World of X

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Familienbande

von Dawn

Kapitel 1

Familienbande 1





Büro der X-Akten

Dienstag

13:30 Uhr



„Scully, Sie weichen der Frage aus“, sagte Mulder, lehnte sich in seinem Stuhl in eine noch wackeligere Position zurück und spielte mit seinem Bleistift.



Scully sah widerwillig von dem Ausgabenbericht, über den sie sich gebeugt hatte, auf und verdrehte die Augen. „Mulder, mir ist klar dass Ihnen dieses Konzept fremd ist, aber ich versuche an diesem Bericht zu arbeiten. Wenn Sie weiterhin diese lächerlichen Diskussionen anfangen werde ich nie fertig.“



„Lächerlich? Scully, das verletzt mich. Ich versuche nur Ihren Horizont zu erweitern, Ihnen durchdringende Fragen zu stellen um ihren Intellekt herauszufordern und damit sich Ihre Weltansicht ändert.“



„Mulder, ich glaube kaum dass die Antwort auf die Frage ob Batman oder die Grüne Hornisse das coolere Auto hatte meine Weltansicht verändern wird.“



Er schmollte. Es gab wirklich kein anderes Wort für die Art und Weise wie er seine Lippe etwas vorschob und seine haselnussbraunen Augen einen vorwurfsvollen Ausdruck annahmen. Scully wusste natürlich, dass das nur gespielt war. Mulder war gelangweilt, und ein gelangweilter Mulder war gleichbedeutend mit einem extrem nervtötenden kleinen Jungen. Und doch, obwohl seine andauernden Unterbrechungen sie nervten, musste sie zugeben, dass es faszinierend war wie sein Gehirn manchmal arbeitete.



„Mulder, haben Sie nicht noch ein paar Akten, die Sie bearbeiten können? Irgendwelche neuen Berichte von Lichtern im Himmel oder Sumpfmonstern oder sonst was, damit Sie beschäftigt sind? Skinner wird sich schon fragen was los ist, wenn Sie nicht bald einen absurden Antrag für einen 302 stellen.“



Der Schmollmund wich einem finsteren Blick. „Es gibt rein gar nichts. Noch nicht einmal die Boulevardpresse kann mit etwas Interessantem aufwarten. Wenn wir unsere Akten noch hätten, könnte ich wenigstens alte Fälle durchgehen, aber wir wissen beide wie schwer das bei einem Haufen Asche ist.“



Scully wollte gerade antworten als das Telefon klingelte und sie hob stattdessen ab. „Scully.“



„Agent Scully? Hier ist Kim. Assistant Director Skinner würde gerne zu Ihnen und Agent Mulder herunter kommen. Er wollte aber sicher gehen, dass Sie beide anwesend sind.“



„Sicher, Kim, wir werden hier sein.“, antwortete Scully während sie fieberhaft darüber nachdachte, warum Skin­ner zu ihnen kam und nicht umgekehrt.



„Danke, Agent Scully. Er ist auf dem Weg.“



Scully legte auf und verzog das Gesicht. „Okay Mulder, was haben Sie angestellt?“



Mulder hatte den Bleistift gegen eine Büroklammer eingetauscht und war dabei diese in ein neuartiges Kunst­werk zu verwandeln.



„Hä? Stimmt was nicht, Scully?“



Sein Gesicht spiegelte Unschuld wider, aber da war immer noch die Tatsache, dass Skinner seine heiligen Hallen verließ und zu ihnen hinunter in den schmutzigen Keller kam. Irgendwas war los, und sie würde lieber vorher wissen was auf sie zukam bevor ihr Boss durch die Türe kam. Das bedeutete sie hatte drei Minuten Zeit dafür.



„Skinner kommt zu uns herunter, Mulder“, sagte sie, eine Augenbraue hochziehend und guckte ihn durchdrin­gend an. „Warum spucken Sie’s nicht aus?“



„Scullee“, Mulders unschuldigen Augen wurden groß. „Wie können Sie auch nur andeuten, dass ich was damit zu tun habe?“ Als sie ihn weiterhin unverdrossen anstarrte beruhigte er sich. „Ehrlich, Scully. Um Ärger von Skinner zu bekommen muss in meinem Leben etwas Interessantes passiert sein. Ich wünschte fast ich hätte etwas das aufregend genug ist um Skinner zu verärgern.“



„Mulder, bitte, ich war gerade dabei zu entspannen und die Atempause zu genießen.“ Skinner stand in der Tür.



*Zweieinhalb Minuten* dachte Scully kläglich und versuchte nicht zu grinsen als ihr Partner fast mit seinem Stuhl umgefallen wäre.



