World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Hell is a place on earth

von Astarte

Kapitel 2

Gefängnis-Archiv

Detroit, Michigan

Montag, 12. Februar 2000, 15:13 Uhr





Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hatte es tatsächlich immer wieder Übergriffe auf Wärter im Reagan-Gefängnis gegeben. Die Angriffe verteilten sich jedes Jahr auf zwei Tage, davor und danach kehrte wieder Ruhe für ein weiteres Jahr ein. Und dieses Jahr wollte Mulder anscheinend dabei sein und er hatte Glück, es hatte vor zwei Woche mit dem üblichen Phänomen begonnen.



Nach einem Blick auf drei Fotos der Wärter, schluckte sie, dieselben Wunden bei jedem der Männer, ungläubig blätterte sie sich durch zwanzig Jahre und den Aktenschrank. Tatsächlich, die Wunden stimmten auf jedem Foto überein, das konnte unmöglich wahr sein. Die internen Untersuchungen, die anfangs noch stattgefunden hatte, waren mit den Jahren lediglich zu einer Bestandsaufnahme geworden, bei der nicht weiter ermittelt wurde. Die Anzeige der Wache war deshalb wohl als Ausnahme oder gegebenenfalls als Ausrutscher zu sehen, weil das interne Abfangnetz der Informationen durch einen Austausch der Gefängnisleitung in dem Jahr 1998 versagt hatte.



„Hast du dir die Fotos schon angesehen?“ Sie räusperte sich, ihre Stimme hatte sich unabsichtlich in ein Flüstern verwandelt.



„Nein, so weit war ich nicht. Ich kämpfe mich noch durch die Berichte über die sich bewegenden Gegenstände“, kam es vom anderen Ende des Raumes.



„Dann komm mal rüber, das hier ist unglaublich.“ Als Mulder bei ihr angekommen war, breitete sie die Fotos der Gesichtsaufnahmen auf dem Tisch aus. „Siehst du diese Hämatome? Was fällt dir auf?“



„Sie sind überall identisch.“



„Mulder, das kann unmöglich ein Mensch getan habe.“ Als sie seinen überraschten Ausdruck sah, fuhr sie in ihren Ausführungen fort. „Nehmen wir als Beispiel den Riss über dem linken Auge, er ist überall gleich, aber das kann nicht sein. Jeder Mensch hat eine andere Abwehrreaktion, eine andere Gesichtsform, eine andere Haut, so dass die Wunden immer leicht bis extrem unterschiedlich ausfallen. Außerdem muss der Täter den Schlag jedes Mal so auf sein Opfer abgestimmt haben, dass er genau dieselbe Wunde zufügt. Aber bei der Schlagkraft, die hinter dieser Wunde steckt, kann er den Schlag nicht so sauber dosieren, das ist schlichtweg unmöglich. Vor allem wenn man die Anzahl der Wunden bedenkt, die aber wirklich alle bis ins letzte Detail identisch sind.“



„Was willst du damit sagen, Scully?“ Er wollte es tatsächlich von ihr hören, aber sie konnte es ihm nicht verdenken, nach all den Jahren war er in letzter Zeit dabei Boden gutzumachen.



„Das hier etwas vor sich geht und das kein Mensch dabei seine Finger im Spiel hat.“ Nein, sie würde es nicht direkt aussprechen.



„Was dann?“, fragte Mulder naiv und sie hätten ihn dafür erwürgen können. Okay, sie würde es aussprechen müssen.



„Etwas Übernatürliches“, gab sie resigniert zu und er grinste zufrieden. „Außerdem wurde der Angreifer von den Opfern als unsichtbar klassifiziert. Wie weit bist du mit den sich bewegenden Gegenständen?“



„Also im Grunde ist es immer derselbe Ablauf, jedes Jahr wiederholen sich die Ereignisse exakt. Aber die Gegenstände bewegen sich nicht nur, sie materialisieren sich aus dem Nichts. Es sind eher unspektakuläre Dinge, wie ein Essenstablett, das aus dem Nichts auf dem Boden kracht. In der Wäschekammer ist es eine Trommel in der die Wäsche eingeht, obwohl die Temperatur korrekt eingestellt ist. In der Bücherei fallen Bücher aus den Regalen, in der Gefängniswerkstatt werden die Werkzeuge in den Aufbewahrungscontainern durcheinander gebracht. Diese ganzen Vorfälle werden eigentlich nur registriert, weil die Gefängnisleitung schon fast darauf wartet, deshalb sind die Aufzeichnungen in den ersten Jahren auch unvollständig. Alles in allem also Kleinigkeiten, die sich addieren, mit Ausnahme der brutalen Übergriffe auf die Wächter, die klar aus dem Schema herausbrechen.“ Er beendete seine Ausführungen und betrachtete noch mal genau die Fotos. „Sind die Verletzungen so schwer, wie sie aussehen?“



