World of X

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Richtung Nirgendwo - Über den Gleisen

von Nicole Perry

Kapitel 4

ÜBER DEN GLEISEN (4/10) von Nicole Perry nvrgrim@aol.com 6/5/96
 

Scully fühlte Mulders Griff an ihrem Arm fester werden. "Komm, Lisa", sagte er und die überspielte Angst in seiner Stimme ließ ihr einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Er zog sie mit sich und sie versuchte ihr Bestes, um mit ihm mitzuhalten. Sie konzentrierte sich auf seine Bewegungen und fiel mit ihm in Gleichschritt. Das Geräusch der vorbeigehenden Fußgänger wirbelte in ihrem Gehirn und sie zwang sich dazu, es zu ignorieren. Sie vertraute darauf, dass Mulder sie sicher zwischen ihnen hindurch führen würde. Sie konzentrierte sich nur darauf, ohne zu stolpern einen Fuß vor den anderen zu setzen.
 

Sie nahmen eine scharfe Kurve nach rechts und der Lärm ebbte auf einmal ab. Auch die Luft war hier irgendwie anders, stickig und feucht mit dem Gestank von uraltem Müll. Scully konnte die Sonne nicht mehr auf ihrem Gesicht fühlen, und sie nahm an, dass sie in irgendeine Gasse abgebogen waren. Eine Straße, in der die Häuser hoch genug sein mussten, um das Sonnenlicht abzuhalten. In einiger Entfernung konnte sie das Tropfen von Wasser hören wie aus einem verrosteten Wasserhahn.
 

Diese Straße machte ihr angst, die seltsame Stille war nach der lauten Hauptstraße um so bedrohlicher. Scully konnte das Echo ihrer Schritte hören, als sie die Gasse entlang liefen. Sie wollte es Mulder gleichtun und versuchen, ihre Schritte nicht so laut klingen zu lassen.
 

"Rick?" flüsterte sie. "Was ist los?"
 

"Pssst", machte er und als er nichts weiter sagte, bekam sie richtige Angst.
 

Nach einem Moment hielten sie an. Das Geräusch des Wassers war hier lauter. Scully hörte deutlich, wie ein Türgriff betätigt wurde, zweimal hintereinander. Aber ohne den üblichen Klick hinterher, den es gab, wenn die Tür wirklich aufging.
 

"Verdammt."
 

Scully entging sein leises Fluchen nicht und sie zog an seinem Arm. "Rick? Was ist los?" fragte sie genervt von seiner Wortkargheit.
 

"Die Tür hier ist zu und das ist eine Sackgasse. Komm mit."
 

Scully folgte Mulder wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Das Tropfen wurde zunehmend leiser, je näher sie wieder dem Anfang der Gasse kamen. "Hierhin", flüsterte Mulder, und zog sanft an ihrem Arm. Er schob sie zurück und plötzlich fühlte Scully die kalte Wand hinter sich.
 

"Runter", befahl er kaum hörbar. Scully gehorchte und hörte das Hämmern ihres Herzens, als sie sich auf den Boden hockte -- bereit loszulaufen, wenn es sein musste. Mit der Wand hinter ihr streckte sie eine Hand aus und bekam kaltes, glattes Metall zu fühlen. "Mülltonne", beantwortete Mulder ihre stille Frage.
 

Mulder nahm ihre Hand und legte sie auf die Tasche, die jetzt vor ihr auf dem Boden lag. "Warte hier", flüsterte er nahe an ihrem Ohr. Er stand auf und Scully hörte das unverwechselbare Klicken seiner Waffe.
 

"Rick!" rief sie in panischem Flüstern. "Wo gehst du hin?"
 

"Pssst", murmelte er und lehnte sich herunter, um seine Lippen an ihre Stirn zu pressen. Es war jedoch wenig beruhigend für sie. "Ich glaube, wir wurden verfolgt..."
 

"Was?!"
 

"Warte hier einfach... und keine Sorge. Keiner kann zu dir, ohne dass ich ihn sehe."
 

Er bewegte sich dann von ihr fort, seine Schritte leicht und immer leiser werdend, als er weiter zurück die Gasse entlang ging. Scully blieb sitzen und verfluchte die Tatsache, dass sie nicht mehr tun konnte, als zu warten. Sie hatte Angst, dass Mulder Recht hatte, und dass ihnen tatsächlich jemand gefolgt war.
 

