World of X

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Das Licht und die Dunkelheit

von Martina Bernsdorf

Prolog

Dark Manor, Internat
Blackstone, Virginia
31.10.1975

Stille herrschte über dem Ort, ein unberührt erscheinender Frieden lag über den windschiefen Grabsteinen, der Atem der Ewigkeit hatte mit Wind, Sonne und Regen seine Spuren tief in die Steine gegraben, die Schriften darauf schon längst ausgelöscht und seine eigenen Zeichen hinterlassen, wie mystische Runen aus der Hand eines launischen Gottes.
Das herbstliche Laub hatte ein Tuch über die längst eingesunkenen Grabstätten gelegt, die Menschen, die einst hier begraben worden waren, schon längst zu Staub zerfallen, sowohl ihre Körper, wie auch die Erinnerung an sie.
Wind fing sich in den uralten Eichen, die sich über diesen kleinen Friedhof beugten wie knorrige alte Weiber, von Stürmen gebeutelt, von Blitzschlägen verkrüppelt. Es war ein Ort, an den scheinbar kein Mensch seinen Fuß setzte, und zugleich eine der ältesten Stätten von Dark Manor.
In manchen alten Schriften hieß es gar, daß der Friedhof vor dem Anwesen Dark Manor entstanden und noch älter war als das Gebäude, älter als die Stadt Blackstone.
Es war ein Ort des Todes, außer den knorrigen Eichen, dem kränklichen Gras und einigen Pilzen schien kein Leben hier Fuß zu fassen, keine Eichhörnchen balgten sich in den Bäumen, kein Vogellaut war zu hören, die Äste der Bäume schienen schroff und abweisend und nicht geeignet, um darin ein Nest zu bauen.
Das Leben mied diesen Ort.
Unzählige Geschichten rankten sich um diesen Friedhof, genährt von Generationen von Schülern, deren Kreativität, aber vor allem deren Angst eigene Mythen erschaffen hatte, die von Schülergeneration zu Schülergeneration weitergegeben wurden.
Dark Manor war eines der strengen Eliteinternate, in dem Disziplin ein Gebot war, das jeder Zeitgeistströmung widerstand. Während auf den Straßen Hippies Hasch rauchten und freie Liebe propagierten, wurden in Dark Manor noch Prügel als disziplinarische Maßnahme angewandt.
Aber selbst der rebellischste Geist, der widerspenstigste Schüler mied diesen alten Friedhof, keine zornigen Worte über Lehrer waren auf Grabsteine geschmiert, keine Reste von heimlich gerauchten Zigarettenkippen verbargen sich hier.
Der Schatten, den die Gruft auf den Friedhof warf, war hart und scharf, schwarz, schwärzer, als man sich eine Nacht vorstellen konnte. Die Gruft war unmäßig groß, kein Name war darauf zu finden, doch nicht Wind und Regen hatten hier ihr Werk getan, die Zeichen darauf waren für keinen Menschen zu entziffern.
Für eine Gruft ungewöhnlich waren einige Fenster eingelassen, geschützt von geschmiedeten und verschnörkelten Eisenstäben, die, mit scharfen Dornen versehen, abweisend und gefährlich wirkten. Das Glas war jedoch schwarz, vollkommen undurchsichtig, so als solle kein Lichtstrahl die Ruhe dieses Ortes stören.
Rund um die Gruft wuchs nichts, kein Gras, keine Pilze, die Erde war schwarz, aber nicht von der fruchtbaren Farbe, die Erde manchmal hatte, sondern von der säuerlichen Verderbtheit eines zerstörten Bodens.
Das Geräusch von leisen Schritten durchbrach nun die Stille, zwischen den Bäumen flackerte das Licht von Kerzen. Ein hochgewachsener Mann ging einer kleinen Gruppe von ebenso verhüllten Gestalten voran, von Kopf bis Fuß in eine schwere, schwarze Kutte gehüllt, war er ein kaum wahrnehmbarer Schatten unter Schatten. Einzig das Licht der schwarzen Kerze in seiner Hand warf ein flackerndes Licht auf seine Kutte und sein von der Kapuze beschattetes Gesicht.
