World of X

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Das Licht und die Dunkelheit

von Martina Bernsdorf

Kapitel 1

Central West Hospital
Washington D.C.
23.10.1997

Sie kannte das Summen des Bestrahlungsgerätes, es war ein leises Geräusch, das sie dennoch mit Bedrohung und Tod assoziierte. Dana Scully starrte auf den Teleskoparm des Bestrahlungsgerätes, das sich langsam drehte, sich auf diesen winzigen Bereich zwischen ihren Augenbrauen ausrichtete, wo verborgen hinter Haut, Fleisch und Knochen der Feind saß, den es mit Hilfe von Strahlung vernichten wollte.
Diese erzwungene Bewegungslosigkeit löste in Scully ein Gefühl der Hilflosigkeit aus, das sie jedesmal fast an den Rand ihrer Selbstbeherrschung trieb. Es war ein beklemmendes Gefühl, bewegungslos zu liegen, zu wissen, daß man nicht länger Herr über seinen Körper war, nicht Herr zumindest über diesen kleinen Zellhaufen, der danach trachtete, ihr Leben zu nehmen.
Scully fürchtete diese stillen Minuten der Bestrahlung, dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit. Was tat der kleine, aber so bösartige Tumor in ihrem Gehirn gerade in diesem Moment? Vermehrten sich dort die Krebszellen, griffen sie das gesunde Gewebe an, oder starben sie unter der Bestrahlungsdosis ab? Scully schloß die Augen, warum mußte es ein Feind sein, der sich in ihrem eigenen Körper verbarg?
Warum mußte es etwas sein, gegen das sie allein kämpfen mußte und wobei nie wußte, ob sie in diesem Kampf gerade Oberhand behielt oder verlor.
Sie hatte immer gewußt, daß ihr Beruf gefährlich war, noch mehr als sie sich auf die Partnerschaft mit Mulder einließ. Ihr Leben war mehr als einmal in höchster Gefahr gewesen, und wenn sie bei so einem Einsatz ums Leben gekommen wäre, dann hätte das in ihr Weltbild gepaßt. Das war das bewußte Risiko, das sie als FBI-Agentin einging, damit hatte sie sich abgefunden in dem Moment, als sie ihren FBI-Ausweis das erste Mal in Händen gehalten hatte.
Doch nicht mit diesem unsichtbaren Feind, nicht mit dem Krebs, er war kein Bestandteil ihres Weltbilds gewesen, und sie konnte es nicht akzeptieren, sie konnte nur kämpfen und hoffen, daß sie gewann.
Sie erinnerte sich an einen Raum voll Frauen, die alle wie sie entführt gewesen waren, wie sie die Implantate, die man aus ihren Nacken geholt hatte, hochhielten, ein Raum voller Geister, denn keine war nach einem Jahr mehr am Leben gewesen, sie war die letzte.
Die Letzte.
Scully öffnete die Augen wieder und starrte auf das Bestrahlungsgerät, es war so seltsam, hier zu liegen, nicht zu sehen, wie die Strahlung auf sie einwirkte, nur die Nachwirkungen, die würde sie fühlen. Allein die Erinnerung daran kitzelte schon ihre Magenwände mit Übelkeit.
War es ein sinnloser Kampf? All die anderen waren gestorben, warum sollte gerade sie den Kampf gewinnen? Und Penny Northern, die sie näher kennengelernt hatte, deren letzten Weg sie begleitet hatte, bis zu dem Punkt, wo der Tod gesiegt hatte und sie ihrer Leidensgefährtin beraubte, war so stark gewesen, so mutig, und hatte sie selbst diesen Mut? Diesen Kampf zu führen, bis zum letzten, oder würde sie versagen, irgendwann resignieren und den Tod einfach umarmen? Und woher kam der Krebs, es war eine der seltensten Arten von Gehirntumoren, und rein statistisch war dieser Raum voller Frauen unmöglich gewesen, die alle binnen eines Jahres an der selben Krebsart verstorben waren.
Aber was waren Statistiken in einer Welt, wo Schattenregierungen Fäden im Dunkel zogen, wo Mutationen, Psychopathen und vielleicht sogar Außerirdische sich unter die Menschen mischten oder in den Randzonen der Gesellschaft lebten und sich von dem ernährten, was sich bot? Wo man entführt wurde, die Erinnerungen daran nie zurückgewann und mit einer fremdartigen Designer-DNS im Koma gefunden wurde.
Gab es in so einer Welt noch Platz für Statistiken?
Scully schloß erneut die Augen.

