. Der einzige Trost, der darin lag, war der, dass in der Zeit niemand anderer Opfer wurde. Dieser Gedanke milderte seine Qual, gab ihm Halt, gestattete ihm, dass er wieder Eintritt in seine eigene Welt bekam, in der der Teufel keine Macht besaß.



Stumm, ohne Reaktion nahm er die Leiden hin und provozierte damit dessen Zorn, vergrub sich in seinem Innern. Das Geschehen um sich herum ausblendend, betäubt dessen Kreativität erduldend.



Die Zeit der Vergeltung würde kommen. Musste.











Südliche Zentrale Leichenhalle

Detroit, Michigan

Dienstag, 13. Februar 2000, 9:07 Uhr





„Wir suchen die Überreste von Jordan Rothschild, er wurde heute Morgen exhumiert. In welchem Saal finden wir die Knochen?“, wandte Mulder sich an die Empfangsdame.



„Sie meinen den Sarg?“, gab die Frau ruhig zurück, nachdem sie die Daten eingegeben hatte und während sie auf ihren Bildschirm starrte. „Der befindet sich im Raum 2.03, Sie nehmen den Fahrstuhl ins zweite Untergeschoß. Dann rechts den Gang entlang, bis zu dessen Ende, dann links und sie beide stehen direkt davor."



Mulder und Scully tauschten einen überraschten Blick aus, als sich schließlich die Fahrstuhltür hinter ihnen schloss, kam es fragend von Mulder „Der Sarg?“



„Sie hat sich bestimmt geirrt oder meint tatsächlich den Transportsarg. Immerhin ist er seit über zwanzig Jahren begraben, da wird von dem Originalsarg nichts mehr übrig sein, vor allem nicht für den Transport der Leiche“, führte Scully aus.



Doch Scully sollte sich irren. „Ist das auch wirklich die richtige Exhumierung? Jordan Rothschild?“, wollte sie von einem der beiden Angestellten wissen, der Ältere nickte zustimmend.



„Ja, laut Friedhoflageplan und Grabstein ist dies der Junge, den sie wollten. Obwohl Särge im Normalfall nach der Zeit bei uns anders aussehen“, grinste er sie an. „Ich war bei der Exhumierung dabei“, betonte er dann wieder ernst, nachdem er Scullys irritierten Gesichtsausdruck wahrgenommen hatte.



Der Originalsarg von Jordan Rothschild wurde jetzt von ihnen geöffnet, nachdem die beiden Agents der Exekutive in der Leichenhalle anwesend waren. Es war eine billige Sperrholz-Version mit einem Eichenimitat als Verkleidung und Griffen aus Nickel, der die lange Zeit wirklich unglaublich gut überstanden hatte. Die Angestellten waren dabei, die letzten Nägel zu entfernen und hoben dann gemeinsam den Deckel.



„Er hat auf uns gewartet“, leise sprach Scully spontan den ersten Gedanken aus, der ihr in den Sinn kam, nachdem sie einen Blick auf die Leiche von Jordan Rothschild in dem Sarg geworfen hatte.



Mulder brachte ein Nicken zustande und schloss sich ihrer Feststellung an. „Das hat er wirklich.“



Die beiden Angestellten erwachten aus ihrer Starre und besannen sich auf ihre Aufgabe, sie hoben ihn bedächtig auf einem Brett aus dem Sarg und legten die Leiche des Jungen vorsichtig auf den Autopsietisch. Seine Haut lag wie Pergament über seinen Knochen und dennoch waren seine Gesichtszüge sehr gut erkennbar, sogar die Haare hielten noch am Schädel und die Verfärbungen und Gesichtswunden, die schon auf den Photos zu sehen gewesen waren, hatten ebenfalls die Zeit überlebt, wenn auch durch die dunkle bräunliche Hautfärbung abgeschwächt.



„Jordan ist perfekt mumifiziert, Mulder, besser hätte es kein Einbalsamierer hinbekommen. Wie ist das möglich? In diesem feuchten Klima, bei diesem billigen Sarg, ohne spezielle Vorkehrungen, die getroffen wurden? Der Sarg und die gesamte Leiche müsste schon lange verwest sein, skelettiert. Er jedoch erinnert mich fast an ein Plastinat, weniger an eine ausgetrocknete Mumie, schau dir nur die gut erhaltene Haut an. Wie kam die Feuchtigkeit aus dem Sarg und warum drang sie nicht ein?“, fassungslos betrachtete Scully die Leiche von Jordan.