Schuldbewusst nahm Mulder die Füße vom Schreibtisch und versuchte eine etwas professionellere Haltung anzunehmen. „Was verschlägt Sie ins Niemandsland, Sir?“



Skinner blickte von Mulder zu Scully und dann weg. Seine Kiefermuskeln spannten kurz an und er steckte die Hände in die Taschen.



„Ich muss mit Ihnen über etwas sprechen, Mulder, und ich dachte mir, Ihr Büro sei der bessere Ort dafür.“



Mulder studierte Skinners Gesicht und mochte gar nicht, was er in der angespannten Mundpartie und den Linien um seine Augen sah. Erneut ging er in Gedanken alle seine Aktivitäten durch um herauszufinden, was ihn in diese Situation gebracht haben könnte. Aber da war nichts.



„Scully, vielleicht sollten Sie einen Moment draußen warten...“



„Nein, Scully, Sie gehen nirgendwo hin.“, sagte Mulder ungeduldig und hob seine Hand. „Sir, ich weiß nicht was los ist, aber ich fänd’s toll wenn Sie aufhören würden um den heißen Brei zu reden und endlich zur Sache kommen. Wenn ich in irgendwelchen Problemen stecke...“



Skinner unterbrach ihn bevor er fortfahren konnte. „Sie stecken nicht in Problemen, Mulder. Tut mir Leid, ich wollte nicht diesen Eindruck erwecken.“ Er nahm die Brille ab und drückte den Nasenrücken. Als er fortfuhr war seine Stimme seltsam sanft. „Es fällt mir nicht leicht dies zu sagen. Ich bin in einer persönlichen Angelegenheit die nichts mit dem FBI zu tun hat hier.“



Etwas verwirrt zog Mulder die Stirn in Falten. „Persönlich?“



Skinner holte tief Luft. „Vor etwa 10 Minuten erhielt ich einen Anruf aus einem Krankenhaus in Connecticut. Ihre Mutter wurde heute Morgen dorthin gebracht. Ein Nachbar, den sie zum Brunch treffen wollte, war besorgt, weil sie nicht erschienen war. Sie ging nachschauen und fand sie zusammengebrochen im Wohnzimmer. Sie rief den Notarzt und sie brachten Ihre Mutter ins Krankenhaus. Die Ärzte stellten fest, dass sie einen weiteren Schlaganfall erlitten hatte.“



Als Skinner seine Mutter erwähnte, sprang Mulder abrupt auf, sein Gesicht starr. Jetzt stopfte er einige Ordner in seine Aktentasche, seine Augen wanderten unruhig durch den Raum, als ob sie nach etwas suchten, aber sein Blick war leer. Scully sah Skinner an und ihr Magen verkrampfte sich bei dem was sie da sah. Die Miene ihres Bosses war ernst, jedoch mit einem Hauch Mitgefühl versehen. Es war offensichtlich, dass er um ihren Partner besorgt war. Mulder hatte anscheinend noch nicht alles gehört, was Skinner zu sagen hatte.



„Mulder.“



Das Mitgefühl, welches Scully in Skinners Gesicht entdeckt hatte äußerte sich noch deutlicher in diesem einen Wort. Mulder packte weiter seine Sachen zusammen als ob er nicht zugehört hätte, aber als er nach seinem Mantel griff, sah sie, dass seine Hände zitterten.



„*Mulder*“



Die Stimme war stärker, autoritärer, aber nicht weniger mitfühlend. Skinner legte seine große Hand mit einer Sanftheit auf Mulders Schulter, dass Scully überrascht blinzeln ließ. Durch die Berührung schien der Adrenalin­stoß, der durch Mulder gefahren war, genau so schnell zu verschwinden wie er gekommen war. Er ließ die Ak­tentasche auf den Tisch fallen und hob langsam seinen Blick zu Skinners. Scully konnte sehen, dass er Bescheid wusste – wahrscheinlich instinktiv von dem Augenblick an als Skinner angefangen hatte zu sprechen. Sie konnte das alles in seinen weit aufgerissenen, starren Augen lesen.



*Sagen Sie’s nicht. Bitte. Wenn Sie es sagen wird alles Realität...*



„Der Schlaganfall war massiv. Sie war schon tot als die Sanitäter bei ihr eintrafen. Sie haben alles versucht um sie wiederzubeleben, aber...“



Mulder sank in seinen Stuhl, seine Beine klappten zusammen als ob sie auf einmal nicht mehr in der Lage wären seine schlaksige Gestalt zu tragen. Er leckte über seine trockenen Lippen und schluckte schwer, seine Augen glasig und nicht fokussiert. Skinner wusste offensichtlich nicht weiter und fuhr fort.