***

Mulder haßte Krankenhäuser, allein der stechend medizinische Geruch schien einen Angriff auf seine Nasennebenhöhlen darzustellen und für seinen Magen. Er konnte verschimmelte Pizzas essen, den Kaffee aus der FBI-Küche trinken und steinharte Donoughs essen, ohne daß er je einen Anflug von Übelkeit verspürte, aber in Krankenhäusern schienen seine Magenwände immer bestrebt darauf zu sein, ihren Inhalt loszuwerden.
Er fühlte sich hilflos, und das war ein Gefühl, das er nicht mochte. Verschämt drehte er die Blumen in seinen Händen, sie ließen bereits den Kopf hängen, etwas, das er den Blumen nicht verübeln konnte. Unter den Arm geklemmt hatte er einen Aktenordner, und dieser Gegenstand löste ein vertrautes Gefühl aus und half ihm, mit der Krankenhausatmosphäre besser fertig zu werden.
Er starrte auf die Zimmertüre, trat einen linkischen Schritt näher und lauschte an der Türe, er bemerkte den irritierten Blick einer Krankenschwester, die vorbeiging, und lächelte hilflos. Mulder besuchte Scully nach jeder Bestrahlung, meist durfte seine Partnerin am gleichen Tag das Krankenhaus noch verlassen und war einige Tage später wieder dienstfähig, dennoch sah er es als seine Pflicht, da zu sein, wenn sie ihren Kampf focht, wenn er schon nicht mit ihr kämpfen konnte, so war es ihm ein Bedürfnis, sie nicht allein zu lassen.
Nach der letzten Bestrahlung hatte er genau in dem Moment das Krankenzimmer betreten, als Scully sich intensiv mit einer Nierenschale beschäftigen mußte, die das auffing, was ihr Magen von sich gab. Ein Anblick, der ihm einen eisigen Stich Angst versetzt hatte und etwas, das Scully sichtlich peinlich gewesen war, er las in ihren blauen Augen, wie sehr sie es haßte, derart schwach und hilflos vor ihm zu sein.
Aus dem Zimmer waren keine verdächtigen Geräusche zu hören, so klopfte er zaghaft an und trat dann ein.
Scully saß in einen Bademantel gehüllt, in dem sie irgendwie ein wenig zu versinken schien und sie so zerbrechlich und verletzbar wirkte, auf dem Bett, ein Laptop auf dem Knie, und schob mit einem leichten Lächeln ihre Brille auf dem Nasenrücken höher, als sie Mulder mit seinem kläglichen Blumenstrauß entdeckte.
Die Besuche ihres Partners waren in ihrer Treue rührend, und sie brachte es nicht über das Herz, ihm dies zu untersagen, auch wenn sie sich vor der Angst in Mulders Augen fürchtete, wenn er sie manchmal ansah. Diese Angst in seinen Augen machte ihr ihre Sterblichkeit deutlicher, dämpfte ihren Mut und ihren Kampfeswillen, und doch stärkte Mulder gleichzeitig diese Dinge, es war ein zwiespältiges Gefühl, zwischen seine Anteilnahme annehmen und sie ablehnen.
Einerseits wollte sie seinen Trost, wollte sie sich bei ihm anlehnen, gleichzeitig wollte sie gerade vor ihm nicht so schwach und hilflos wirken. Mulder legte den Blumenstrauß, der aussah, als wäre jede Wiederbelebung sinnlos, auf den Nachttisch und setzte sich auf einen der Stühle.
Scully sah müde aus, die dunklen Ringe unter ihren Augen kündeten von zu wenig Schlaf, aber sie schien zumindest nicht mit einem solchen Strahlenkoller zu kämpfen zu haben, wie das letzte Mal.
„Weiß Ihr Arzt, daß Sie hier heimlich arbeiten, Scully?“ Mulder gab seinen Worten einen munteren Klang, sah aber, wie seine Partnerin mißtrauisch die Augen zusammenkniff, ihre Scharfsichtigkeit kam ihm manchmal wie ein Fluch vor, sie konnte jede noch so gut aufgesetzte Laune von ihm enttarnen und sah dahinter, vielleicht kannte sie ihn inzwischen zu gut.
Er hätte nie gedacht, daß Scully ihn einmal so nahe kommen könnte, er hatte nie gedacht, daß ein Partner es lange mit ihm aushielt, und als man Scully zu ihm schickte, wußte er, daß sie eigentlich dazu da war, um ihn zu überwachen und zu bremsen. Aber aus dieser so ungünstigen Lage hatte sich schnell der größte Glücksgriff seines Lebens entwickelt, eine Partnerschaft, eine Freundschaft, die nicht unkompliziert war, aber die ihm mehr bedeutete als sein Leben, und diese Erkenntnis hatte ihn erstaunt und ihm auch eine höllische Angst eingejagt.
Seit seiner Kindheit, seit den Abend, an dem Samantha verschwunden war, hatte er nicht mehr zugelassen, daß ein Mensch ihm so nahe kam, daß er seinen Verlust nicht hätte ertragen können, und nun saß er an dem Krankenbett seiner Partnerin und fühlte diese eisige Furcht in sich, daß er sich vielleicht selbst belog, selbst belogen hatte, daß er ihren Verlust nicht verwinden könnte. Bei Samantha konnte er noch immer hoffen, so theoretisch diese Hoffnung auch war, so unwahrscheinlich ein Wiedersehen, aber wenn Scully starb, würde er nicht einmal das haben. Mulder versuchte mit Macht die Erinnerung an den Raum voller Frauen zurückzudrängen, sie alle waren wie Scully entführt worden, sie alle waren Opfer eines Experimentes gewesen, sie alle hatten Krebs bekommen und waren gestorben, binnen eines einzigen Jahres.
„Ich fühle mich gut, Mulder. Es wäre Zeitverschwendung, wenn ich nur hier im Bett liegen würde, die Berichte aufzuarbeiten ist immerhin sinnvoll.“
