World of X

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Richtung Nirgendwo - Stadtgrenzen

von Nicole Perry

Kapitel 4

DONNERSTAG

Obwohl er es vor niemandem zugeben würde, war der Mann nervös. Es kam immer noch nicht sehr oft vor, dass er mit dem Konsortium eine Zuhörerschaft hatte; schon allein dadurch bekam er feuchte Hände. Es war sogar noch schlimmer, ihnen jetzt mit dem Gedanken gegenüberzutreten, dass die Sache immer noch nicht erledigt war. Eine Angelegenheit, die er eigentlich schon längst hatte erledigt haben wollen.

Aber der Mann war ein Profi im Bluffen und im Spielen politischer Spielchen. Und deswegen konnte er sich mit seelenruhiger Fassade eine Zigarette anzünden und den Rauch mit praktizierter Nonchalance in den Raum blasen.

"Sie sind sich im Klaren darüber, dass die Zeit knapp wird."

"Ja, das bin ich", sagte der Mann, als er noch einen weiteren Zug nahm.

"Ich kenne den Zeitplan."

"Und Sie wissen auch, dass Sie nicht wie besprochen geliefert haben?"

Der Mann kannte keinen der Mitglieder des Konsortiums mit Namen. Er war noch nicht privilegiert genug, um dieses Recht zu bekommen. Daran war er jedoch gewöhnt und ihre Anonymität brachte ihn nicht aus dem Gleichgewicht. Er antwortete jedem Mitglied nacheinander, und behandelte jeden mit dem Respekt, von dem er hoffte, dass er ihm eines Tages auch einmal zukommen würde.

"Eine kleine Verzögerung", sagte der Mann. "Nichts weiter. Wir werden das Objekt rechtzeitig bekommen."

"Wie wollen Sie uns das garantieren? Sie haben noch nicht bewiesen, dass Sie Ihre Versprechen uns gegenüber halten."

Der Mann zuckte die Schultern. "Ich habe den Fehler begangen, andere Leute Arbeit machen zu lassen, die ich lieber selber hätte tun sollen. Leute, die nicht so gründlich sind wie ich."

"Und wie wollen Sie jetzt fortfahren?"

"Mit zwei Dingen, um genau zu sein." Der Mann inhalierte tief. "Das Objekt hat Santa Fe verlassen, und wenn ihr Begleiter nicht gewesen wäre, würde sie schon längst hier sein. Ich bin allerdings immer noch der Ansicht, dass ich sie aufspüren kann."

"Woher diese Zuversicht?"

"Ich habe hilfreiche Informationen erhalten." Der Mann erlaubte sich innerlich ein verstecktes Lächeln, als er daran dachte, wie zufriedenstellend es war, diese Information zu bekommen. "Sie sind unvorsichtiger geworden und ich denke nicht, dass es schwer sein wird, ihrer Spur zu folgen."

"Und die zweite Sache?"

Der Mann erlaubte sich ein kaum sichtbares Grinsen. "Der beste Weg, eine Ratte durch ein Labyrinth zu führen ist, sie mit einem besonders leckeren Stück Käse zu locken. Ich bezweifle nicht, dass sobald wir den richtigen Käse auslegen, unsere kleine Laborratte ihren Weg nach Hause finden wird."

 

Es schneite.

Margaret Scully blickte von dem Brief auf, den sie gerade las und sah, dass es draußen schneite. Dicke weiße Flocken, die die Fensterscheibe hinab glitten und sich auf dem Sims sammelten. Auf dem Boden lag schon eine dicke Schicht, also muss es schon eine Weile geschneit haben, bevor sie es bemerkt hatte.

Ihre Unaufmerksamkeit war jedoch nicht ungewöhnlich für sie, nicht in letzter Zeit. Denn in letzter Zeit schienen ihre Gedanken pausenlos abzuschweifen, und sie ertappte sich bei den simpelsten Sachen dabei, wie sie an ihre jüngste Tochter dachte und sich fragte, wo sie war und ob es ihr gut ginge.

Ob es wohl schneite, wo sie gerade war?