„Die Ärzte sagten mir, dass es so aussah als ob sie sofort tot war, Mulder. Sie haben mir versichert, dass sie nicht gelitten hat.“



Mulder schluckte erneut und mit einem riesigen Kraftaufwand lenkte er seinen Blick auf Skinner. Was dieser da sah ließ ihn zusammenzucken. Schock, ja... aber auch noch etwas Tiefergehendes, Beunruhigendes. Es war als ob sich eine schreckliche Leere in seinem Agenten aufgetan hatte und drohte ihn zu aufzusaugen bis seine Seele davon implodieren würde. Er blickte zu Scully und sah, dass sie seine Sorge teilte.



„Ich habe Kim gebeten, die Unterlagen für Ihren Abwesenheit zurechtzulegen, Mulder“, sagte er sanft. „Machen Sie sich keine Sorgen was hier ist. Nehmen Sie alle Zeit die Sie brauchen!“



Als er merkte, dass er keine Antwort erhalten würde, wandte sich Skinner zur Tür und sah Scully eindringlich an, als er an ihr vorbei ging. Die Bedeutung dieses Blickes war klar: *Passen Sie auf ihn auf!* Sie nickte fast unmerklich um ihn wissen zu lassen, dass seine Botschaft angekommen war. Skinner hielt, nach den richtigen Worten suchen, auf der Schwelle inne. Letztendlich seufzte er nur tief.



„Es tut mir sehr Leid, Mulder. Bitte lassen Sie mich wissen, wenn ich irgendwas tun kann.“



Scully wartete während sie Skinners Schritten lauschte, die im Gang widerhallten. Sie hörte das Rattern der Aufzugtüren, die sich öffneten und wieder schlossen, und dann absolute Stille. Mulder bewegte sich nicht, sprach nicht, und schien kaum zu atmen. Sie kämpfte mit dem überwältigen Drang diese Stille mit Worten zu füllen, egal wie banal und bedeutungslos sie sein würden. Gerade als sie glaubte sie könne es nicht länger ertra­gen, begann Mulder zu sprechen. Seine Stimme war heiser, voll mit einer Unmenge an unterdrückten Gefühlen, aber seine Augen blieben trocken.



„Dann werd’ ich wohl einen Flug buchen müssen.“



Die Worte klagen hölzern, fast ohne jede Betonung, aber trotz seiner Worte bewegte er sich nicht. Er starrte weiterhin Luftlöcher, mit den Gedanken an einem Ort den Scully nicht kennenlernen wollte. Nach kurzem Zö­gern griff sie nach ihrem Telefon und rief bei der Fluggesellschaft an.



„Ja, ich hätte gerne Informationen zu Flügen von Washington DC nach New York, JFK International.“ Sie lauschte während sie bemerkte, dass Mulder ihr so gut wie keine Beachtung schenkte und immer noch in seinen Gedanken verloren war. „Halb 6 hört sich gut an. Ja, Economy. Zwei.“



Ahh. Gut. Das erregte seine Aufmerksamkeit. Mit einem Schlag war er wieder voll da und blickte sie fragend an. Sein Gesichtsausdruck war vielfältig: Verwirrung, Unruhe und Hoffnung. Scully ignorierte ihn für den Augen­blick, holte ihre Kreditkarte hervor und las die Nummer vor, das Ablaufdatum, wiederholte alles geduldig meh­rere Male für den etwas langsam arbeitenden Telefonmenschen. Als sie endlich auflegte zog sie nur die Augen­brauen hoch, als sie seinem scharfen Blick begegnete, und forderte ihn unausgesprochen dazu auf, etwas dazu zu sagen. Wie immer enttäuschte Mulder sie nicht.



„*Zwei*, Scully?“



„Mulder, Ihre Mutter hat alles arrangiert als Ihr Vater verstarb. Ich dahingegen war an der Seite meiner Mutter als sie alles für Ahab arrangierte.“



Sie zögerte nur kurz. Auch nach 5 Jahren war die Wunde noch empfindlich. Die Emotionen in ihrem eigenen Gesicht durchbrachen fast Mulder’s Mauer, aber er sah schnell weg, musste aber mit den Augen blinzeln. Scully tat so, als ob sie es nicht bemerkte, verstaute es aber im Hinterkopf für spätere Momente. *Irgendwann müssen Sie es rauslassen, Mulder.*



Sie stand auf und ging hinüber zu seinem Schreibtisch und zwang ihn damit dazu, sie anzusehen. Sie wollte ihn berühren, ihre Hand zum Trost in seine legen, aber sie wußte, dass dies Emotionen in ihm heraufbeschwören würde, die er im Moment noch nicht bereit oder unfähig war zu meistern. Stattdessen legte sie ihre volle Unter­stützung in ihren Blick um zu tun was in der offenen Verbindung zwischen ihren Augen möglich war. So oft schon hatten sie nur durch Blicke kommuniziert und sie hoffte inbrünstig, dass ihr diese Fähigkeit jetzt helfen würde.