Mulder ging zurück zur Straße, seine Waffe schussbereit vor ihm. Er blickte rasch über seine Schulter und stellte erleichtert fest, dass er weder Scully, noch die Tasche von dieser Seite der Mülltonne sehen konnte. Die Gasse endete an einer Hauswand, weswegen Mulder sicher sein konnte, dass es von der Seite aus keinen Zugang gab. Wenn der Fremde sie wirklich verfolgt hatte, musste er von dieser Seite in die Gasse kommen.
 

Und Mulder war bereit für ihn.
 

Mulder erreichte das Ende der Gasse und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand, die Waffe mit beiden Händen auf Schulterebene. Er beugte sich ein winziges Bisschen vor und lugte um die Ecke.
 

Keine Spur von dem Mann.
 

Nirgendwo.
 

Mulder senkte die Waffe und hielt sie vorsichtig hinter sich, als er einen Schritt heraus auf die Straße tat und somit sein Blickfeld vergrößerte.
 

Soweit er es beurteilen konnte, war die Luft völlig rein.
 

Mulder seufzte erleichtert und steckte die Waffe wieder in seine Hose. Während er zurück zu Scully ging, dachte er nach. Entweder hatte er sich geirrt, und der Mann war nur ein gewöhnlicher Fußgänger gewesen, ein Einwohner von Houston, der nur zu spät zu einer Verabredung kam und deshalb bei Rot über die Straße gerannt war.
 

Oder er hatte Recht gehabt mit der Annahme, dass er sie verfolgte.
 

Die paranoide Seite von Mulder wollte letzteres glauben, aber seine vernünftige Seite sagte ihm, dass es keinen Sinn machte. Die Gasse war das einzige, wo sie hätten hingehen können. Wenn er hinter ihnen her gewesen war, hätte er sie unmöglich verpasst.
 

Mulder schob diesen Gedanken beiseite, als er zu Scully kam. Sie hockte da, wo er sie verlassen hatte, kreideweiß vor Angst.
 

"Rick?"
 

"Alles in Ordnung", versicherte er ihr und half ihr auf. "War nur falscher Alarm, glaube ich." Sie zitterte und er nahm sie in die Arme. "Es tut mir Leid... Ich wollte dir keine Angst machen."
 

Scully schlang die Arme um ihn und drückte ihr Gesicht an seine Brust. Für ein paar Sekunden sagte sie nichts, und als sie dann sprach, war ihr Stimme gedämpft durch den Stoff seines Pullovers. "Ich hasse es, wenn ich dir nicht helfen kann."
 

Er wusste nicht genau, was er sagen sollte, also küsste er sie auf die Stirn und beugte sich dann herunter, um die Tasche zu nehmen. "Wir sind beide okay. Das ist die Hauptsache. Lass uns hier verschwinden und zurück zum Zug gehen."
 

Walter Skinner trat aus dem Zimmer des Direktors und ließ ein leichtes Gefühl der Zufriedenheit zu. Zwar war sein Antrag auf zusätzliche Agenten noch in Arbeit, aber er hatte sein Ziel wenigstens zum Teil schon erreicht. Diesen Nachmittag sollten weitere Bekanntgebungen an diverse Behörden im ganzen Land geschickt werden. Und obwohl die Agenten Mulder und Scully seit dem Tag, an dem sie verschwunden waren, auf der Liste der Gesuchten standen, war sich Skinner sehr wohl darüber bewusst, dass die Wichtigkeit der Suche nach ihnen zunehmend verblasste, je mehr Zeit verstrich. Es waren nun zwei Monate vergangen, in denen fast nichts gefunden wurde, und Skinner befürchtete, dass die beiden vermissten Agenten nicht mehr oben auf der Liste der örtlichen Polizei standen.
 

Im Moment konnte er diese lediglich anstacheln. Es war immerhin die Polizei gewesen, die alle wichtigen Beweise in New Orleans gesichert hatte.
 

Und es war vielleicht auch die Polizei, die sie retten könnte.
 

Skinner wurde sich zunehmend sicherer, dass Quellen und Personal im FBI von dem mysteriösen Raucher und anderen unidentifizierbaren Leuten manipuliert worden waren. Als ein Mann, der sein Leben dem FBI gewidmet hatte, fand es Skinner erschreckend, dass es welche innerhalb dieser Organisation gab, deren Intention nicht seiner gleich war. Die außerhalb der Regeln und Verantwortungen operierten. Aber er war keineswegs naiv. Er hatte während seines Dienstes genug gesehen um zu wissen, dass es überall Verschwörungen gab. Nur, weil du paranoid bist, dachte Skinner, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.
 