Scully warf ihrem Partner einen scharfen Blick zu, sah das leichte Flackern in seinen Augen, sein Unbehagen, seine Angst. „Zudem sieht es ja so aus, als hätten Sie auch Arbeit mitgebracht, Mulder.“
Mulder lächelte dankbar über die Ablenkung, die Scully ihm anbot, und öffnete die Aktenmappe. „Direktor Skinner hat mir diesen Auftrag auf den Tisch gelegt, er meinte, es wäre keine Eile dabei, das heißt, wir können einige Tage mit dem Flug warten.“
Scully wünschte, Mulder würde keine Rücksicht auf ihre Krankheit nehmen, sie wünschte, daß in seinen Augen das Jagdfieber aufglühen und er sie praktisch vom Krankenhaus ins nächste Flugzeug zerren würde. Doch sie war selbst Ärztin und wußte, daß sie selbst unrealistisch mit ihren Möglichkeiten und ihrer Leistungsfähigkeit umging, zwei oder drei Tage würde sie benötigen, um wieder Kräfte zu sammeln und die Nebenwirkungen der Bestrahlung zu überwinden.
„Zwei Tage, Mulder, höchstens drei, erzählen Sie mir was über den Fall.“
Mulder nickte, und in seinen Augen glomm zumindest ein kleiner Funke seines alten Jagdfiebers auf, das Scully begrüßte wie einen alten Freund, so wollte sie Mulder haben, nicht mit Angst in den Augen, Angst um sie.
„Vor zwei Tagen gab es in einem Internat für Eliteschüler in Blackstone, Virginia einen tödlichen Zwischenfall, ein Lehrer stürzte im Werkunterricht in die Bandsäge, dabei wurde sein rechter Arm abgetrennt, er ist verblutet, noch ehe der Krankenwagen eintraf.“
Mulder warf einige Fotos des Opfers auf die Bettdecke. „Und?“ Scully nahm die Fotos, die am Unfallort gemacht worden waren, in die Hand und betrachtete sie aufmerksam, nichts daran schien außergewöhnlich, aber sie kannte Mulders Vorgehensweise, die phantastischen Dinge würden schon noch auftauchen.
„Henry LeSalle hat sich vor einigen Wochen mit dem FBI in Verbindung gesetzt, es ging um eine Anzeige wegen Kindesmißhandlungen, die im Internat begangen worden sein sollen.“
„Das allein dürfte Sie nicht neugierig gemacht haben, Mulder.“
Ihr Partner nickte eifrig und offenbarte ein Lächeln, das Scully an eine Katze erinnerte, die gerade Schlagsahne genascht hatte. „Nein, eher schon, daß Mr. LeSalle behauptet hat, daß der Mißbrauch mit einem Satanskult zu tun hätte.“
Scully hob die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln. „Auch das reicht nicht aus, um sie auf die Fährte zu führen, Mulder.“
Ihr Partner zog seinen letzten Trumpf aus der Aktenmappe und legte das Bild auf die Bettdecke. Scully nahm es und betrachtete es, es war eine Aufnahme einer Schulklasse, nichts daran schien ungewöhnlich, auch wenn Scully fühlte, wie eine Gänsehaut ihre Nackenhaare aufstellte. Sie wußte nicht, woran es lag, aber die akkurat dastehenden Schüler, alle in strenger Schuluniform, mit den verschnörkelten Initialen von Dark Manor auf der rechten Brusttasche des Blazers lösten in ihr ein vage beunruhigendes Gefühl aus.
LeSalle selbst stand an der rechten Seite, und ein seltsamer Lichteinfall hatte dafür gesorgt, daß es fast so aussah, als trenne der Lichteinfall seinen Arm vom Körper, seinen rechten Arm. Scully sah Mulder an, sie wußte nun, worauf er angesprungen war.
„Von wann ist dieses Foto?“
„Die Klassenbilder wurden im letzten Frühjahr gemacht, und das beste, Scully, der Lichtstrahl wurde auf dem Bild erst nach dem Tode von LeSalle entdeckt, der Fotograph behauptet steif und fest, daß ein solcher Fehler nicht in dem Bild gewesen sei.“
Scully hob skeptisch eine Augenbraue. „Und?“
„Vielleicht ist etwas an diesem Satanskult, und derjenige oder diejenigen, die LeSalle getötet haben, auch wenn es als Unfall deklariert wurde, haben mit psychischer Energie, Projektion oder irgendeiner anderen Kraft den Tod von LeSalle auf einem bereits bestehenden Foto sichtbar gemacht.“
Scully hob auch noch die andere Augenbraue. „Das glauben Sie doch selbst nicht, Mulder! War das Foto schon im Labor? Vielleicht ist es ein Entwicklungsfehler, ist die Entwicklerflüssigkeit an der Stelle ungleichmäßig aufgetragen worden, es gibt viele Möglichkeiten.“
Mulder nickte, Scullys Skepsis erfreute ihn. „Ja, und wir werden es herausfinden, ich buche den Flug nach Blackstone, sobald wir genau wissen, an welchem Tag wir fliegen.“
Scully blickte wieder auf das Klassenfoto, es wirkte auf sie auf unbestimmte Art beunruhigend, die Fenster mit den verschlungenen Gittern davor riefen ein seltsames Deja vû Gefühl hervor, so als habe sie diesen Ort schon einmal gesehen.
Ein Blutstropfen landete auf dem Bild, und Scully fühlte einen eisigen Windhauch, fast so als hätte etwas ihre Seele berührt, erst dann wurde ihr bewußt, daß der Blutstropfen von ihr stammte. Sie berührte ihre Nase und betrachtete das Blut an ihren Fingerspitzen mit fast klinischem Interesse und doch einer unbestimmten Furcht, die sie nicht zulassen wollte, aber auch nicht ganz verdrängen konnte.
„Hier.“ Mulder reichte ihr ein Taschentuch, Scully nahm es, und ihre Fingerspitzen berührten sich dabei leicht, eine tröstliche Geste, dann tupfte sie ihre Nase ab und betrachtete die kleinen Blutstropfen darauf, als wären sie ein Feind oder ein böses Omen.