„Ich möchte für Sie da sein, Mulder. Bitte, lassen Sie mich!“



Es kostete ihn fast seine Selbstkontrolle. Seine haselnußbraunen Augen, im Moment eher wie das stumme Grau eines wolkigen Tages, füllten sich mit Tränen und er schloß seine Augen schnell, bevor eine davon entkommen konnte während er wild auf seiner Unterlippe kaute. Als er endlich wieder Herr seiner Gefühle war stand er auf und griff nach der Aktentasche. Sein Blick entwich ihrem, aber seine Stimme war rauh mit Emotionen als er sprach.



„Ich hole Sie um 16 Uhr ab.“



Sie sah ihm nach und unterdrückte die Worte die ihren Lippen entspringen wollten. Eigentlich sollte er jetzt nicht fahren, wo er immer noch mit der Nachricht des Todes seiner Mutter kämpfte und nur schwer damit umzu­gehen wusste. Sie wollte protestieren, ihn dazu bewegen seinen Wagen stehen zu lassen und es ihr zu erlauben, ihn nach Hause zu fahren um zu packen. Stattdessen zügelte sie ihre Zunge und dachte darüber nach, welch Vertrauen Mulder ihr geschenkt hatte, dass er ihr erlaubte in seiner wohl verwundbarsten Stunde an seiner Seite zu bleiben. Er hatte ihr ein Geschenk gemacht und sie schwor sich es zu schätzen.







Lincoln Memorial Friedhof

Donnerstag

14:30 Uhr



Es regnete den ganzen Tag der Beerdigung. Ein regelmäßiger, eisiger Schauer sorgte zusammen mit kaum über Null liegenden Temperaturen dafür, dass man bis auf die Knochen fror. Während der kurzen Zeremonie stand Scully nahe bei ihrem Partner, einen Arm bei ihm eingehakt, damit sie mit dem großen Regenschirm ihnen bei­den Schutz gewähren konnte. So oft hatte Mulder denselben Regenschirm vorsichtig über sie gehalten, wenn sie im Außendienst unter weniger als optimalen Bedingungen arbeiten mussten. Es war irgendwie komisch ihm diesen Gefallen nun zu tun.



Nicht dass es Mulder aufgefallen wäre. Er stand stocksteif an ihrer Seite und starrte schweigend auf den mit Blumen dekorierten Sarg. Sie spürte, wie er sich verzweifelt zusammenriss und gegen das Zersplittern seiner Seele ankämpfte, welches begonnen hatte, als Skinner vor nur 48 Stunden ihr Büro betrat. Scully wusste, dass der Augenblick, wo seine reine Willenskraft nicht mehr ausreichte, und der unvermeidliche Zusammenbruch stattfinden würde, schnell näher kam. Sie fragte sich, wie viel mehr er noch ertragen könnte.



Sie beobachtete ihn, wie er sich mit einer älteren Dame, wahrscheinlich eine Nachbarin, leise unterhielt. Der Regen machte momentan eine Pause und sie ging ein paar Schritte um Mulder etwas Privatsphäre zu gönnen und ihm die Gelegenheit zu geben die Beileidsbekundungen der wenigen Leute, die erschienen waren um Teena Mulder die letzte Ehre zu erweisen, entgegen zu nehmen. Oberflächlich gesehen sah er okay aus – ein Sohn, der um seine Mutter trauert, aber damit umgehen kann. Aber Scully wusste es besser. Seine Augen waren dunkel und von Müdigkeit überschattet, seine Schultern hielt er steif und sein Lächeln war brüchig und erzwungen.



*Mulder, früher oder später müssen Sie es rauslassen. Sie können den Schmerz nicht einfach verleugnen.*



Als Skinner näher kam wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Er hielt kurz an um einen Strauß auf den Sarg zu legen und drückte Mulders Schulter schnell als er vorbeiging. Scully schenkte ihrem Boss ein warmes Lächeln, gerührt von der Tatsache, dass er überhaupt erschienen war. Sie wusste, dass es für ihn nicht einfach war dem Büroalltag zu entkommen, und dass es einigen Aufwand gekostet haben musste, seinen Terminplan zu ändern. Sogar Mulders teilnahmsloser Ausdruck hatte sich etwas geändert als Skinner die Kirche betrat.