Sein Blick richtete sich zum Himmel, seine Lippen bewegten sich stumm, fast wie in einem Gebet. Mondlicht warf sein knochenweißes Licht durch die Wolken, in einem Kampf von Licht und Dunkelheit.
Der Mann ging zielstrebig zu der steinernen Türe der Gruft, Symbole schlängelten sich, von Meisterhand erschaffen, auf dem dunklen Stein, er ließ seine Hände darüber wandern wie ein Blinder, der versuchte, sich ein Bild von etwas zu machen, das sich allein seinen Tastsinnen offenbarte.
Ein Zucken ging über die schmalen Lippen des Mannes, als er sich zu den sieben Gestalten umdrehte, die schweigend einen Halbkreis hinter ihm bildeten. Er streckte fordernd die Hand aus, und einer reichte ihm eine kleine metallene Schüssel, in der eine dunkle Flüssigkeit schwappte.
Der Mann tauchte mit feierlichem Ernst die Finger in die Schüssel und berührte dann ehrfürchtig Symbole auf der Türe, während er leise Worte auf Latein murmelte. Zufrieden mit dem Muster, betrachtete er kurz das Blut an seinen Fingern und wischte sie an seiner Robe ab. Dann hielt er die Schüssel in die Höhe, dem kalten Mondlicht entgegen.
„Trinkt mit mir, meine Brüder und Schwestern, denn heute erwacht unser Meister zu neuem Leben.“ Er setzte die Metallschüssel an die Lippen und nahm einen Schluck, dann reichte er das Blut ebenso feierlich ernsthaft weiter, jeder der verhüllten Gestalten trank, bis auf den kleinsten unter ihnen. Der Anführer legte seine Hand auf die Schulter der schmächtigen Gestalt, sie mußte das Blut nicht trinken, war es doch ihr eigenes.
Er beugte sich kurz tiefer und blickte in die Augen des Mädchens, sie waren stumpf, kein freier Willen glänzte darin, sie war vollkommen unter seiner Kontrolle. Oft schon hatte er die alten Rituale ausgeführt, unzählige Male war Blut vergossen, waren Opfer gebracht worden, hatte er seinen Meister umschmeichelt und ihn erfreut, doch heute war es anders, heute war die Zeit für seine Rückkehr.
Er wünschte, er selbst könnte das Gefäß sein, das sein Meister mit seinem Geist und Willen ausfüllte, aber dazu war er nicht geschaffen, dazu brauchte er dieses Mädchen, ein zerbrechlich wirkendes Gefäß für seinen Meister, doch es würde wachsen, würde eine Stärke besitzen, die nicht menschlicher Natur war.
Der Anführer drehte sich wieder zu der Gruftüre um, und mit einiger Mühe zog er den schweren Siegelring von seinem Daumen, berührte damit die Türe, ließ den Ring in die versteckte Konstruktion gleiten, und mit einem Knirschen wich die Türe zurück und ließ einen Schwall abgestandener schaler Luft frei, in der ein Geschmack nach Fäulnis und altem Blut mitschwang. Ohne zu zögern, trat der Zirkel ein, in ihrer Mitte, mit den steifen Schritten eines Schlafwandlers, das Mädchen. Die Türe schloß sich wieder, als der Anführer den Ring in den inneren Verriegelungsmechanismus schob, umdrehte und stecken ließ.
Die Gruft war groß und fast leer, es gab nur einen großen Sarkophag in der Mitte des Raumes, der fast die Form eines Altares hatte, auf der glatten Oberfläche des glänzend schwarzen Steines waren Rinnen in Form eines Pentagrammes eingelassen, nur eine Zacke des schwarzmagischen Zeichens deutete auf das Fußende des Sarkophags. An der Wand dahinter hing ein großes, umgedrehtes Kreuz. In der Decke der Gruft war eine Öffnung, durch die Mondlicht auf den Boden fiel, auch diese Öffnung war in Form eines Pentragrammes gearbeitet und warf einen solchen Schatten auf den spiegelglatten Mamorboden.