Margaret wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief in ihre Hand zu. Er war von Bill, der auf seinen Flottenmanövern über den Pazifik alles andere als Schnee sah. Bills Briefe waren genau wie Bill selbst; kurz, knapp, und geschäftlich, aber trotzdem berührten sie immer ihr Herz. Keines ihrer Kinder hatte jemals ein besonderes Talent fürs Briefeschreiben gehabt, außer vielleicht Melissa. Wenn ihr danach war, hatte sie immer lange Briefe geschickt mit blumiger Prosa und endlosen Beschreibungen der Orte, die sie gesehen hatte, und Menschen, die sie getroffen hatte. Melissa, der Schöngeist.

In Zeiten wie diesen bereute es Margaret, dass sie und Melissa keine bessere Beziehung gehabt hatten. Jetzt, wo alles zu spät war, konnte sie sich an all die Gelegenheiten erinnern, in denen sie sich gestritten hatten, und sie wünschte sich sehnlichst, die Zeit zurückdrehen zu können und eine bessere Mutter zu sein. Eine bessere Freundin zu sein.

Mit Dana war es nicht so schwierig gewesen. Sie haben sich immer nahe gestanden, seit Dana ein kleines Mädchen gewesen war, und in den letzten Jahren wahrscheinlich noch mehr. Margaret hatte den Missmut ihres Mannes über die Entscheidung ihrer Tochter, FBI-Agentin zu werden, nicht geteilt. Oh, sie war vielleicht ein wenig enttäuscht gewesen, ihren Traum aufgeben zu müssen, Dana irgendwann als Chefin irgendeines großen Krankenhauses zu sehen. Und sie hatte sich sicherlich Sorgen gemacht wegen den Gefahren, die dieser Beruf mit sich brachte. Aber sie hatte es ihr nie nachgetragen. Margaret wollte für ihre Kinder nichts mehr, als dass sie erfolgreich sind und die Welt ein kleines Stückchen besser machten, und wenn für das FBI zu arbeiten Danas Art war, das erreichen zu wollen, hatte sie ihr nicht im Weg stehen wollen.

In letzter Zeit hatte sie jedoch auch das bereut. Wenn sie sich doch nur den Protesten ihres Mannes angeschlossen hätte, wenn sie doch nur darauf bestanden hätte, dass Dana auf diesen Beruf verzichtete, wäre all das nicht passiert. Wenn sie es doch nur getan hätte, wäre Dana jetzt nicht verschwunden.

Wenn nur...

Margaret stand von der Couch auf, faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder zurück in den Umschlag. Sie ging nach oben und machte den Schrank am anderen Ende des Flurs auf, aus dem sie eine der Hutschachteln herausholte, die im mittleren Fach lagen. Sie hob den Deckel hoch und legte Bills Brief oben auf den Stapel von Postkarten, Bildern und Urlaubsgrüßen.  Sie warf nie etwas weg, das ihren Kindern gehörte.

Margaret seufzte, als sie die Tür wieder schloss, und dachte wieder an Dana. Vielleicht sollte sie Walter Skinner anrufen, nur um mal nachzufragen. Morgen würde es eine Woche her sein, seit er zu ihr gekommen war und berichtet hatte, dass er Fox in Texas verpasst hatte. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie wusste, dass wenn sich bei der Suche irgendetwas Neues ergeben würde, würde er sie sofort anrufen. Aber es konnte nicht schaden, mal nachzufragen.

Vielleicht gab es heute ja Neuigkeiten.

 

Mulder nahm den letzten Schluck seines Kaffees und sah auf die Uhr. Es war viertel vor zehn; noch zu früh, um Scully zu wecken. Sie hatten ja sowieso nichts weiter vor als Rain das Geld vorbei zu bringen und die Schützen anzurufen. Im Moment konnten sie nichts weiter tun als warten.

Vielleicht ist es ja das, grübelte Mulder, als er von seinem Stuhl aufstand, um aus der Küche noch mehr Kaffee zu holen. Vielleicht war es ja die Warterei, die uns verrückt macht. Ihre jetzige Situation war die einer ewig-langen Überwachung ähnlich. Das endlose, unermüdliche Beobachten und das Warten auf Informationen. Jede Sekunde konnten sie in Gefahr geraten. Verdammt, auf nicht wenigen solcher Observationen haben sie sich angefaucht, weil ihre Nerven dermaßen strapaziert waren—warum sollte es unter diesen Umständen anders sein?