„Scully“, grüßte Skinner als er sich zu ihr neben ihrem Leihwagen begab.



„Vielen Dank dass Sie gekommen sind, Sir. Ich weiß dass Mulder Ihre Teilnahme zu schätzen weiß.“



Skinner folgte ihrem Blick zu dem betreffenden Mann, um dann ihr Gesicht zu studieren. „Wie geht es ihm?“



Scully seufzte während sie überlegte, ob Skinner die gekürzte oder ausführliche Version der Wahrheit hören sollte. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für die letztere.



„Es geht ihm nicht gut, Sir. Er legt eine bemerkenswerte Fassade an den Tag, aber es ist eben nur das: eine Fas­sade. Er isst nicht, und aus den Ringen unter seinen Augen schließend würde ich sagen, dass er auch nicht schläft. Ich weiß nicht, warum er das Gefühl hat seinen Schmerz vor mir verbergen zu müssen.“



Skinner zog die Augenbrauen hoch und sagte mit einem minimalen Grinsen: „Er sagt Ihnen ständig, dass es ihm gut geht?“



Scully zuckte zusammen als er ihr den Wind aus den Segeln nahm und musste widerwillig lächeln. „Ich sehe was Sie meinen.“ Sie entschied sich dazu das Thema zu wechseln. „Sind Sie hierhin geflogen?“



Skinner nickte. „Ich habe allerdings Probleme mit dem Rückflug. Ich musste einen morgen früh nehmen, also brauche ich für die Nacht ein Motel. Ich habe gehofft, dass Mulder mir etwas empfehlen kann.“



Scully verdrehte die Augen. „Offensichtlich haben Sie noch nie in einem Motel hausen müssen, das Mulder ausgesucht hat, sonst würden Sie das nicht vorschlagen.“ Ihr Ausdruck wurde nachdenklich. „Wir haben bis jetzt in einem Motel geschlafen, aber heute Nacht werden wir in Mrs. Mulders Haus bleiben. Er muss anfangen ihre Sachen durchzugehen. Sir, ich denke Mulder hätte nichts dagegen, wenn Sie auf der Couch nächtigen. Das würde Ihnen wenigstens eine Ausgabe ersparen.“



Skinner war unsicher und seine Stirn runzelte sich etwas. „Ich weiß nicht ob das eine gute Idee ist, Scully. Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.“



„Wem zur Last fallen?“, ließ sich Mulders Stimme hören. Sein plötzliches Auftreten erschreckte die beiden. Mulder streckte Skinner seine Hand entgegen und sie schüttelten sie feierlich. „Danke.“



Skinner nickte fast unmerklich – er hatte verstanden.



„Der A.D. kann vor morgen früh keinen Rückflug nehmen, Mulder“, erklärte Scully. „Ich sagte ihm, dass Sie sicher nichts dagegen haben, wenn er auf der Couch übernachtet.“



„Mulder, ein Motel ist genauso gut, wenn Sie mir eines empfehlen können.“, protestierte Skinner.



Mulder hob eine Hand um ihn zum Schweigen zu bringen. „Nein, Sir. Scully hat Recht. Das ist das Mindeste, was ich für Sie tun kann, nachdem Sie den Weg hierhin auf sich genommen haben. Wir haben jede Menge Platz, es ist keine Belastung!“ Als er sah, dass Skinner immer noch zweifelnd guckte, schaffte er es zu lächeln. „Falls es Ihr Gewissen beruhigt, können Sie mir dabei helfen einige Kisten aus dem Keller zu holen.“



„Abgemacht, Mulder.“, erwiderte Skinner. „Um ehrlich zu sein, bin ich erleichtert. Scully zufolge haben Sie nicht den besten Geschmack was Motels betrifft.“



Mulder warf Scully einen übertrieben schwermütigen Blick zu. „Scully, das tut weh. Wie können Sie das nach all den Nächten im Schoße des Luxus behaupten?“



„Ich würde Absteigen wie Bert’s Sleep n‘ Eat nicht als Schoße des Luxus bezeichnen, Mulder“, entgegnete sie trocken.