***

Dark Manor
Blackstone, Virginia
27.10.1997

Dark Manor ragte wie ein dunkler Schatten über die spätherbstliche Parkanlage, in der es idyllisch lag. Mulder betrachtete das Internat mit einem leichten Frösteln, die Vorstellung, in diesem düsteren Herrenhaus zu leben und zu lernen, erfüllte ihn mit Unwillen. Das Haus wirkte kalt und abweisend, vor den Fenstern waren verschnörkelte, schmiedeeiserne Gitter und riefen unwillkürlich den Gedanken an ein Gefängnis wach.
Der Erbauer des großen, weitverzweigten Gebäudes hatte mit Sicherheit einen seltsamen Geschmack gehabt, Mulder betrachtete die grotesken Wasserspeier über der Türe, die mit ihren gehörnten Schädeln den Gedanken an Dämonen und Teufel weckten.
Mulder hielt den Leihwagen vor dem Haupteingang und nickte seiner Partnerin zu, die das Internat mit einem leicht geistesabwesend wirkenden Blick musterte, sie kräuselte ein wenig die Nase, so als hätte sie einen schlechten Geruch wahrgenommen und schüttelte leicht den Kopf, so als hätte sie sich von dem Gedanken verabschiedet, dem sie nachgehangen war. Sie verließen das Auto und standen im scharfen, schwarzen Schatten, den das Manor warf.
„Ich würde meine Kinder nicht hierherschicken“, Mulder steckte die Hände tief in seine Hosentaschen und legte seine Stirn in Falten. Er deutete mit einem Kopfnicken auf die Türe aus schwarzeingelassenem Eichenholz, schwer und abwehrend sah sie aus, bis auf die Türklopfer, die bronzen in der Sonne glitzerten und ebenfalls eine seltsame Form aufwiesen.
Mulder betrachtete die Türklopfer nachdenklich. „Irgendwie erinnert mich die Form an etwas, nur komme ich nicht darauf.“
Scully warf einen abschätzenden Blick auf das schlangenähnliche Zeichen. „Es ist das Sigma, der 18. Buchstabe im griechischen Alphabet.“
„Sigma? Das teuflische Schlangenzeichen, im Satanismus ein durchaus übliches Symbol.“ Mulder fragte sich, wer dieses Haus erbaut hatte, es wirkte sehr alt, und obwohl die Parkanlagen sehr gepflegt waren, waren sie auch von einer unbestimmten Wildheit, die nur ein alter Park in sich tragen konnte, ein Ort voller alter Geheimnisse. Er bemerkte, wie Scully nach Süden blickte, dort wo der Park zu einem undurchdringlichen Gestrüpp geworden zu sein schien, mit einiger Mühe konnte man die Umrisse eines alten Hauses oder etwas ähnlichem entdecken.
Scully stützte sich gegen das Geländer der Treppenstufen, die zum Haupteingang führten, ihr Mund war trocken, und vor ihrem inneren Auge blitzten verworrene Bilder auf, von knorrigen Eichen, Grabsteinen, auf denen Mondlicht glitzerte, und einem Schatten, der schwärzer wirkte als die tiefste Nacht. An Stimmen und die Dunkelheit.
„Alles in Ordnung, Scully?“ Sie bemerkte Mulders sorgenvolle Aufmerksamkeit und schüttelte mit einer trotzigen Geste seine Hand ab, der sie an ihren Ellenbogen berührte.
„Natürlich, Mulder.“ Ihre Stimme war barscher, als sie es beabsichtigt hatte, und ruhiger setzte sie hinzu. „Es ist nur diese düstere Atmosphäre, kein Wunder, daß jemand auf die Idee kam, daß hier ein Satanskult seinen Zirkel aufgeschlagen hat.“
Das Innere von Dark Manor wurde beherrscht von dunklem Holz und der steifen britischen Kälte von Eliteinternaten, die ihren Ursprung noch hoch in zweifelhafter Ehre hielten. In Vitrinen lagen Auszeichnungen, sportliche Pokale, Jahrbücher, Fotografien, kein Stäubchen darauf war zu sehen.
Mulder hatte noch nie eine Schule betreten, die so still war, man konnte das Ticken der großen Standuhr hören, die ihn unwillkürlich an „Die Maske des roten Todes“, eine Geschichte von Edgar Allan Poe, erinnerte, in der so eine Uhr mit jedem Stundenschlag die Gäste an ihre Sterblichkeit erinnert hatte. Die Düsternis dieses Ortes schien ihm passend für solch eine Assoziation.
„Sie müssen die FBI-Agenten sein, die man mir angekündigt hat.“ Ein Schatten löste sich aus einer dunklen Ecke des Foyersaales und trat näher. Scully zuckte unwillkürlich zusammen, faßte sich dann aber wieder und musterte den Dekan. Er trug einen schwarzen Anzug, den Mulder an einen Totengräber erinnerte, auf der Brusttasche waren die roten Initialen des Internates angebracht.
„Agent Mulder.“ Er zog seinen Ausweis und hielt ihn so hoch, daß der Dekan ihn sehen konnte, aber er schien kein Interesse daran zu haben, statt dessen musterte er den Ausweis von Scully um so intensiver. Ein Lächeln legte sich auf seine schmalen Lippen. „Ich halte zwar Ihre Anwesenheit für unnötig, aber man hat auf Dark Manor selten die Gelegenheit, einer schönen Frau zu begegnen, die noch dazu so einen ausgefallenen Beruf ausübt.“
Die Stimme des Dekans war tief und mit einem angenehmen Timbre, dennoch fühlte sich Scully unwohl unter dem forschenden Blick der dunklen Augen, ihr Blick fing sich, ohne es zu wollen, immer wieder an der roten Narbe auf seiner Wange, die sich wie ein S bog oder wie eine Schlange. Für einen Dekan solch eines Eliteinternates wirkte er relativ jung, in sein schwarzes Haar hatten sich nur wenige graue Fäden gemischt.
„Warum denken Sie, daß unsere Anwesenheit unnötig ist, Dekan?“ Mulder ließ in seiner Frage mitschwingen, daß er sich noch nicht einmal mit Namen vorgestellt hatte.
„Mealas, Dekan Mealas.“ Er lächelte erneut und zuckte leicht mit den Schultern. „Der Tod unserer Lehrkraft LeSalle war ein großer Verlust für Dark Manor, aber es war ein tragischer Unfall, keinesfalls etwas, womit das FBI seine kostbare Zeit vergeuden sollte.“
Mulder kniff leicht die Augen zusammen, Dekan Mealas schien auffällig erpicht darauf zu sein, sie loszuwerden. Er wechselte einen Blick mit seiner Partnerin, in deren Augen er las, daß ihr das ebenso aufgefallen war wie ihm.
„War Mr. LeSalle irgendwie unzufrieden, mit seiner Arbeitsstelle?“ Scully stellte die Frage kühl und ohne Unterton. Mulder fand es immer wieder beeindruckend, wie sie ihre verbalen Fallen aufbaute.
„Nein, Dark Manor ist ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, wenn man erstmal eine Weile hier ist.“ Das Lächeln des Dekans richtete sich auf Scully.
„Wie erklären Sie sich den Umstand, daß Mr. LeSalle dem FBI Informationen zuspielte, daß an diesem Internat sexueller Mißbrauch an Kindern stattfinden würde, möglicherweise sogar in Zusammenhang mit satanischen Ritualen?“
Die freundliche Miene des Dekans bekam für einige Sekunden Risse, in seinen Augen funkelte es kalt, ehe er sich wieder fing, so schnell, daß Mulder sich fragte, ob er überhaupt gesehen hatte, was er glaubte, gesehen zu haben. Dank Scullys vorheriger Frage, konnte der Dekan nun nicht davon sprechen, daß LeSalle ein unzufriedener Lehrer gewesen war, der nur aus Rache wegen einer ausgebliebenen Beförderung oder ähnlichem diese Informationen weitergegeben hatte.
„Ich kann es mir nicht erklären, Agent Scully. Mr. LeSalle ließ nie vermuten, daß er einen Groll hegte oder einen Grund für eine derartige Lüge hatte.“ Dekan Mealas hatte sich wieder in der Hand, seine Antwort war eine wohlausgefeilte Mischung aus ehrlicher Empörung und trauriger Erinnerung an einen Kollegen. Eine vielleicht zu perfekte Mischung.
„Dann gibt es keinen Mißbrauch, egal welcher Natur auch immer, auf Dark Manor?“
Dekan Mealas lächelte leicht, kaum mehr als ein Heben seiner Mundwinkel. „So war Gott mein Zeuge ist, Agent Scully.