Der Anführer des Zirkels trat vor den Sarkophag und ließ seine Hände darüber wandern, liebkoste die kühle Glätte der Oberfläche. „Bald, Meister, bald schon.“ Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, und er blickte zu den Schatten des Pentagrammes, das über den Boden wanderte, in weniger als einer Stunde würde der Schatten genau auf dem Sarkophag liegen, sich mit dem Pentagramm darauf decken, und dann würde die Verbannung seines Meisters in die Hölle enden.
Die anderen waren bereits dabei, die schwarzen Kerzen zu entzünden und die vorbereiteten Kräuter zu verbrennen, ein seltsamer Geruch breitete sich aus. Einzig das Mädchen blieb in der Mitte der Gruft stehen, die Augen starr geradeaus gerichtet, und schien nichts von den Aktivitäten um sie herum zu bemerken.
Der Anführer blickte sich um, seine Brüder und Schwestern wußten, was sie zu tun hatten, auch wenn dieses Ritual noch nie durchgeführt worden war, kannten sie jeden Handgriff. Er ging langsam zu dem Mädchen und strich die Kapuze zurück, rotblondes Haar fiel bis auf die Schultern des elfjährigen Kindes. Zärtlich ließ er seine Finger über ihre bleiche Wange wandern, er hatte sie ein paar Mal an Ritualen teilnehmen lassen, sie auch für Rituale zum Gefallen seines Meisters benützt. Ihre Erinnerungen daran waren gelöscht, ausgehaucht wie eine Kerzenflamme von einem Luftstoß, aber die Erinnerungen waren doch tief in ihr verborgen, wie eine Zeichnung auf ihrer Seele, einer Seele, die bald der Präsenz seines Meisters Chvl weichen würde, hinausgeschleudert in das Nichts.
Er streichelte ihre Wange, bedauerte, daß sie nicht wußte, welch ungewöhnliches Geschenk ihre Geburt gewesen war, an dem gleichen Tag, in der gleichen Stunde, in der gleichen Minute, in der sein Meister von dieser Welt verbannt worden war, sie war das Tor, der Schlüssel und das Gefäß in einem. Mit Mühe riß er sich aus seiner Faszination über dieses Geschenk der Hölle, das ihm zuteil geworden war, das ihn dieses Kind hatte finden lassen. Er warf einen prüfenden Blick auf den Schatten auf dem Boden, er war schon nahe.
„Das Opfer“, seine Stimme war leise, ließ seine Anhänger jedoch zusammenzucken.
Eine der Frauen schlug ihren Umhang zurück und offenbarte damit ein schlafendes Baby in einer Körpertrage, es war vor einigen Tagen geboren worden, es gab keine Geburtsurkunde, keine Arztunterlagen, kein Beweis seiner Existenz, es war nicht getauft und nur genährt worden zu diesen einem Zweck. Gezeugt auf diesem Stein, dazu geboren, um sein Leben darauf zu lassen.
Die Frau legte den betäubten Säugling auf den Sarkophag, der Anführer nahm die Hand des Mädchens und führte es zu dem Altar. Er zog einen langen Dolch aus einer unter seiner Kutte verborgenen Scheide, Kerzenlicht ließ die Schneide wirken, als tanzten kleine Flammen darauf. Ohne zu zögern, stach der Anführer sich in die Handfläche und ließ sein Blut in die Rinne auf der obersten Zacke des Pentagrammes tropfen, zäh rann das Blut in die vorgesehene Bahn, er reichte den Dolch weiter, und jeder seiner Brüder und Schwestern opferte Blut, als letztes nahm er den Dolch und schnitt dem Mädchen tief in die Handfläche, die Leere in ihren Augen wich nicht, sie schrie nicht, weinte nicht, fühlte den Schmerz höchstens auf einer Ebene, die ihr kein Bewußtsein erlaubte.
Ihr Blut füllte die letzte und untere Zacke des Pentagramms, ein Zischen drang durch die Gruft, fast so als atme etwas ein, die Kerzen flackerten wild in einem eisigen Lufthauch. Das Blut im Pentagramm verschwand, wurde aufgesogen und ließ keine Spuren zurück.