Mulder ignorierte die Anspielung und wandte sich stattdessen an seinen Vorgesetzten. „Sie können uns folgen, Sir. Es ist ungefähr 10 Minuten von hier.“



Skinner tat genau das und dachte über den Mann in dem blauen Ford Taurus nach, als er ihnen folgte. Mulder hatte mehr durchgemacht als zehn Männer. Niemand sollte im Alter von 38 Jahren der einzige Lebende seiner Familie sein. Seine Schwester war vor seinen Augen entführt worden und kam nie mehr zurück. Sein Vater wurde, kurz bevor er ihm die Wahrheit darüber hatte mitteilen wollte, ermordet. Und jetzt war auch seine Mutter tot ohne eine Chance auf Wiedergutmachung für das was zwischen ihnen vorgefallen war.



Er beobachtete Mulder und Scully als sie fuhren und bemerkte, dass Scully ständig den Kopf drehte um ihren Partner zu betrachten. Skinner wusste, dass sie aus gutem Grunde um ihren Partner besorgt war. All seinen loc­keren Worte auf dem Friedhof, so vermutete Skinner, waren nur eine dünne Fassade die er vorsichtig errichtet hatte um seine aufgewühlten Gefühle darunter zu verbergen.



Sie erreichten Mrs. Mulders zweistöckiges Haus in Cape Cod und Skinner holte seine Tasche aus dem Koffer­raum bevor er sich zu Mulder und Scully auf der großen Veranda vor der Haustüre gesellte. Mulder hatte einen Schlüsselbund aus der Hose gezaubert und suchte nun den richtigen Schlüssel heraus. Als er diesen ins Schloss steckte, bemerkte Skinner das leichte Zittern seiner Hand. Er blickte zu Scully und sah das gleiche besorgte Stirnrunzeln mit dem sie ihn schon auf dem Friedhof betrachtet hatte.



Sie betraten den düsteren Flur in dem bis auf das leise Ticken einer Uhr eine bedrückende Stille herrschte. Mul­ders Gesicht war unbeweglich und seine Augen waren auf ein paar Familienfotos gerichtet, die an einer Wand zu seiner Linken hingen. Skinner bewegte sich unbeholfen und fühlte sich plötzlich unbehaglich. Es war fast als ob die Zeit stillstand und darauf wartete, dass Teena Mulder das Haus betrat. Scully nahm ihren Blick von Mulder und drehte sich zu Skinner.



„Ich kann das für Sie nach oben bringen, Sir. Wir können das bis heute Abend in eines der Zimmer legen.“, sagte sie auf seine Tasche deutend.



Skinner schüttelte den Kopf und nahm Mulders Tasche aus dessen schlaffen Griff. „Seien Sie nicht albern, Scully. Sagen Sie mir nur wo’s lang geht.“



Mulder schüttelte seine Apathie von sich. „Erste Tür rechts, das ist das Gästezimmer, Scully.“



Scully war hin- und hergerissen und wusste nicht ob sie Mulder etwas Zeit alleine geben oder ihn besser nicht aus den Augen lassen sollte, nickte dann aber und ging vor Skinner die lange, enge Treppe hinauf. Mulder lauschte einen Augenblick dem Knarren des alten Holzes als sie die Treppe hinaufstiegen und ging dann nach rechts durch die Tür ins Wohnzimmer.



Er schloss die Tür hinter sich und entledigte sich seines Trenchcoats, den er über einen der Sessel legte. Es zog ihn zu dem umgefallenen Wohnzimmertisch der den Punkt markierte an dem seine Mutter ihre letzten Atemzüge tat. Ein kleinerer Tisch und ein Ottomane waren achtlos in eine Ecke befördert worden, wahrscheinlich von den Sanitätern als sie versuchten seine Mutter wiederzubeleben. Mulder starrte auf den großen, freien Platz auf dem Boden und sank daneben auf die Knie. Er legte eine zitternde Hand auf die glatte Stelle des orientalischen Läu­fers und entgegen aller Vernunft hoffte er noch etwas von der Wärme des Körpers, der hier gelegen hatte, zu fühlen. Aber alles, was seine Finger ertasteten, war eine kalte Leere und seine Eingeweide verkrampften sich schmerzhaft.



Er kniff seine Augen zusammen und hielt sich beide Ohren zu, war jedoch nicht in der Lage, die Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.



*Du hast deinen Mann betrogen, meinen Vater!*



*Niemals!*



*Wie lang ging das schon so?*



*KLATSCH! Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen hierher zu kommen und mich zu beschuldi­gen?*



*Wer ist mein Vater?*



*Was willst du? Ihn nochmal umbringen?*



*Beantworte nur die Frage, Mom!*



*Ich bin deine Mutter und ich werde deine Fragen nicht weiter tolerieren!*



Der Schluchzer, der in seinem Halse gefangen war, löste sich stoßweise, herzzerreißend und von einem Ort in seiner Seele, der zu tief begraben lag, um benannt zu werden. Ein weiterer folgte, und noch einer, verbunden durch eine endlose Kette der Trauer. Er beugte sich vor bis sein Gesicht auf den Boden drückte, vielleicht an der gleichen Stelle an der sie nach Atem ringend zusammengebrochen war.