***

Die Werkstätten waren leer, Dekan Mealas klärte sie darüber auf, daß seit LeSalles tragischem Tod der Unterricht ausgefallen sei, und nachdem das FBI nun ermittle, würde man auch warten, bis die Untersuchungen abgeschlossen seien.
Mit dem Hinweis darauf, daß er Pflichten wahrzunehmen habe, verließ der Dekan sie, etwas, das Mulder nur recht war. Er ging zu den Bandsägen und studierte sie genau, Scully gesellte sich zu ihm, sie hatte die Berichte gelesen. „Laut eines Gutachters lag kein Fehler am Gerät vor, keine Stromschwankungen im Netz, kein technischer Defekt also.“
Mulder tippte auf den Sicherheitsbügel. „Dann verraten Sie mir mal, wie man sich trotz der Sicherung einfach so den Arm absägen kann?“
Scully betrachtete den Bügel, schwang ihn zurück und hielt ihre Hand auf das ruhende Sägeblatt. „Er hat vielleicht die Sicherheitsbestimmungen nicht befolgt und den Sicherheitsbügel zurückgeschlagen.“ Mulder brummte unbestimmt, etwas, das er öfters tat, wenn er von einer scheinbar logischen Erklärung Scullys nicht überzeugt war. Er ging auf die Knie und suchte den Boden ab. Scully verschränkte die Arme und blickte auf ihren Kollegen hinunter, der mit hochgestecktem Hinterteil, den Kopf und die Schultern unter der Werkbank, einen witzigen Anblick bot.
„Liegt darunter die Voodoopuppe von LeSalle? Mit einer Miniaturkreissäge unter dem Arm?“ Mulder tauchte wieder auf, einige Sägespäne hatten sich in seinem Haar gefangen.
„Mitunter haben Sie einen seltsamen Humor, Scully.“
Scully lächelte. „Die Partnerschaft mit Ihnen hat mich hoffnungslos verdorben, Mulder.“
Mulder schüttelte die Sägespäne aus seinem Haar. „Ich denke, es ist nicht Voodoo, was LeSalle getötet hat, aber ich habe tatsächlich etwas gefunden. Wenn Sie es selbst ansehen wollen, dann müßten sie unter die Werkbank kriechen.“
Scully betrachtete zweifelnd Mulder. „Ich habe mich entschlossen, Ihnen einfach zu vertrauen.“
„Es ist ein Pentagramm in die Unterseite der Werkbank eingebrannt, es steht auf den Kopf, zwei Zacken deuten wie Teufelsöhrner nach oben, nur eine Zacke nach unten. Ein schwarzmagisches Pentagramm.“
„Und das hat ihn getötet?“ Mulder fand es erstaunlich, wieviel Skepsis Scully in diese fünf Worte packen konnte. Er wischte sich seine staubigen Hände an seinem Mantel ab. „Vielleicht nicht, aber es ist zumindest ein Indiz dafür, daß es hier nicht so ganz mit rechten Dingen zugeht, Scully.“
Die Befragung der Schüler, die anwesend gewesen waren, als LeSalle starb, war wenig aufschlußreich, niemand erinnerte sich daran, ob der Sicherheitsbügel geschlossen gewesen war. Auch Scullys subtile, psychologisch geschulte Fragen, mit denen sie dem Vorwurf LeSalles nachgehen wollte, führten nicht zu tieferen Erkenntnissen.