Mit diesen Sorgen ging Skinner durch das Gebäude. Er stieg in den Aufzug und nahm die Treppen herunter in den Keller. Er ging den Korridor entlang bis zu der unauffälligen Tür am hinteren Ende.
 

Er betätigte den Türgriff und betrat Mulders Büro. Es war so, wie es immer war -- ein heilloses Durcheinander von Akten und Blättern. Nur Mulders geübtes Auge würde erkennen, dass sie nicht mehr so lagen, wie vorher. Sie waren vom FBI nach Hinweisen durchsucht worden, die auf seinen jetzigen Aufenthaltsort schließen könnten.
 

Skinner hielt in der Mitte des Raumes an und blickte sich um. Er war überrascht, dass die schwarzen Aktenschränke mit den X-Akten immer noch da standen, wo sie vorher waren und er stellte sich ehrlich gesagt die Frage, warum der Raucher und seine Freunde sie nicht zerstört hatten.
 

Vielleicht, dachte er, weil sie wissen, dass Mulder zurückkommen wird.
 

Das Poster an der Wand zog Skinners Aufmerksamkeit auf sich. Ein unscharfes Bild eines UFOs mit dem Untertitel "I Want To Believe". Es war Mulders Doktrin, sein Glaube, der Grund, warum er lebte. Die Worte hallten in Skinners Gehirn wider.
 

Ich möchte glauben, dachte er. Ich möchte glauben, dass Sie und Agent Scully gefunden werden.
 

Scully ging neben Mulder her und hielt ihn am Arm fest. Sie konnte den Tumult des Bahnhofes um sie herum hören, ein- und aussteigende Passagiere. Mulder macht Halt und sie zog an seinem Arm. "Warum halten wir?"
 

"Wir müssen in der Schlange warten", antwortete er. "Die prüfen alle Fahrscheine, bevor sie die Leute wieder in den Zug lassen. Scully hörte das Rascheln von Papier und nahm an, dass Mulder ihre Fahrscheine herausholte. "Lange Schlange?" fragte sie.
 

"Lang genug."
 

Zwei oder drei Minuten vergingen. Scully verhielt sich ruhig und ging Schritt um Schritt vorwärts, als sie in der Reihe voran kamen. Sie war immer noch wegen dem Zwischenfall ein wenig aus der Fassung, und sie fragte sich, ob Mulder wohl Recht gehabt hatte. Er hatte ihr alles erzählt, was er während der Fahrt zum Bahnhof gesehen hatte, und obwohl er nonchalant wirken wollte, war ihr die Angst in seiner Stimme nicht entgangen. Sie zitterte und fühlte, wie er ihre Schultern umfasste.
 

"Es geht mir gut", beantwortete sie seine ungestellte Frage. "Ich bin nur ein wenig müde, das ist alles." Und es stimmte. So sehr sie ihren kleinen Ausflug auch genossen hatte, sie war nun wirklich erschöpft. Sie war erstaunt, wie viel Energie es sie kostete, ohne sich auf ihre Augen verlassen zu können. Es war sogar mit Mulders Hilfe, sogar nach all der Zeit, immer noch sehr schwer für sie.
 

Endlich kamen sie dran und Scully hörte, wie Mulder mit dem Bahnangestellten sprach, als er ihre Fahrscheine überprüfte. Mulder half ihr gerade die Treppen herauf, die zu den Zügen führten, als sie das Rufen hörten.
 

"Hey, Rick... Lisa... warten Sie!"
 

Scully erkannte Elliots Stimme, der Mann, den sie am Vormittag in dem Speisewagen getroffen hatten. Sie lächelte. Seine Energie und sein Enthusiasmus erinnerte sie an ihren jüngeren Bruder, und sie fragte sich, wie er wohl aussah.
 

"So viel also dazu, dass man pünktlich wieder im Zug sein soll", begrüßte Mulder ihn.
 

Scully hörte, wie Elliot keuchte, als er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. "Ich weiß... Eigentlich bin ich gerade erst ausgestiegen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut und ich musste noch jemanden anrufen, bevor wir weiterfahren."
 

Sie gingen nun den Gang entlang und Elliot ging hinter ihnen her. Scully hoffte, dass ihn ihre Langsamkeit nicht nerven würde. "Muss ein dringender Anruf gewesen sein", bemerkte sie, als sie mit den Fingern an der Wand entlang strich und im Stillen die Türen zählte. Sie hörte zum dritten Mal das Pfeifen des Zuges und einen Moment später rollte er über die Gleise.
 