Auf einmal schienen die Wände näher zu rücken und er schnappte nach Luft. Aller Logik beraubt übernahm ein Gedanke sein Gehirn und letztendlich auch seinen Körper – er musste raus, weg von den Geistern, die um ihn schwirrten und deren Anwesenheit fast spürbar war. Er handelte automatisch, kam irgendwie auf die Füße, stieß die französische Tür auf und rannte hinaus in den kalten Regen ohne einen Blick zurück.





Teena Mulders Haus

Donnerstag

15:18 Uhr



Scully ging die Treppe runter während Skinner sich im Gästezimmer noch umzog. Sie selber hatte ihr Kostüm in weiser Voraussicht gegen ausgewaschene Jeans und einen alten Georgetown Pulli getauscht. Sie war sicher Mulder im hinteren Teil des Hauses zu finden, in dem sich eine geräumige Küche und ein kleines Wohnzimmer mit Kamin befand. Sie ging den langen Flur entlang zur Wohnzimmertür und sprach schon auf dem Weg mit ihm.



„Sie ziehen besser den Anzug aus, Mulder. Armani trägt sich nicht gut wenn man den Keller ausräumt...“



Sie verstummte als sie bemerkte, dass beide Räume leer waren. Tatsächlich sah es so aus als ob nach Teena Mulders Tod niemand mehr in diesem Teil des Hauses gewesen sei. Eine halb leere Tasse Tee stand neben der Zeitung die das Datum von Dienstag trug. Die Spüle war gefüllt mit kaltem, schmutzigen Wasser und etwas Geschirr stand noch zum Trocknen da und wartete darauf weggeräumt zu werden. Ihr Herz verkrampfte sich, als sie die kurze, handgeschrieben Notiz auf dem Kühlschrank sah.



*Donnerstag Sachen aus der Reinigung holen*



Die Zeit war weiter gelaufen und hatte Teena Mulder zurückgelassen.



Scully riss ihren Blick von der Notiz und ging den Weg zurück bis zur Treppe wo sie fast mit Skinner zusammen stieß, der gerade herunter kam. Auch er hatte sich Jeans und einen grünen Pullover angezogen. Scully musste zweimal hingucken. Sie war es gewohnt, ihn in seiner „Macht“-Kleidung zu sehen, ihn in Freizeitkleidung zu sehen war gewöhnungsbedürftig.



„Mulder ist nicht oben, oder?“, fragte sie, schaffte es aber nicht unbesorgt zu klingen.



Skinner runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab ihn nicht gesehen.“



Scully sah durch die Glastür ins Wohnzimmer und hoffte ihren Partner zu erblicken. Sie öffnete die Tür und trat in das Zimmer, ihr Blick nahm den selben Weg wie der ihres Partners zuvor. Sie bemerkte den achtlos abgeleg­ten schwarzen Trenchcoat und die große freie Stelle mitten im Zimmer. Sie hatte genügend Tatorte gesehen um zu wissen, was sich dort abgespielt hatte.



„Mulder?“, rief sie leise obwohl der Raum offensichtlich leer war.



Skinner ging an ihr vorbei und seine Augen scannten jeden Winkel des Raumes und des Mobilars. „Nun ja, wir wissen, dass er hier war. Der Trenchcoat beweist das.“



Scully spürte einen kalten Luftzug um ihre Füße und ihre scharfen Ohren vernahmen ein leises Rattern. Urplötz­lich erinnerte sie sich an den Tag vor einiger Zeit, als sie einen aufgewühlten und etwas verwirrten Mulder zu diesem Haus gefahren hatte, damit er mit seiner Mutter sprechen konnte. Sie selber hatte unangenehm berührt im Flur gestanden während Mulder seine Mutter in genau diesen Raum gebeten hatte. Die geschlossene Tür hatte die wütende Auseinandersetzung und den scharfen Knall einer Ohrfeige nicht vor ihr verbergen können. Nach­dem Teena wütend die Treppe hinauf gestürmt war, war Scully in einen leeren Raum getreten um festzustellen, dass ihr Partner sie mal wieder hatte sitzen lassen.



Ihre Unruhe verschlimmerte sich nur durch diese Erinnerung und Scully schritt schnell zu der französischen Tür welche direkt nach draußen führte. Noch als sie nach dem Türknauf griff, sah sie, dass die Türe offen stand.