***

Blackstone Motelanlage
27.10.1997

Mondlicht streckte seine kalten Knochenfinger nach ihr aus, sie rannte, sie wußte nicht, warum sie rannte, die ganze Perspektive war seltsam, alles schien viel größer zu sein. Sie sah ein Messer, das in ihre Hand schnitt, sah ihr Blut, das in ein Pentagramm tropfte, aufgesogen wurde. Flucht, sie mußte fliehen, weg von dem Ort, an dem Schreckliches geschah, das war alles, was sie wußte, alles, woran sie sich erinnerte. Blut färbte den Mond rot, ein Schatten schien von ihm herabzutropfen, umfing sie, hüllte sie ein, verschlang sie.
Mein, endlich mein, du bist zurückgekommen, um dein Schicksal zu erfüllen, mein Schicksal. Domine Satanas, Rex Inferus, Imperati Omnipotenz.
Scully konnte den Schrei, mit dem sie sich selbst aus ihrem Alptraum kapitulierte, hören, sie erwachte an diesem Laut. Mit klopfendem Herzen starrte sie in die Dunkelheit, erst jetzt bemerkte sie, daß sie ihre Hand fest um das kleine Kreuz um ihren Hals geschlungen hatte, so fest, daß die Kanten des Kreuzes schmerzhaft in ihre Handfläche schnitten. Sie löste mit einiger Mühe ihre verkrampften Finger und tastete nach der Nachttischlampe.
Das Licht war matt und erhellte das trostlose Dekor eines billigen Motelzimmers, und doch war es seltsam tröstlich. Scully sah die Blutspuren an dem Lichtschalter und tastete automatisch an ihre Nase, doch sie blutete nicht, sie drehte ihre Hand um und sah den Schnitt in der Mitte der Handfläche. Sie zitterte, etwas daran war ihr bekannt, etwas daran berührte ihre Seele wie ein eisiger Windhauch, und wo hatte sie sich geschnitten? Sie konnte die kleinen Abdrücke des Kreuzes in ihrer Hand erkennen, sie hatten ihre Haut nicht verletzt.
Scully schlang ein Taschentuch um die blutende Hand und zog ihren Morgenmantel an, die Leuchtziffern der billigen Uhr an der Wand zeigten an, daß es kurz vor Mitternacht war. Scully fragte sich, ob Mulder noch wach war, aber eigentlich war es ihr egal, ob sie ihn weckte. Sie trat vor die Türe und starrte kurz in die Dunkelheit, ihr Blick richtete sich unwillkürlich nach Südwesten, dort wo Dark Manor lag. Leichter Bodennebel wallte, hüllte die Umgebung ein, wie in ein Leichentuch. Scully löste sich mit einem Ruck von dieser Betrachtung der Dunkelheit und klopfte an das Nachbarappartement. Mulder, ein wenig zerzaust, aber noch immer im Anzug, wenn auch ohne Jackett und mit gelockerter Krawatte, öffnete die Türe, hinter ihm war Licht, das seinen tröstlichen Schein in die Dunkelheit warf und Scully einhüllte.
„Scully, ist etwas passiert?“ Mulder sah besorgt zu ihr herab.
„Ich kann nicht schlafen, ich dachte, Sie sind vielleicht auch noch wach, dann könnten wir uns ja noch einige Gedanken über den Fall machen.“ Scully haßte die Unsicherheit ihrer Stimme, haßte diese offensichtliche Lüge, warum konnte sie ihm nicht einfach sagen, daß sie Angst hatte? Unsägliche Angst.
Mulder nickte langsam. „Ich verstehe“, erklärte er, und vielleicht, so dachte Scully, verstand er wirklich. Er gab die Türe frei, und sie trat in sein Appartement, selbst nach den wenigen Stunden, die Mulder das Motelzimmer in Besitz genommen hatte, war ihm schon gelungen, es in Chaos zu verwandeln. Sonnenblumenkerne lagen auf dem Nachttisch verstreut und ein paar auf dem Bett, Akten waren ausgebreitet, ein Buch aufgeschlagen, der Bildschirm des Laptop glänzte grün und einsatzbereit, sein Jackett hing über einem Stuhl, seine Dienstwaffe lag auf dem Tisch.
Scully genoß den Anblick von Mulders Anarchie, es war vertraut und deshalb tröstlich. Sie setzte sich in den Sessel und bemerkte den Blick ihres Partners, der sich auf die Turnschuhe richtete, die sie angezogen hatte. Mulder lächelte leicht, als ihm bewußt wurde, daß Scully seinen Blick bemerkt hatte. „Keine Häschenpantoffeln, Scully? Sie enttäuschen mich.“ Seine Worte entlockten Scully ein schiefes Lächeln, das aber schon eine deutliche Verbesserung war, gegenüber ihrem bleichen Gesicht mit den erschreckten Augen, das Mulder einen eisigen Schrecken eingejagt hatte.
„Haben Sie schon irgend etwas herausgefunden, Mulder?“
Er setzte sich an den Tisch und nickte. „In den Polizeiakten und FBI-Berichten findet sich kein Eintrag über Dark Manor, etwas, das eher selten ist, bedenkt man die Größe der Schule und daß sie seit fast 200 Jahren existiert. Keine Skandale, keine Polizeiaktionen, ungewöhnlich, rein statistisch hätte einiges passieren müssen, Vergewaltigungen, Kindesmißbrauch, Unfälle, Drogen, Schlägereien, aber nichts davon taucht in der nahezu zweihunderjährigen Geschichte der Schule auf.“