Was die Sache allerdings noch schlimmer machte war, dass es kein zweites Team gab, das sie ablösen könnte. Sie waren völlig auf sich allein gestellt.

Und zudem war dieser "Fall" zutiefst persönlich.

Er runzelte die Stirn, als er in die Küche kam und seine Nemesis vor sich sah. Justins Apartment war in allem sehr kunstvoll ausgestattet, und die Kaffeemaschine war keine Ausnahme. Das Gerät eine Kaffeemaschine zu nennen war im Grunde eine Beleidigung, es war ein Espresso Master, und wie Mulder die Sache sah, musste man selbst ein Master sein, um dieses verdammte Ding ans Laufen zu bringen. Es konnte selbst Kaffeebohnen mahlen, selbst Milch hinzufügen und sich sogar selbst einschalten, wenn man nur die richtigen Knöpfe drückte. Aber Mulder ignorierte stur all diese automatischen Funktionen. Er war eher einer von der manuellen Sorte. Und solange er eine halbwegs ordentliche Tasse Kaffee aus diesem Ding herausbekommen würde, war er schon zufrieden.

Zu seinem großen Verdruss war der Behälter fast leer; zwei Tassen und er hatte fast das ganze Wasser verbraucht. Dann muss halt noch Wasser rein, entschied Mulder und versuchte sich genau einzuprägen, wie er den Verschluss geöffnet hatte, um einen neuen Filter einzufügen und ihn hinterher wieder richtig zuzumachen.

Er hörte, wie die Schlafzimmertür sich öffnete, gefolgt von leisen Schritten, die auf dem Teppich kaum hörbar waren. Und dann ihre schlaftrunkene Stimme. "Mulder? Wo bist du?"

"In der Küche", rief er und widerstand dem Impuls, zu ihr zu gehen und sie zu führen. Letzte Nacht hatte sie es nur allzu deutlich gemacht, dass sie ihren Freiraum wollte, und obwohl ihn das umbrachte, wollte er sein Bestes tun, um ihren unausgesprochenen Wunsch zu erfüllen.

Langsam kam sie in die Küche, ihre Arme etwas vor sich ausgestreckt, als sie ihren Weg durch die Tür fand. Sein Herz machte beim ihren Anblick einen Sprung, wie immer. Sie hatte nur ein T-Shirt und ihre Unterhose an, was ihr als Schlafanzug gedient hatte, ihre Beine und Füße waren unbekleidet. Ihre kurzen dunklen Haare waren wirr vom Schlaf, und es stand büschelweise in alle Richtungen. Er wollte sie umarmen, mit seinen Fingern durch ihre Haare streichen und die widerspenstigen Strähnen glatt streichen, aber er blieb wo er war und wartete, bis sie näher kam.

Scully erreichte den Küchentisch und lehnte sich mit einem kaum hörbaren Seufzen daran, ihre Ellbogen darauf gestützt. "Machst du Kaffee?"

"Ich versuche es zumindest", sagte er. "Dieses Ding kann mich nicht leiden."

Das brachte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Kein wirkliches Lächeln, eher ein schwaches Anheben ihrer Mundwinkel, aber Mulder reichte es.

"Wie spät ist es?"

"Fast zehn." Er schaffte es, das Fach mit Kaffeebohnen zu füllen und schaltete das Gerät ein. "Hast du gut geschlafen?" fragte er, als die Maschine anfing, vor sich her zu brummen und die Bohnen zu mahlen.

"Ja." Ein Gähnen entkam ihr als Gegensatz zu dieser Bestätigung. "Und du?" Es hätte besser sein können, dachte er. "Ja."

"Gut."

Das Brummen hörte auf und es war kurz still, bevor die Maschine ein paar Mal klickte und dann geräuschvoll das Wasser in die Kanne tropfen ließ.

Scully rieb ihre blicklosen Augen und seufzte, doch sagte nichts weiter.

"Hast du Hunger?" Mulder warf einen Blick über seine Schulter auf die Papiertüte auf der Küchentheke. "Ich könnte uns ein paar Brötchen toasten.  Oder Eier braten—ich glaube, da sind welche im Kühlschrank."

"Ich möchte nichts essen. Nur Kaffee."