„Nein, seltsamerweise nicht, die Wunden sind nur oberflächlich und auch wenn sie schwer aussehen, so heilten sie innerhalb von ein paar Tagen ab ohne bleibende Schäden. Mal abgesehen vom psychischen Trauma. Vierzehn der Opfer wechselten kurz darauf ihren Job.“ Scully zeigte auf ein neueres Foto, „Den hier können wir befragen, er arbeitet noch hier.“



„Okay, das mache ich später. Wie sieht es mit der Ursache aus, was das Ganze auslöst? Hast du da schon eine Idee?“, fragend schaute er sie an, mit einem Schulterzucken beantwortete sie seinen Blick. „Spekuliere, Scully.“



„Das ist mehr dein Fachgebiet, Mulder“, erwiderte sie lächelnd. „Aber wenn ich mich an die Legenden halte, dann haben wir es mit einer Seele zu tun, die keinen Frieden findet, richtig? Da die Übergriffe vor zwanzig Jahren begonnen haben und nur drei Wochen anhalten, können wir sogar relativ genau die Zeit eingrenzen. Da Poltergeister meist mit unnatürlichen Toden beginnen oder mit der Störung der Totenruhe, lässt sich auch hier unser Suchradius einschränken. Da dieses Gebäude hier schon länger als zwanzig Jahre steht, fällt die Totenruhe weg. Es bleibt folglich nur der unnatürliche Tod, der sich hier in diesem Gebäude zugetragen haben müsste, da Poltergeister meist an einen Ort fixiert sind. Also würde ich sagen, noch mehr Unterlagen müssen gesichtet werden.“ Als Belohnung für ihre Spekulationen bekam sie ein charmantes Mulder-Lächeln zu sehen, „Deinem Lächeln entnehme ich, dass du jetzt den angegriffenen Wärter befragst und ich mich hier weiter durch die Papiere wühle, oder?“



„Du kannst Gedanken lesen, Scully“, erwiderte Mulder breit grinsend.



„Sicher doch, Mulder“, gab sie trocken zurück.











Anstalt für schwererziehbare Jugendliche

Detroit, Michigan





Nach dem Vorfall in der Wäscherei hatte er die volle Aufmerksamkeit des Teufels.



Sein Rücken war noch nicht abgeheilt, die Wunden des Schlagstockes brachen immer wieder bei den kleinsten Tätigkeiten auf. Sein Gesicht war verschont geblieben. Wie bei den anderen. Es wäre viel zu auffällig gewesen. Doch die Nächte und mit ihnen der Teufel kamen. Verschafften ihm Albträume, sowohl reale, wie auch geträumte. Er hatte nicht einmal das Glück, das sich seine Verletzungen entzündeten und er so auf der Krankenstation landete.



Die anderen Wachen sahen weg, ignorierten was sich vor ihren Augen abspielte.



Der Teufel hatte seine Opfer gut im Griff, das Schreckensregiment in der Dunkelheit weitete sich auf den Tag aus. Die Bilder, die sich nachts in das Gedächtnis einbrannten, ätzten sich in das Bewusstsein, füllten jede Minute mit ihrer Präsenz aus und projizierten sie auf jede Handlung. Jeder Handgriff, jede Alltäglichkeit wurde überflutet mit Erinnerungen und Angst.



Die Opfer des Teufels erkannten sich ohne Worte. Die Augen erzählten Geschichten, die nur diejenigen verstehen konnten, die es selbst erlebt hatten. Paul war ebenso ein Opfer wie er, hatte er schnell festgestellt, diese innere Verbindung half ihm seltsamerweise. Die Aggression war in der Nacht nach der Prügelei in der Kantine verschwunden. Was sich in dieser Nacht in Pauls Zelle an Grausamkeit abgespielt hatte, wollte er sich nicht vorstellen, konnte es nicht, die Schreie erzählten seine Geschichte schon zu genau.



Es konnte ihm passieren.



Pauls Weinen erkannte er zwischenzeitlich in der Dunkelheit der Nacht. Seine Schluchzer begleiteten ihn durch seine eigenen Qualen. Die Melodie der Nacht. Das Lied für das der Teufel lebte.