"Stimmt", erwiderte Elliot und sie konnte ein Lächeln in seiner Stimm hören. "Meine Freundin, Rebecca, hat heute Nachmittag ein Vorstellungsgespräch. Ich hatte fast vergessen, ihr Glück zu wünschen."
 

Mulder lachte, als sie um die Ecke gingen. "Hört sich an, als ob Sie nicht oft an Schwierigkeiten vorbeikommen."
 

Der Gang war eng und Scully hörte, wie die Tasche an der Wand entlang kratzte.
 

"Wo Sie Recht haben, haben Sie Recht." Nach einem Moment, "Kann ich Ihnen damit helfen?"
 

"Ist schon okay", antwortete Mulder und Scully war es plötzlich peinlich, denn sie wusste, dass er leichter die Tasche tragen könnte, wenn ihr nicht durch den Gang helfen müsste.
 

"Was macht Rebecca?" fragte sie, um das Thema zu wechseln.
 

"Sie ist Fotografin", sagte Elliot aufgeregt. "Beck ist klasse. Sie hat vor zwei Jahren ihren Abschluss in Kunst gemacht, und bis jetzt hat sie schon eine Menge toller Sachen gemacht."
 

"Was fotografiert sie denn?" fragte Mulder.
 

"Sie fotografiert auf Hochzeiten und solchen Sachen, aber eigentlich mag sie es nicht so, Leute zu knipsen. Heute stellt sie sich für ein Projekt des Museums für zeitgemäße Kunst in Santa Fe vor. Es wäre toll, wenn sie den Job bekäme. Es ist nicht weit weg und sie hätte gute Arbeitsbedingungen."
 

"Nicht weit weg?" fragte Scully. "Wohnen Sie da?"
 

Elliot bejahte ihre Frage und sie fuhr fort. "Ich wusste gar nicht, dass der Zug in Santa Fe hält."
 

"Tut er auch nicht", lachte Elliot. "Das ist das Gute an Amtrak. Es gibt noch einen anderen Zug, den Desert Wind, der dahin fährt. Es ist zwar nicht die schnellst Art zu reisen, aber ich habe immer Zeit zum Zeichnen. Also macht es mir nichts aus."
 

Für eine kurze Zeit sagte niemand mehr etwas. Alles, was man hören konnte, waren ihre Schritte und das Klappern der Räder auf den Gleisen. Dann hörte Scully Elliot sagen, "Okay, das hier ist mein Abteil", worauf er die Tür desselbigen öffnete. "Vielleicht sieht man sich später noch mal."
 

"Bis später", echote Mulder und Scully lächelte in Elliots Richtung.
 

Scullys Finger glitten noch an vier weiteren Türen vorbei, bevor sie die engen Stufen erreichten, die zu der oberen Etage des Zuges führten. Sie folgte Mulder, eine Hand fest an seinem Pullover, als sie eine Stufe nach der anderen hochstieg. Oben angekommen seufzte sie erleichtert, als sie endlich vor ihrer eigenen Tür standen.
 

Mulder öffnete die Tür zu ihrem Abteil und schob Scully sanft hinein. Er stellte die Tasche neben dem Tisch ab und beobachtete, wie sie vorsichtig zu den Sesseln ging und sich auf einen setzte, nachdem sie ihn mit den Händen ertastete hatte. "Alles in Ordnung?" fragte er gewohnheitsmäßig. "Brauchst du irgend etwas?"
 

Sie schüttelte den Kopf, lehnte sich zurück in die Kissen und schloss die Augen. "Nein. Ich möchte mich nur hier für eine Minute ausruhen."
 

"Da sagst du was", stimmte Mulder zu. Er machte die Tasche auf und fing an, ihre neuen Sachen auszupacken, die nacheinander in dem kleinen Wandschrank in der Ecke verschwanden. Scully war still und Mulder dachte schon, dass sie eingeschlafen war, bis er ihre Stimme hörte.
 

"Mulder?"
 

"Ja?"
 

"Wer ist Robert Bard?"
 

Mulder hielt inne. Er musste fast lächeln wegen seiner Leichtgläubigkeit, dass sie seine Frage an die Einsamen Schützen vergessen hatte, weil sie bis jetzt kein Wort darüber verloren hatte. Aber er hatte sich geirrt und der Ernst in ihrer Stimme verlangte eine Antwort.
 