Scully schlug die Beine übereinander und ordnete geistesabwesend die Falten ihres Bademantels, akkurat auch in ihren unbewußten Handlungen. „Vergessen Sie nicht, daß Dark Manor ein Eliteinternat ist, Drogen, Schlägereien, das alles wird es dort nie gegeben haben oder es wurde intern geregelt, diese Schulen haben ihr eigenes Bestrafungssystem.“
Mulder runzelte die Stirn, Scully klang fast so, als spreche sie aus Erfahrung.
„Auffälliger ist, daß in Blackstone die Anzahl der Vermißten relativ hoch ist, für einen Ort dieser Größe.“
Scully hob leicht die Schultern. „Die Statistiken sind nicht unfehlbar.“
Mulder nickte. „Die Geschichte von Dark Manor ist allerdings sehr interessant. Es gibt einige Chronikeinträge aus den Anfängen dieser Gemeinde, darin ist von Dark Manor die Rede, allerdings als ein ungesegneter Friedhof, auf dem man die begrub, die nicht der Kirche angehörten. Um 1790 wurde die Siedlung von allerlei Plagen heimgesucht, Mißernten, Totgeburten, Mißgeburten, Vieh, das unter mysteriösen Umständen starb, schnell ging die Kunde, daß der Teufel nach Blackstone gekommen sei. Die Chroniken sind dann recht ungenau, sie sprechen von einem Fremden, der sich zeitgleich mit den seltsamen Todesfällen, den Mißernten in Blackstone ansiedelte und Dark Manor erbaute, es heißt in der Chronik, daß er zuerst jedoch auf dem ungeweihten Ort der Toten eine Gruft errichten ließ und erst dann das Haus gebaut wurde. Dann ist die Rede von grausamen Ritualen, die der Fremde abhielt, dessen Name angeblich klang wie das Zischen einer Schlange. 1797 haben die Bewohner von Blackstone vermutlich eine Art Selbstjustiz geübt, in der Chronik ist nicht viel daraus zu entnehmen, nur daß man wieder für Frieden und die Ordnung Gottes gesorgt hätte, auch wenn sie ihre Seelen damit befleckt hatten. Das verlassene Herrenhaus wurde der Stadt überschrieben, und ein Mann Namens Samael gründete dort eine Schule, seit dieser Zeit ist Dark Manor nichts anderes mehr gewesen.“
Scully hob eine Augenbraue. „Sie meinen, die Geschichte hätte etwas mit dem Fall zu tun? Ein Satanskult, der bis auf diesen seltsamen Fremden zurückgeht, der Dark Manor erbaute? LeSalle ist dahintergekommen, und man hat sich seiner entledigt?“
„Vielleicht hat man seinen Tod mittels eines schwarzmagischen Ritual herbeigeführt oder geistiger Beeinflussung.“ Mulder rieb sich nachdenklich über das Kinn.
„Schwarzmagische Rituale sind nichts weiter als geistige Beeinflussung, Mulder, diese ganzen Satanskulte gehen im Grunde nur darauf zurück, daß sich eine Gruppe versammelt, die ihre Perversionen auszuleben gedenkt. Fast jeder Satanskult besteht weitgehend aus sexuellen Handlungen, die im Namen des Teufels ausgeübt werden. Der Einsatz von Gewalt ist, wie der Einsatz von Drogen, keinesfalls unüblich, wenn LeSalle ermordet wurde, dann sicher nicht von einem Dämon, sondern von seiner Angst oder durch einen geschickt arrangierten Unfall.“
Mulder hob leicht die Schultern an, zu einer Geste, die andeutete, daß er nicht überzeugt war, aber auch nicht das Gegenteil behauptete. Scully mußte unwillkürlich daran denken, daß, wenn es um Ufos gegangen wäre, um eine seltsame Entführung Außerirdischer oder ähnliches, Mulder heftig seine Thesen verteidigt hätte und sie mit keinem wissenschaftlich fundierten Einwand seine Begeisterung und seinen Glauben hätte erschüttern können. Doch es waren keine Aliens, keine Ufos, sondern es ging um Satanismus, und der Teufel war kein Bestandteil von Mulders Glauben, außer er wäre mit einer fliegenden Untertasse herumgeflogen.
Scully berührte das Kreuz um ihren Hals, und Mulder fiel erst jetzt das Taschentuch mit den Blutflecken auf, das sie darumgeschlungen hatte. „Was ist denn da passiert?“
An den Schnitt hatte sie gar nicht mehr gedacht, sie fühlte auch nicht das dumpfe Pochen, welches einer Schnittverletzung folgte. Sie wickelte das Taschentuch ab und betrachtete ihre Handfläche, Blut war darauf getrocknet, aber die Schnittwunde selbst war verschwunden, nur eine schwache, weiße Narbe war zu sehen. „Nichts, ich weiß es nicht, es war ein Traum und dann...“, Scully brach ab und schüttelte den Kopf. „Vermutlich habe ich noch halb schlafgewandelt“, sie zuckte mit den Schultern und bot Mulder keine weitere Erklärung an.