Die Melodie, die er ihm verweigerte.



Er weinte nie, egal was passierte, wie sehr sich der Schmerz auch in seinen Körper bohrte und in die Seele brannte. Diese Genugtuung gab er dem Teufel nicht. Er ließ sich nicht brechen, klammerte sich an seinem Schweigen fest und trat neben seinen Körper. Trat in eine Welt, in der der Teufel keinen Zugriff hatte. In der er keine Macht besaß, in die er nicht eindringen konnte und die ihn dadurch provozierte.



Er war sein liebstes Opfer geworden.



Der Schlag auf seinen Hinterkopf ließ ihn taumelnd in die Knie gehen, sein Nachdenken hatte ihn unaufmerksam gemacht, er hatte seinen Peiniger nicht kommen hören. Hatte er tatsächlich gedacht, er könnte sich im Licht des Tages vor ihm verstecken?



„Junge, mach deine Aufgabe richtig oder soll ich dir zeigen, wo man diese Werkzeuge sonst noch verstauen kann?“



Der Biss auf seine Lippe, hielt die Erwiderung zurück. Hilflose Wut.



„Vielleicht zeige ich es dir morgen Nacht.“



Der Teufel ging weiter, während das Zittern verhinderte, dass er aufstehen konnte. Die Angst ballte sich, wie ein vor Hitze glühendes Eisen in seinem Inneren zu einem Inferno zusammen und machte ihn benommen. Er schmeckte Galle im Mund.



Ja, der Teufel war kreativ, was seine Foltermethoden anging.











Gefängnis-Wachstube

Detroit, Michigan

Montag, 12. Februar 2000, 16:11 Uhr





„Ist hier ein Bill Mathers?“, fragte Mulder entnervt in die Runde von etwa zehn Männern. Nachdem er seiner Meinung nach bereits den halben Gebäudekomplex nach diesem Mann abgesucht hatte, war seine Hoffnung ihn zu finden schon gegen Null gedriftet.



„Ja, Sir, was kann ich für Sie tun?“ Ein Bär von einem Mann erhob sich in der hinteren Ecke, die blaue Gefängnisuniform spannte sich über einen Bierbauch und das Gesicht erinnerte Mulder an eine Bulldogge. Das personifizierte Klischee eines Gefängniswärters trat ihm gegenüber.



„Special Agent Mulder vom FBI. Ich hätte ein paar Fragen bezüglich des Überfalls von 1997.“ Der selbstsichere Gesichtsausdruck wandelte sich für einen kurzen Moment in eine Maske aus Angst, bevor Mathers sich wieder unter Kontrolle hatte.



„Könnten wir bitte raus gehen?“ Der Mann lenkte ihn in Richtung Tür, nachdem sie draußen standen, wandte er sich wieder Mulder zu, „Also was wollen Sie wissen?“



„Würden Sie mir den Angriff bitte aus Ihrer Sicht schildern?“



„Da gibt es nicht viel zu schildern, ich wurde von hinten überrascht und niedergeschlagen, mehr nicht. Ich konnte weder meinen Angreifer identifizieren, noch konnte ich mich gegen ihn wehren." Mathers trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während er Mulders Blick auswich.



Mulder stöhnte innerlich, er würde jetzt erst mal Vertrauen aufbauen müssen, bis der Mann mit seiner wahren Geschichte rausrücken würde und das konnte dauern. Jedes Mal dasselbe wenn die Menschen auf etwas stießen, das ihrem Weltbild nicht entsprach und manchmal war er es tatsächlich leid, die Initialzündung zu geben. „Laut Ihrer ersten Aussage hat es sich aber doch ein wenig anders zugetragen. Sie beschreiben dort Ihren Angreifer als unsichtbar und unglaublich stark.“



„Hören Sie, Mister, ich war durch den Überfall durcheinander, mehr nicht“, rechtfertigte sich der Mann, von dem Mulder bezweifelte, dass man ihn einfach so von hinten überraschen und überrumpeln konnte, allein schon wegen dessen Körpergröße und Statur.



„Also war Ihr Angreifer nicht unsichtbar?“ Der entnervte Unterton wurde unterdrückt und durch einen verständnisvollen ersetzt, die einzige Art, wie er weiter kommen würde.



„Ich konnte ihn nicht erkennen.“ Mathers war die Situation sichtlich unangenehm.