"Sicher?" Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder zu ihr und bemerkte, dass ihre Haut etwas von ihrem Glanz verloren hatte. "Es gibt auch Müsli. Und jede Menge Milch."

"Ich habe keinen Hunger, Mulder."

"Okay. Vielleicht später, wenn du angezogen bist." Mulder versuchte, die Besorgnis zu verdrängen, die drohte, sich in seinem Bewusstsein breit zu machen.

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Ein Themawechsel musste her. "Ich muss jetzt das Geld von den Schützen abholen. Willst du mitkommen?"

Sie zuckte die Schultern. "Soll ich?"

Mulder sah sie perplex an. "Was ist das denn für eine Frage?"

Er reagierte über. Scully konnte es am Ton seiner Stimme hören. "Es ist nur eine Frage, Mulder."

"Ich denke, du kennst die Antwort darauf. Warum sollte ich nicht wollen, dass du mitkommst?"

Die Kaffeemaschine zischte, als der Dampf entwich, was annehmen ließ, dass der Kaffee fertig war. "Fertig?"

"Ja", sagte er und sie hörte wie er den Schrank öffnete, gefolgt vom Klirren von Tassen. "Beantworte die Frage, Scully."

"Ich weiß nicht so recht, ob es auch wirklich sicher ist", erwiderte sie.  Es war frustrierend, dass es in letzter Zeit so schwer geworden war, mit ihm zu kommunizieren. "Wir waren schon oft zusammen draußen, seit wir hier sind. Und es ist einfacher, wenn du alleine gehst und keine neugierigen Blicke auf dich lenkst."

Er antworte nicht gleich darauf, und sie fasste es als ein gutes Zeichen auf. Er war zumindest bereit, es von ihrem Standpunkt aus zu betrachten. Sie hörte auf den Lärm, den er machte, als er den Kaffee vorbereitete und wartete auf seine Antwort.

"Hier", sagte er und Scully griff vorsichtig nach vorne. Ihre Fingerspitzen trafen auf den Griff der Tasse, die sie nahm und vorsichtig hoch hob, um nichts zu verschütten. Der Kaffee roch stark und schwarz und schmeckte mit der richtigen Menge Milch sogar noch besser.

"Ich mag den Gedanken daran nicht, dich allein zu lassen", gab Mulder endlich zu. Er brauchte nichts weiter zu sagen. Sie wusste, was er dachte.

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 Sie wusste es, weil er sie nur ein einziges Mal allein gelassen hatte, seit sie sich nach dem Desaster im Zug wieder gefunden hatten—nämlich als er an ihrem ersten Abend in L.A. gegangen war, um die Schützen anzurufen und das Essen vom Chinesen geholt hatte.

Es war zuviel. Er war einfach pausenlos bei ihr. Sie brauchte Freiraum.

"Ich komme schon klar, Mulder. Geh einfach das Geld abholen und brings Rain vorbei. Es sollte nicht lange dauern."

"Okay", sagte er. "Das sollte es nicht. Und ich bin sicher, dass du zurecht kommen wirst."

Scully nippte noch einmal an ihrem Kaffee und versuchte, den Frust zu ignorieren, der sich in ihrem Inneren breit machte. "Warum habe ich den Eindruck, als ob da jetzt ein 'aber' kommen wird?"

"Verdammt, Scully." Er fluchte während er ausatmete. "Es geht hier nicht um dich. Ich will nicht andeuten, dass du nicht auf dich selbst aufpassen kannst." Er hielt inne und fügte dann hinzu, "Gott verbitte es mir."

"Mulder—" Sie war jetzt wütend, aber er schnitt ihr das Wort ab.

"Was ist, wenn du recht hast?" verlangte er. Seine Stimme verriet nun auch Ärger, ein gedämpftes Brüllen tief in seinem Inneren. "Was, wenn Die uns gesehen haben, gestern oder vorgestern? Was, wenn ich jetzt gehe und Die *mir* folgen? Was dann?"

Scully verstand was er meinte, aber sie wollte noch nicht ganz nachgeben. Sie setzte ihre Tasse ab und legte ihre Hände mit den Handflächen nach unten daneben. "Und? Soll das heißen, dass wenn wir zusammen sind, es Die aufhalten würde? Dass Die weniger Interesse daran haben, uns umzubringen, wenn wir zusammen sind und nicht getrennt?"