***

Scully blinzelte, sie öffnete ein Auge und schloß es aufgrund des Lichtes, das durch den Rollladen fiel, gleich wieder, dann öffnete sie allerdings abrupt beide Augen, um sich zu überzeugen, daß ihr schnarchender Partner im Sessel keine Halluzination war.
Scully setzte sich auf und erinnerte sich daran, daß sie mit Mulder über den Fall geredet hatte, und dann mußte sie eingeschlafen sein, peinlicherweise in Mulders Zimmer. Sie ließ sich langsam wieder zurücksinken, und ihre Hände strichen über die Bettdecke, die ihr Mulder wohl mit rührender Fürsorge bis unters Kinn gezogen hatte. Nach einigen Sekunden, in denen sie die Anflüge von Schuldbewußtsein, daß Mulder im Sessel hatte schlafen müssen, verdrängte, erhob sie sich leise aus dem Bett. Mulder hatte die Füße auf dem Bett liegen, eine seiner Socken hatte ein Loch, in der Stellung, in der er schlief, mußte seine Wirbelsäule den Tag wohl mit einem mürrischen Knacken und Schmerzen begrüßen.
Scully nahm sich vor, ihn zu einem opulenten Frühstück einzuladen, nun ja, es ging ja ohnehin auf das Spesenkonto des FBI, aber allein die Geste zählte. Sie betrachtete den Computer, er war noch immer eingeschaltet, neben dem Laptop lag ein Notizblock, auf dem mit Mulders chaotischer Schrift Notizen gemacht waren. Scully betrachtete den Bildschirm nachdenklich, Namen waren aufgelistet, sie warf einen Blick auf Mulders Notizzettel, einige der Namen waren abgeschrieben und mit einem „Vermißt“ gekennzeichnet.
Neugierig geworden setzte sich Scully auf den Stuhl und betrachtete die Liste, Mulder war wohl irgendwann bei der Schülerliste von Dark Manor des Jahres 1978 vom Schlaf übermannt worden. Ein Blick auf seinen Notizblock zeigte eine beträchtliche Anzahl von Namen an. Scully ließ ihren Finger über den Trackball des Computers wandern und den Bildschirm weiterrollen, der nächste Jahrgang erschien, grüne Buchstaben auf schwarzem Grund.
Zehn grüne Buchstaben auf schwarzem Grund, fast am Ende der Liste.
Zehn Buchstaben.
Dana Scully.
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