„Gut. Können Sie mir vielleicht sagen, was den Überfall ausgelöst haben könnte oder ob er von Ihnen provoziert war?"



„Von mir provoziert? Wie sollte man einen Geist denn provozieren?“, kam es ungläubig von Mathers, bevor er sich auf die Lippe biss. Mulder schüttelte innerlich den Kopf, vor ihm stand nicht unbedingt ein Genie, das wurde ihm gerade bestätigt.



„Ein Geist?“, hakte er schon besser gelaunt nach.



„Na ja, Sie kennen doch sicher die Geschichten, das hier im Reagan-Gefängnis ein Geist sein Unwesen treibt, oder?“, gab Mathers kleinlaut von sich.



„Ja, davon haben ich tatsächlich schon gehört. Also behaupten Sie, dass Sie von diesem Geist angegriffen worden sind?“



„Unter Eid oder offiziell natürlich nicht. Aber ja, ich denke, es war der Geist. Schließlich bin ich nicht der Einzige, der angegriffen worden ist“, versuchte er sich Schützenhilfe von seinen ausgeschiedenen Kameraden zu holen.



„Aber Sie sind der Einzige, der noch hier arbeitet. Warum haben Sie nach der Attacke nicht gekündigt, wie die anderen?“ Das interessierte Mulder wirklich.



„Ich bin auf diesen Job angewiesen, wissen Sie, ich habe daheim eine Frau und drei Kinder und es ist nun mal der Job, den ich am besten kann und er wird gut bezahlt. Vor allem die Nachtschichten. Und ohne College kommt man nun mal nicht weit und das will ich meinen Kindern ermöglichen, obwohl man es schon im Geldbeutel merkt, wissen Sie“, erläuterte Mathers.



„Wurden Sie damals in der Nachtschicht angegriffen?“



„Ja, man fand mich erst eine gute Stunde später, so gegen vier Uhr morgens bewusstlos im Einzelzellen-Trakt.“



„Okay, vielen Dank und wenn ich weitere Fragen haben sollte, dann komme ich auf Sie zurück. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, fragen Sie bei der Gefängnisleitung nach mir.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von Mathers.











Anstalt für schwererziehbare Jugendliche

Detroit, Michigan





Die Hölle war ein Platz auf Erden. Dieser Ort um genau zu sein.



Er fühlte sich seiner Würde beraubt. Sein einziges Bedürfnis war zu weinen, solange zu weinen bis er leer und ausgedörrt war und nichts mehr fühlte, außer seinem eigenen Herzschlag.



Nicht die aufgescheuerte Haut seiner Knie und Ellbogen. Nicht die Striemen auf seinem Rücken. Nicht die Zigarettenabdrücke auf seinen Armen. Nicht die Wunden auf seinen Beinen. Nicht den widerlichen Geschmack in seinem Mund. Nicht das Brennen zwischen seinen Pobacken.



Er hatte nicht einmal gewusst, dass es diese Art der Qual gab. Der Teufel hatte ihn eines besseren belehrt. Es gab jede unvorstellbare Art von Schmerz auf dieser Welt. Alles war möglich. Alles.



Benutzt und Beschmutzt.



Diesmal hatte ihn der Teufel zurückgeholt aus seiner eigenen Welt, von der dieser ausgeschlossen war. Zurückgeschleudert in die Wirklichkeit, wie ein Bündel Mensch ohne Würde. Es brannte in ihm wie Zünder, er loderte in ihm. Der Teufel war in ihm. Gewesen. Immer noch. Nie mehr gehend.



Diesmal hatte er eine Reaktion gezeigt, ein „Oh Gott“ hinaus gebrüllt in die Dunkelheit seiner Zelle, durch die Gänge hallend, bevor er es zurückhalten konnte, gefolgt von einem unmenschlichen Lachen. Danach war er innerlich tot. Das war sein Todesschrei gewesen, mit ihm verlor er einen Teil seiner Seele, den er nie wieder zurückgewinnen konnte. Den Rest seiner Unschuld, den er bis jetzt bewahren konnte.



Die eigene Welt verloren.



Er weinte nicht, nur seine Atemzüge klangen in der Dunkelheit seiner Zelle von den Wänden wider. Eine Träne kämpfte sich ihren Weg von seinem Auge, über die Wange zu seinen Lippen. Er hielt sie mit der Zunge auf, den salzigen Geschmack bitter wahrnehmend.