Die wollen dich nicht umbringen, erinnerte sie eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Die wollen dich zurück haben.

Es lief ihr kalt den Rücken hinunter, aber sie ignoriert es.

"Nein, Scully. Das soll es nicht heißen, und das weißt du." Sie fühlte, wie er seine Hände sanft über ihre legte. "Aber ich bin beruhigter, wenn wir zusammen sind. Und wenn wir dadurch leichter bemerkt werden, ist das ein Risiko, das ich bereit bin einzugehen."

Seine Hände waren warm und kräftig. Für einen kurzen Moment war sie versucht, seinen Händedruck zu erwidern, aber siedender Ärger löschte diesen Drang aus. "Also, als du mich gefragt hast, ob ich mitkommen will, hast du mich nicht wirklich gefragt. Du hast bereits entschieden, dass wir zusammen gehen."

Sein Schweigen verriet ihr, dass sie recht hatte.

"Ich weiß nicht, warum mich das jetzt überrascht." Scully zog ihre Hände unter seinen hervor und ballte sie zu Fäusten an ihrer Seite. "So läuft das also, was? So ist es schon immer gelaufen. Du triffst alle Entscheidungen, und ich laufe dir einfach hinterher."

"Scully, nicht—"

"Es ist doch so! Das ist doch der Grund, warum wir überhaupt hier in L.A. sind. Weil *du* gesagt hast, dass wir es so machen." Sie wusste, dass sie lieber aufhören sollte, aber sie konnte nicht anders. Nicht, wenn sie genau wusste, an welchen Strängen sie ziehen musste. "Aber andererseits ist es dein Geld, mit dem unser kleines Abenteuer hier finanziert wird. Also ist es wohl logisch, dass du auch entscheidest, wie wir es ausgeben."

Sie hörte seine Schritte und wusste, dass er um den Tisch herum auf sie zukommt. "Du bist nicht fair, Scully."

Sie wollte nicht, dass er ihr zu nahe kommt, dass er sie anfasst, und sie wich langsam zurück. "Es ist in Ordnung Mulder. Jetzt, wo ich weiß wie's läuft. Jetzt, wo ich die Regeln kenne." Sie atmete tief durch, um ihre wachsende Wut zu kontrollieren. "Ich gehe jetzt besser schnell duschen. Ich will ja nicht, dass du lange auf mich warten musst."

Als sie sich umdrehte und zurück ins Schlafzimmer ging, erwartete sie fast, dass Mulder sie aufhält. Aber er tat es nicht und sagte auch nichts, also ging sie und es begleitete sie nichts weiter als das Geräusch seiner Atemzüge.

 

Ein lautes Schimpfwort entwich ihr, als Caitlin auf Händen und Knien nach ihrem Diamantohrring suchen musste. Er war auf dem glatten Holzboden nirgends zu sehen und sie nahm an, dass er bestimmt unter die Kommode gerollt war.

"Verdammt noch mal! Verdammter Mist!" Sie hatte dafür jetzt überhaupt keine Zeit. Sie hätte schon vor einer Stunde im Büro sein müssen, aber ihr Fitnesstraining hatte sich in die Länge gezogen. Die Konferenz sollte in fünfunddreißig Minuten anfangen, und sie musste noch ins Büro, einen Parkplatz finden und ihre Sachen abgeben, bevor sie zu dem Treffen konnte. Sie musste unbedingt pünktlich sein. Sie musste noch zu Starbucks und einen Vanilla Latte holen. Sie musste jetzt wirklich nicht auf allen Vieren auf dem Boden herumkriechen und ein winziges Stück poliertes Gold suchen.

"Vergiss es", murmelte sie und ließ den Ohrring Ohrring sein. Sie nahm den anderen aus ihrem Ohr und wühlte in ihrem Schmuckkästchen nach einem passenden Ersatz. Die tränenförmigen Perlen mit den silbernen Verschlüssen mussten reichen; wenigstens passten sie zu ihrem grauen Anzug.  Sie schlüpfte in ein paar offene Schuhe und schnappte sich Akten- und Handtasche und ihren kurzen schwarzen Trenchcoat. In letzter Minute fiel ihr noch der Regenschirm ein; heute Morgen hatten sie im Radio gesagt, dass es am Nachmittag regnen würde. Und auf dem Nachhauseweg vom Regen wie aus Eimern überrascht zu werden, dafür hatte sie *wirklich* nichts übrig.