Mulder fiel auch keine passende Erklärung ein und so hielt er sich, an die für ihn am logischsten klingende. „Wie du gesagt hast, er hat auf seine Erlösung gewartet.“











Anstalt für schwererziehbare Jugendliche

Detroit, Michigan





„Warum denn nicht? Wenn wir zu zweit aussagen, müssen sie uns glauben.“ Ihm gefiel selbst nicht der unüberhörbare Unterton der Verzweiflung in seiner Stimme, aber er konnte nichts dagegen unternehmen. Er sah gerade seine Chance auf Rettung sich in Luft auflösen, während er auf Paul einredete und dieser nur abwehrend den Kopf schüttelte.



„Ich werde niemanden davon erzählen, selbst wenn ich es schaffen würde, eine zusammenhängende Aussage zustande zu bringen, will ich noch etwas aus meinem Leben machen und nicht ewig daran erinnert werden. Ich will nicht, dass irgendjemand davon erfährt, weder meine Mutter, noch meine Geschwister. Es geht sie nichts an. Ich schließe dieses Kapitel hinter mir ab, sobald ich draußen bin. Kapierst du das nicht?“, beschwörend fuhr Paul fort, „Du solltest es genauso handhaben, Jordan. Du kannst den Teufel nicht besiegen, sieh das doch ein.“ Er klang nun wieder resigniert, eingeschüchtert durch einen Gegner, dessen Gegenwart sogar ohne körperliche Präsenz noch zu spüren war.



„Was ist mit den anderen? Diejenigen die noch folgen werden? Vergisst du die auch einfach so oder wirst du nächtelang wach liegen und dich fragen, wie vielen der Teufel dasselbe angetan hat wie dir? Wie viele deine Geschichte mit dir teilen werden, weil du zu feige warst, was zu unternehmen?“ Jordan wurde wütend, sich seiner eigenen Wehrlosigkeit bewusst und angesichts der Feigheit seines Gegenübers und dessen passive Duldung der erlittenen Grausamkeiten.



„Ich kann nicht, wirklich nicht. Bitte lass mich da raus, ich werde dir nicht helfen.“



„Verdammt, Paul!“ Er schlug auf das Bücherregal neben ihm ein, so stark, das ein paar Exemplare davon auf den Boden flogen. Während er sie aufhob, flüchtete Paul aus der Bibliothek, ohne ihm die Chance auf weitere Überzeugungsmanöver zu geben.



Er war gescheitert, bevor er überhaupt in Reichweite der Möglichkeit von Rache gekommen war. Seine Argumentation war auf taube Ohren gestoßen und wenn nicht einmal Paul bereit war, eine Aussage zu machen, dann war es niemand. Er war einer der Anführer hier im Knast, tagsüber, wenn die Verhältnisse normal erschienen. Sie in Klassen unterrichtet wurden oder auf den Gefängnishof Basketball oder Football spielten. Wenn sie sich selbst in der Sicherheit des Tages wähnten, die so zerbrechlich war wie ein Schmetterlingsflügel.



Die Niederlage schmeckte bitter und endgültig. Besiegelt.











Innenstadt

Detroit, Michigan

Dienstag, 13. Februar 2000, 14:39 Uhr





Mulder wollte sich mit ihr in der Innenstadt treffen, nachdem er weitere Informationen im Gefängnis-Archiv ausfindig gemacht hatte. Worum es genau ging, sagte er am Telefon nicht und so war sie mit dem Taxi zum vereinbarten Treffpunkt unterwegs. Sie überquerte gerade den Michigan, der Fluss war genauso verdreckt, wie der Hudson River in New York, fiel ihr geistesabwesend auf. Es war seltsam, wie sehr sich amerikanische Großstädte in ihrem Aufbau ähnelten.



Scully dachte über den Verlauf des Vormittags nach, Jordans Leiche hatte ihr die Geschichte seines Todes erzählt. Dank seines hervorragenden Zustandes viel ausführlicher, als sie erwartet hatte. Der natürliche Tod kündigte sich langsam an, das Versagen von Körperteilen war vorauszusehen, man konnte als Pathologe die Verschleißerscheinungen an den Organen oder die Erkrankung einzelner feststellen. Der Tod erzählte immer seine Geschichte. Diese konnte durch Messdaten und genaue Analyse rekonstruiert werden, das war ihre Aufgabe als Gerichtsmedizinerin, die Fakten zu sammeln und daraus die dünne Linie zwischen Leben und Tod zu ziehen, für die sie in ihrer Ausbildung sensibilisiert worden war.



Jordan starb nicht durch Selbstmord. Diese Beweise würde sie der Staatsanwaltschaft zukommen lassen. Sie war keine Richterin, sondern eine Ermittlerin von Fakten und Tatsachen, obwohl es bei diesem Fall schwer war, diese Rolle beizubehalten und nicht zur Sprecherin der Toten zu werden. Jordans Leiche schrie nach Gerechtigkeit. Diesen Schrei hatte sie für das Gericht aufgezeichnet, dass ein Laie ihn verstehen würde.