Er wollte ihr so ausweichend wie möglich antworten. "Er ist ein... Forscher. Ich habe seinen Namen gelesen, als ich in der Bibliothek war."
 

"Welche Art von Forschung?" Scullys Augen waren jetzt offen und sie drehte leicht ihren Kopf. "Hat das etwas mit dem Droperidol zu tun? Oder mit der Diskette?"
 

Mulder hängte das letzte Hemd auf, als er überlegte, wie er ihr antworten könnte, wie viel er ihr von seinem Wunschtraum verraten sollte. Seine Hoffnungen waren unglaublich hoch, besonders angesichts der Unwahrscheinlichkeit, die ihre Lage mit sich brachte. Er wollte ihre Hoffnungen nicht unnötig hochschrauben, nur damit sie am Ende durch Versagen zerstört wurden.
 

"Mulder?"
 

"Keine bestimmte." Mulder durchquerte den Raum und hockte sich neben sie, ihr Gesicht mit seinem auf einer Höhe. Scully hatte ihre Hände in ihrem Schoß gefaltet und er legte seine Hände über ihre. "Er ist ein Arzt, Scully. Ich habe über ihn gelesen."
 

"Was für ein Arzt?" sagte sie leise, fast flüsternd.
 

"Ein Augenspezialist", gestand Mulder. "Ein Pionier auf seinem Gebiet. Und ich will... ich will dich zu ihm bringen."
 

Scully saß absolut still. "Er ist in Los Angeles, habe ich Recht? Er ist der Grund, warum wir dort hingehen."
 

"Ja."
 

Scully zog ihre Hände von seinen weg und strich sich frustriert mit den Händen durch die Haare. Ein leises Seufzen entkam ihren Lippen und sie ließ die Schultern fallen. Als sie endlich sprach, klang sie leise und resigniert. "Mulder... du jagst Wunschträumen hinterher. Es gibt nichts, was der Mann für mich tun kann."
 

Ihre Worte machten ihn sauer und Mulder musste sich dazu zwingen, nicht aufbrausend zu werden. "Wie kannst du so etwas nur sagen, Scully?"
 

"Wie kann ich so was *sagen*?" Scully spuckte die Worte regelrecht aus. "Ich bin *blind*, Mulder. Warum kannst du es nicht einfach hinnehmen?"
 

"Ich *will* es nicht einfach hinnehmen!" sagte Mulder. "Und ich kann nicht glauben, dass du es tust."
 

Er griff nach ihrer Hand, doch sie zog sie zurück und sagte ihre nächsten Worte zu ihm wie zu einem Kind. "Das ist nicht irgendein Fall, den du lösen kannst, Mulder. Das hier ist wirklich und nichts kann etwas daran ändern."
 

Mulder flehte leise, fast flüsternd, "Und was, wenn er dir helfen kann?"
 

Ein Funken Hoffnung blitzte auf ihrem Gesicht, doch verschwand im nächsten Moment gleich wieder. "Was wenn nicht?" fragte sie und die Gleichgültigkeit in ihrer Stimme zerschnitt seine Seele. Er berührte sie. Sie ließ sich von ihm in die Arme nehmen und schlang die Arme um seinen Hals, als sie ihn ganz nah an sich festhielt.
 

Christophe hörte dem Mann am anderen Ende der Leitung zu und nahm seine neuen Befehle auf. Als er auflegte, hatte er bereits begonnen, seine Pläne umzuwerfen. Die Tatsache, dass sie die Frau nun lebend haben wollten, erschwerte die ganze Sache erheblich. Aber mit Schwierigkeiten fertig zu werden war eine von Christophes Spezialitäten. Alles wurde dadurch auch viel interessanter, was Christophe ganz und gar nicht missfiel.
 

Es war nur schade, dass er Vincents Tod jetzt nicht so rächen konnte, wie er es vor gehabt hatte. Christophe fand es immer noch schwer zu glauben, dass dieser Mann und diese Frau für den Tod einer seiner wertvollsten Mitarbeiter verantwortlich waren. Er fand es geradezu undenkbar, um genau zu sein.
 

Aber Christophe war ein Mann, der an das Glück und an das Schicksal glaubte. Das Schicksal hatte ihm in seinem Leben schon genügend Hindernisse gestellt, und er hatte es immer wieder geschafft, sie zu seinem Gunsten auszuspielen. Er würde sich zwar nie als besonders abergläubisch bezeichnen, aber er wusste, dass der größte Teil seiner Erfolge nicht unbedingt auf seine eigenen Fähigkeiten zurückzuführen war, sondern vielmehr auf unerwartet gutes Timing oder andere Umstände. Auf Glück.
 