Er würde nicht weinen. Nicht wegen dem Schicksal, das für ihn vorbestimmt gewesen war. Nicht wegen dem Vorhof der Hölle, in dem er sich befand, nicht wegen seines übermächtigen Gegners, nicht wegen dem Teufel, der sich in seinen Körper geätzt hatte.



Er war stärker, musste es sein. Für sich selbst, für das normale Leben, das sich außerhalb dieser Mauern abspielte. Er war es den anderen Mitgefangenen, seinen Eltern gegenüber, sich selbst schuldig. Er würde diese Mauern überwinden, hinter sich lassen, wenn seine Zeit gekommen wäre. Dazwischen lag die Ewigkeit von acht Monaten und zwei Wochen. Tausend Jahre waren nur ein Tag.



Seine Erlösung. Seine Prüfung. Seine Verdammnis.











Gefängnis-Archiv

Detroit, Michigan

Montag, 12. Februar 2000, 16:59 Uhr





Nachdem sie sich durch zwei Aktenschränke mit den Ausmaßen von Michigan gewühlt hatte, war Scully sich über die Identität des vermeintlichen Poltergeistes fast im Klaren. Die Übergriffe auf die Wächter erfolgten jeweils am 14. Februar gegen drei Uhr morgens, danach kehrte für ein Jahr Ruhe ein. Der Valentinstag war bestimmt nicht der Auslöser für die Angriffe, obwohl sie es sehr gut verstanden hätte. An diesem Datum machte sich in ihr auch öfters der Wunsch nach einem Amoklauf breit.



Aber laut den Unterlagen kamen drei Todesfälle in Betracht, die sich vor zwanzig und einundzwanzig Jahren am 14. Februar hier in der „Erziehungsanstalt für Kinder und Jugendliche“ zugetragen hatten. Die Erziehungsanstalt war Ende der Achtziger in ein Gefängnis umgewandelt worden, weil es nach der Verschärfung der Drogengesetze überall im Land an Gefängniszellen fehlte.



Scully suchte gerade nach den Totenscheinen zu Tom Shandling, Jeff Smith und Jordan Rothschild und wurde fündig. Die ersten beiden starben 1980 an einer Grippe, sie schüttelte den Kopf, die medizinische Versorgung der Jugendlichen war miserabel gewesen. Die Symptome wurden heruntergespielt und dann zu spät richtig behandelt, allein deswegen sollte man die Leitung der Erziehungsanstalt heute noch belangen. Es war schlampig gearbeitet worden.



Sie suchte nach dem Totenschein von Jordan Rothschild. Er war 1979 gestorben und auf dem Formular war Selbstmord durch Strangulation als Todesursache eingetragen worden. Das konnte ihr Poltergeist sein. Der Autopsiebericht war laut Totenschein in einem anderen Aktenschrank zu finden und Scully seufzte entnervt. Warum hatte sich den niemand die Mühe gemacht, den ganzen Papierkram einzuscannen oder zumindest richtig zu sortieren? Damit wäre ihr zumindest einige Stunden suchen erspart geblieben.



Sie ging zum anderen Ende des Raumes und öffnete einen anderen Aktenschrank, nach mehreren Versuchen hielt sie schließlich den richtigen Autopsiebericht in den Händen. Das Deckblatt bestätigte die Angaben auf dem Totenschein, an der Leiche war keine Autopsie vorgenommen worden, sondern nur eine Leichenschau. Schon wieder war schlampig gearbeitet worden, sie blätterte weiter zu den Fotos.



„Oh mein Gott“, flüsterte bevor Scully die Worte zurückhalten konnte.



„Also so schlimm sehe ich auch wieder nicht aus.“ Sie wirbelte erschrocken herum, nur um einen derangierten Mulder am Eingang zu finden und atmete tief durch.



„Schleich dich nie wieder so an, Mulder, außer du willst bei mir einen Herzinfarkt riskieren“, zischte Scully nach einigen Schrecksekunden. Was sie im ersten Moment bei diesen Worten gedacht hatte, behielt sie lieber für sich und verdrängte es irgendwohin in den hintersten Winkel ihres rationalen Verstandes. „Was ist denn mit dir passiert?“



„Nichts weiter, ein Gefangener hatte die glorreiche Idee, sich meiner nicht vorhandenen Waffe zu bemächtigen. Er dachte wohl, dass er bei mir gute Chancen hätte, sie mir zu entwenden oder zumindest bessere als bei den Gefängniswärtern. Dabei hat er das Sicherheitshohlster vergessen und die Tatsache, dass ich sie am Eingang abgegeben hatte. Die Abreibung, die er sich dafür eingefangen hat, erscheint gerechtfertigt.“ Nachdem er bis auf einen halben Meter heran gekommen war, begutachtete Scully seine Verletzungen. Eine Schürfwunde auf der Wange und eine aufgeplatzte Lippe. Alles in allem, also nur oberflächliche Wunden, die schnell abheilen würden.