Er wurde aus dem Leben gerissen, durch eine grausame Bestie, deren Handeln keine Krankheit, kein Trieb entschuldigen konnte. Mit Vorsatz und Berechnung solange gequält bis er an der äußersten Grenze war, was ein Mensch ertragen konnte, doch als er immer noch nicht aufgeben wollte, immer noch zum Kämpfen bereit war, wurde ihm der letzte Lebenswille herausgepresst.



Strangulation. Aber nicht selbst herbeigeführt, sondern durch einen anderen Menschen verursacht. Kein Suizid, obwohl sie es verstanden hätte, nachdem sie die Wunden begutachtet hatte. Er war sexuell missbraucht worden, auch das erzählten ihr die Fakten an der Leiche. Aber das waren noch die kleinsten Wunden gewesen, der Rest hatte ihre Beherrschung strapaziert. Nur ihre Erfahrung als Pathologin hatten sie die Routine durchführen lassen, die bei diesem Jungen keine sein konnte. Wunden, die am Abheilen waren und noch viel mehr, die nicht die Chance dazu gehabt hatten. Frakturen, wie sie vermutet hatte und obwohl von den inneren Organen nicht mehr viel zu sehen war, ließen die Traumata am Thorax darauf schließen, dass er seine letzte Nacht nicht überlebt hätte, selbst mit der sofortigen medizinischen Betreuung.



Sie schluckte hart und versuchte an etwas anderes zu denken.



Gabriel Smith. Sie hatte das Photo in der Verbrecherkartei gesehen. Dieser Mann mit dem unauffälligen Durchschnittsgesicht hatten die Grenzen ihrer eigenen Welt ebenfalls neu gesteckt. Diese Brutalität und Unmenschlichkeit hatte sie bis dato noch nie gesehen. Dabei sah er so harmlos aus, wie er auf den Aufnahmen in die Kamera schaute. Sie hätte ihm auf der Strasse keinen zweiten Blick geschenkt und dennoch war er es, der Jordan mit einer Beharrlichkeit folterte, die ihr unbegreiflich war, nicht vorstellbar. Monster. Bestie. Dämon. Teufel. Diese Bezeichnungen passten zu ihm, nicht Mensch. Nicht einmal ein Tier wäre zu dieser Grausamkeit fähig, zu diesem Vorsatz und dieser Berechnung.



„Bagley Street 128, Ma’ame“, riss der Taxifahrer Scully aus ihren Gedanken, sie bezahlte ihn und stieg aus. Mulder kam ihr schon entgegen.



„Hi und wie geht es dir?“, Mulders Arm auf ihrem Rücken gab ihr das Gefühl von Sicherheit, während er sie auf einen Eingang eines Bürokomplexes zulenkte.



„Miserabel“, antwortete sie matt, den Halt annehmend, den er ihr bot. Sie spürte sein Nicken mehr, als dass sie es sah. „Okay, warum sind wir hier?“



„Also ich habe im Archiv weiter gesucht und nach dem Grund von Gabriel Smiths fristloser Kündigung gesucht. Zwar war keine Aussage ausfindig zu machen, aber zumindest ein Name wurde erwähnt. Paul Todham und deshalb sind wir hier. Er betreibt eine äußerst erfolgreiche Anwaltskanzlei mit Schwerpunkt Jugendrecht. Vielleicht erfahren wir hier weitere Einzelheiten über Jordan Rothschild und Gabriel Smith. Ich habe bei ihm einen Termin um 15:00 Uhr. Aber ich habe seiner Sekretärin keinen genauen Grund für unser Kommen angegeben, nur dass es eine dringende FBI-Angelegenheit sei. Jetzt sind wir dank dir sogar pünktlich.“ Er lächelte sie aufmunternd an. „Und hast du Beweise an der Leiche finden können?“



„Ja. Dank des guten Zustandes sogar ausgesprochen überzeugende, die schon alleine ohne weitere Aussagen, die Staatsanwaltschaft überzeugen könnten. Ich habe die Spuren mit denen an den anderen Leichen fotografisch abgleichen können und das Schema ist extrem ähnlich. Auch wenn Smith bei Jordan noch langsamer vorging, als bei den späteren Opfern.“ Sie lehnte sich gegen die Fahrstuhlwand, in dem sie alleine waren. „Obwohl das für den ersten Mord eher ungewöhnlich ist, oder?“



„Eigentlich ja, aber in diesem Fall herrschte auch ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis, welches ihm den Zugriff auf das Opfer sicherte. Wenn man diesen Aspekt berücksichtigt, ist es für die Staatsanwaltschaft durchaus nachvollziehbar.“



Mulder wurde sich wieder bewusst, warum er damals als Profiler in der Abteilung Gewaltverbrechen aufgehört hatte. Nicht nur wegen dem besonderen Reiz der X-Akten, sondern ebenfalls weil er nie wieder Einblick in solche Köpfe haben wollte.
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