Deswegen beneidete Christophe den Mann und die Frau nicht um das Glück, durch das sie bis jetzt überlebt hatten.
 

Denn irgendwann endet jede Glückssträhne.
 

Scully saß lustlos Mulder gegenüber in dem Speisewagen und stocherte halbherzig in ihrem Essen herum. Ihr war der Appetit vergangen, und um ehrlich zu sein, wurde ihr durch den Geruch des Essens übel. Trotzdem versuchte sie um Mulders Willen, etwas zu essen, und um spätere besorgte Fragen zu vermeiden.
 

Er war bereits besorgt um sie. Sie konnte es ihm anhören, doch sie hatte nicht die Energie dazu, ihn zu beruhigen. Sie hatte sich schon den ganzen Vormittag schlecht gefühlt und war die ganze Zeit in einer düsteren Stimmung gewesen. Sie hatte Mulder gesagt, dass sie ein Nickerchen machen wollte. Er hatte sie allein gelassen und war in den Aufenthaltswagen gegangen, um fern zu schauen. Doch anstatt zu schlafen hatte sich Scully in ihrem Bett unfähig sich zu entspannen hin und her gewälzt. Einige Stunden später hatte der Zug in San Antonio gehalten und Mulder war in ihr Abteil gekommen und hatte gefragt, ob sie sich während der zwei Haltestunden die Beine vertreten wolle. Sie hatte abgelehnt und er hatte sich neben sie aufs Bett gelegt. Zuerst hatte er versucht, mit ihr zu reden, doch als sie überhaupt keine Antwort gegeben hatte, hatte er es aufgegeben und sie gehalten, bis der Zug wieder angerollt war.
 

Wenn Mulder sie nicht an das Abendessen im Speisewagen erinnert hätte, hätte sie sich wahrscheinlich überhaupt nicht vom Bett aufgerafft. Die Idee von Abendessen war gar nicht so schlecht gewesen, aber jetzt, wo sie hier saß, war sie überzeugt davon, einen Fehler gemacht zu haben.
 

Mulders Bemerkung über den Arzt in Los Angeles hatte sie in eine Art von Depression versetzt, die genauso plötzlich wie überraschend gekommen war und Scully hatte keine Ahnung warum. Es war ja nicht so, dass sie anfangs nicht ebenfalls Hoffnung gehabt hatte. Als Ärztin wusste sie einiges über vorübergehende Blindheit, und sie hatte darauf gehofft, dass die Explosion nicht permanenten Schaden an ihren Augen angerichtete hatte. Aber als die Tage ohne Veränderung verstrichen, hatte sie ihre schwachen Hoffnungen immer weiter von sich geschoben und sie ganz tief in sich an einem Ort verborgen, den sie vergessen wollte.
 

Jetzt zu hören, dass Mulder an genau denselben Hoffnungen festgehalten hatte, ihn es sagen zu hören, war fast zuviel für sie gewesen. Scully kannte Mulder gut genug um zu wissen, dass er selbst den kleinsten Funken Hoffnung zu einem Feuer schüren konnte, dessen schwaches Licht ihn durch die Dunkelheit brachte. Er hatte es schon zwanzig Jahre lang getan und war davon überzeugt, dass Samantha eines Tages gefunden werden würde, am Leben und unverletzt. Die Hoffnung eines Träumers, eines inständigen Romantikers. Eines Gläubigen.
 

Tief in ihrem Herzen fürchtete Scully, dass die Wahrscheinlichkeit von Samanthas Rückkehr genauso groß war, wie das Wiederkehren ihres Augenlichtes.
 

Und diese Furcht fror sie innerlich ein.
 

"Lisa?" Mulders Stimme brachte sie aus ihren Gedanken. "Möchtest du noch etwas Brot?"
 

"Nein", antwortete sie und schob ihren Teller von sich weg. "Ich kann nicht mehr."
 

Er sagte nichts und sie wusste, dass er auf ihren immer noch vollen Teller starrte, aber er verlor kein weiteres Wort darüber. Sie war ihm dankbar dafür.
 

"Dann lass uns gehen", sagte er und einen Moment später hörte sie, wie er in seiner Brieftasche kramte, um die Rechnung zu bezahlen.

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