„Sonst keine Wunden, die ich mir anschauen sollte?“, eine rhetorische Frage.



„Nur mein verletzter Stolz, weil ich dermaßen unterschätzt wurde“, erwiderte er. „Aber den habe ich schon durch meine Gegenreaktion wiederhergestellt. Und bei dir? Bist du bereits weitergekommen mit unserem Poltergeist?“



Dabei erinnerte sie sich an die Akte in ihrer Hand. „Ich denke ja oder sieht das bei dir nach Suizid aus?“



Scully überreichte ihm die Akte und das Fehlen jeder Reaktion in Mulders Gesicht verriet ihr, dass nicht nur sie von dem Anblick des Jungen schockiert war. Sogar auf den Schwarz-Weiß-Fotos waren die Hämatome und offene Wunden deutlich zu erkennen, die sich über den gesamten Körper zogen. Außerdem hatte sie die Vermutung, dass mehrere Knochen gebrochen waren und die Fingerabdruck ähnlichen Verfärbungen am Hals ließen eigentlich nur einen Schluss zu, der Junge war erwürgt worden, nachdem er über Stunden gefoltert worden war. Für diese Theorie sprachen auch die punktierte Iris, die bei einem Foto zu sehen war und die Anordnung der Totenflecken, die niemals auf ein Hängen hindeuten konnten, sondern darauf, dass Jordan auf dem Rücken gelegen hatte.



Wie ein Gerichtsmediziner solche Beweise unter den Tisch fallen lassen konnte, war ihr unbegreiflich. Entweder war der Mann erpresst worden, high zum Dienst gekommen oder schlicht so inkompetent, dass es zum Himmel schrie. Aber selbst einem Anfänger würden solche Fehler nicht unterlaufen, deshalb tippte sie auf die erste Erklärung. Höchstwahrscheinlich war er irgendwie von der Leitung der Erziehungsanstalt unter Druck gesetzt worden, denn selbst wenn er betrunken gewesen wäre, solche eindeutigen Beweise konnte man nicht übersehen.



„Würde es etwas bringen, wenn wir den Jungen exhumieren lassen?“, fragte Mulder leise.



„Ich könnte die Frakturen bestimmen, aber die Leiche wird wahrscheinlich schon so weit verwest sein, dass nur noch das Skelett da ist. So dass wir die Photos von einem Experten auswerten lassen müssten und das kann Wochen oder sogar Monate dauern. Aber einen Versuch ist es wert, vielleicht finden wir noch brauchbare Spuren, wenn wir ihn exhumieren. Eines noch, es könnte Schwierigkeiten geben, weil der Junge dem Namen nach jüdisch ist und du weißt selber, dass es ein religiöses Tabu ist jüdische Gräber zu öffnen.“



„Mmh. Nein, schließlich liegt hier ein Gewaltverbrechen vor, das vertuscht wurde. Das läuft direkt über das Gericht und nicht über die Familie. Ich werde den Eilantrag für die Exhumierung von Jordan Rothschild stellen, okay?“



„Gut und ich werde den Kreis der Tatverdächtigen überprüfen, nach dem Angriffsschema kommen eigentlich nur die Wächter in Frage, richtig?“



„Ja, suche die Namen von Entlassenen zusammen und lass sie durch die Gewaltverbrecher-Datei laufen. Scully, derjenige der das einem Kind antut, ist mit Sicherheit später noch extrem auffällig geworden. Das war nur der Anfang, er hat hier Blut geleckt.“ Sie wusste, dass Mulder Recht hatte, nicht nur weil er ein genialer Profiler war, sondern weil die Bilder von dem Monster erzählten, welches zu so einer Untat fähig war.



Irgendwie wünschte sie sich, dass eine Bestie hinter den übernatürlichen Angriffen steckte, aber ihre Erfahrung lehrte sie, dass diese Tiere mitten unter ihnen lebten. Unter dem Tarnmantel der Normalität versteckt, nur darauf wartend zu zuschlagen und ihrem Trieb nachzugehen.
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