Der Schatten des Pentagramms war bereits nahe.
„Komm zurück zu uns, Meister Chvl, komm zurück, Widersacher!“
Die leise Beschwörung klang durch die Gruft, und der Anführer drückte nun dem Mädchen den Dolch in die schmalen Hände. „Nimm ihn, werde das Gefäß für den Widersacher.“ Das Mädchen griff fest zu, verharrte aber so. Der Anführer nahm ihre Hände mit dem Dolch und führte sie bis zu dem nackten Säugling, der in der Mitte des Pentagramms lag. Die Spitze des Dolches schwebte über seiner Brust, der Schatten berührte bereits den Stein, das Opfer mußte vollzogen werden, um Platz zu machen für das Gefäß, welches dann den Platz im Pentagramm einnehmen würden, ehe der Schatten sich mit dem Sarkophag vereinigte.
„Stich zu.“ Der Anführer hatte den Willen des Mädchens unter seiner Kontrolle, so wie in unzähligen Ritualen zuvor, nie war es zu einer Auflehnung gekommen, nie hatte er versagt. Hier hatten die Sklaven seines Geistes in Namen seines Meisters ihr Blut vergossen, willig vergossen, und doch zögerte das Mädchen, zitterte die Dolchspitze über der Brust des betäubten, ungetauften Säuglings.
„Stich zu!“ Der Schatten war schon nahe, die Zeit drängte.
In den blauen Augen des Mädchens flackerte es.
„Mein Wille ist dein Wille, du bist in meiner Macht, du bist mein Werkzeug.“ Der Anführer konnte diese plötzliche Auflehnung nicht verstehen, sie machte ihm Angst.
Die Spitze des Dolches berührte die Brust des Säuglings, ein Blutstropfen rann über die blasse Brust, tropfte auf den schwarzen Altar und wurde gierig von dem Stein aufgesogen.
Der Anführer verstärkte den Zugriff auf den Geist des unter Drogen und Hypnose stehenden Kindes, es war notwendig, daß sie das Opfer vollzog, ehe sie das Gefäß für den Widersacher wurde, notwendig, daß dieser Mord die Unschuld und Reinheit der Seele dieses Mädchens zerstörte, um Platz zu schaffen, um das Tor zu öffnen.
„Töte!“
„Töte!“ Die Stimmen der sieben verhüllten Gestalten waren wie Schläge, in den Augen des Mädchens flackerte es, die Spitze des Dolches zitterte.
„Stich zu!“
„Nein“, der Schrei des Mädchens brach sich an den Wänden der Gruft, sie fühlte die Hand des Anführers an ihrer Schulter, starrte mit plötzlichem Bewußtsein in seine dunklen Augen, in deren Tiefe ein roter Funke glomm, unmenschlich, so als seien all die Schreckgestalten ihrer Alpträume plötzlich real geworden.
Mit dem Mut der Verzweiflung hieb sie mit dem Dolch nach dem Mann, die Klinge schnitt wie Butter durch Fleisch, und Blut spritzte aus den durchtrennten Finger, mit einem Schrei barg der Mann seine verletzte Hand an seinen Körper und gab sie damit frei. Der Dolch klirrte auf den Boden, als das Mädchen ihn fallenließ und unter den zupackenden Händen eines der Männer wegtauchte. Sie rannte zur Türe, sie schlug mit den Fäusten dagegen, nahm dann den Ring wahr, der in einem seltsamen Mechanismus steckte und drehte ihn, einem inneren Impuls folgend, um. Die Türe öffnete sich mit einem schleifenden Geräusch, und sie rannte in die Dunkelheit, stolperte über einen Grabstein, schlug sich dabei die Knie auf, rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Nur wegzurennen beherrschte ihren verwirrten Verstand, nur das Entkommen von diesem Ort zählte.
Sie hörte nicht, wie sich die Türe der Gruft erneut schloß, sie hörte auch nicht die Schreie und den verzweifelten Ruf des Anführers, der schwor, daß er seinen Fehler wieder gutmachen würde.
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