Sie hielt für einen Moment inne, während sie durchs Wohnzimmer fegte, um Eloise, ihre Siamkatze, die zusammengerollt auf der Couch lag, zu verabschieden.

"Bye, mein Schatz", sagte sie und lächelte der Katze zu. "Einen schönen Tag wünsche ich dir."

Eloise ließ sich nicht dazu herab, ihr irgendeine Antwort zu geben. Sie blieb still sitzen wie die kleine Königin, die sie war, und zuckte nur leicht mit dem Schwanz.

Caitlin runzelte die Stirn. Dies war einer der Momente, in denen sie sich wünschte, lieber einen Hund gekauft zu haben. "Oder keinen schönen Tag. Ganz wie du willst."

Endlich fertig, ging sie zur Tür. Als sie von außen das obere Schloss der Tür verschlossen hatte, ließ sie ihre Schlüssel fallen und fluchte wieder, als sie versuchte, ihre Sachen zu balancieren, während sie sie aufhob. Sie steckte den Schlüssel in das untere Schloss und riss ihn herum. Dann klingelte auch noch ihr Telefon in ihrer Kate Spade Handtasche. Für einen Moment dachte sie daran, es zu ignorieren, aber dann wollte sie das Risiko doch nicht eingehen. Es könnte ja Tom sein, ihr Vorgesetzter. Oder ihre Assistentin mit einer wichtigen Nachricht.

Oder Brian, der süße Typ, den sie gestern Nacht in der Bar getroffen hatte.

Sie griff in die Tasche, zerrte das Telefon heraus und drückte auf den Sprechknopf. "Hallo?"

"Caitlin?" fragte die Stimme am anderen Ende zögerlich. Zu zögerlich. Darum musste sie sich später noch kümmern.

"Natürlich bin ich es, Suzanne. Wer zum Teufel soll es denn sonst sein?" Es gab nichts, dachte Caitlin, als sie über den Steinweg zur Garage ging, nichts Schlimmeres als eine unfähige Assistentin. "Was willst du?"

"Ähm, Tom", stammelte Suzanne. "Er sucht nach dem Memo für das Disney-Projekt und ich kann es nirgendwo finden."

"Du *kannst* es gar nicht finden, weil es noch gar nicht fertig ist."

Caitlin stolperte, verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe gefallen.  Sie blickte zurück und sah einen grünen Wasserschlauch quer über dem Weg liegen. Sie trat ihn zur Seite und verfluchte innerlich den Gärtner. "Also, weißt du, was du machen musst?"

"Was?"

Caitlin wollte ihr schon antworten, aber sie zögerte für eine Sekunde, als ihr Blick auf das Fenster der Wohnung gegenüber fiel. Der Mann, den sie am Vorabend zusammen mit Rain das Gebäude betreten sah, lehnte mit den Ellbogen auf dem Küchentisch, sein Gesicht in seinen Händen vergraben.

Was zur Hölle... Sie hielt für einen Moment an und beobachtete ihn, all ihre eigenen Plänen für den Augenblick vergessen. Etwas an seiner Körperhaltung ließ ihn zugleich unglaublich traurig und unglaublich einsam erscheinen.

"Caitlin? Was soll ich machen?"

Suzannes Gequengel brachte sie wieder zurück in die Realität. Caitlin drehte sich weg und wandte sich dem Weg zur Tiefgarage zu. Er ist wahrscheinlich so deprimiert, weil ihm der Stoff ausgegangen ist, dachte sie, als sie die Stufen hinab stieg. Sie legte ihre Gedanken an den Mann weg und fauchte ins Telefon, "Du sollst ihn *hinhalten*! Das sollst du machen! Muss ich dir denn alles vorkauen?"

 

Caitlin erreichte ihren Wagen und warf ihre Sachen auf den Rücksitz. Sie setzte sich hinters Steuer und raste mit quietschenden Reifen und dem Telefon immer noch an ihrem Ohr aus der Garage.

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