„Scully?“, fragte Skinner.



„Sie ist offen. Er muss nach draußen gegangen sein.“ Sie bemühte sich ihre Stimme ruhig wirken zu lassen, aber ihre Augen wurden wie magisch von dem Trenchcoat angezogen. Skinner zählte eins und eins zusammen und wusste woran er war.



„Warten Sie, ich hole unsere Jacken“, sagte er und Scully musste feststellen, dass er in Krisensituationen auto­matisch in den Kommando-Modus wechselte.


Einen Augenblick später war er wieder da und Scully nahm stumm sein Angebot an, als sie hinaus in den Regen trat. Die Schauer hatten wieder eingesetzt und die Tropfen prasselten auf ihre entblößte Haut wie kleine Nadeln. Eine Windbö verwandelte ihre Haare in eine rote Wolke bis sie es ungeduldig geschafft hatte, die Strähnen hin­ter ihre Ohren zu klemmen.



„Ich gehe vorn herum“, sagte Skinner, dessen Brille bereits nass war.



Scully nickte und wand sich dem Garten zu. „Mulder!“, rief sie gegen den Wind, der ihr die Worte wieder ins Gesicht schleuderte.



Ihre Ohren, ganz darauf konzentriert seine Stimme auszumachen, hörten nur das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Gurgeln des Wassers in der Regenrinne. Sie ging um die Ecke des Hauses. Ihr Herz schlug mit jedem Schritt schneller und ihre Knie wurden weicher. Der geräumige Garten ging sanft bergab bis zu einer Steinmauer, die an beiden Seiten von Fliederbüschen eingesäumt war. Fast hätte sie ihn nicht gesehen, da seine bewegungslose Gestalt vom Regen verschleiert wurde. Er saß auf einer Schaukel, Gesicht zur Wand gerichtet, und schaukelte leise hin und her.



Scully biss sich auf die Unterlippe, stand einen Moment still und versuchte ihre Atmung zu beruhigen. Das letzte was sie jetzt wollte, war ihn zu erschrecken. Entschlossen schritt sie über das nasse Gras und um die Schaukel herum, damit sie ihn ansehen konnte. Was sie sah ließ ihr die Worte im Munde gefrieren noch ehe sie diese aus­gesprochen hatte.



Er weinte und seine Tränen vermischten sich mit dem Regen bevor sie seine Wangen hinunter liefen. Seine Au­gen waren elend verkniffen und er kaute so wild auf seiner Lippe, dass Scully sicher war dass er bluten würde. Es gab nur ein einziges Wort das den Mann vor ihr beschreiben konnte. Den Mann, der die letzten zwei Tage damit verbracht hatte der Trauer zu entkommen, die wie ein Raubtier um ihn schlich und nun ihre Klauen in ihn senkte. Verzweifelt.



Sie verkniff sich ihre Tränen und glitt neben ihm auf die Schaukel, sich seinem Rhythmus anpassend. Als er nicht zeigte, dass er ihre Anwesenheit bemerkt hatte, legte sie ihre Hand auf die seine. Sie hielt die Luft an, als sie seine eisige Haut berührte.



„Mulder, Sie müssen reinkommen“, murmelte sie und rubbelte seine Hand zwischen ihren, bevor sie eine Hand hob um seine Wange zu streicheln. Sogar seine Tränen fühlten sich kalt an, als sie sie mit ihrem Daumen weg­wischte.



Langsam ließ Mulder seinen Blick zu ihr wandern und als sie ihm in die Augen schaute, erschrak sie. Es sah so aus, als ob er den Bezug zur Realität verloren hatte. Es schien ihn nicht zu stören, dass seine Haut eiskalt war und seine nassen Haare und Klamotten an seinem Körper klebten.



„Ich hab alles zerstört, Scully“, flüsterte er niedergeschlagen. „Ich hab alles zerstört.“



Der plötzliche Druck einer großen Hand auf ihrer Schulter ließ Scully erschrocken die Luft anhalten. Sie sah auf in Skinners warme, braune Augen und fühlte eine komische Art Erleichterung. Skinner nickte seinen Kopf in Mulders Richtung, eine unausgesprochene Frage, wie er helfen konnte.



„Wir müssen ihn rein bringen und aufwärmen, sonst holt er sich noch einen Lungenentzündung“, bemerkte sie knapp.



Ohne weitere Instruktionen abzuwarten ging Skinner an Mulders Seite und packte dessen Arm. „Kommen Sie, Mulder“, sagte er sanft.



Aber Mulder bewegte sich nicht und er schien auch nicht zu merken, dass Skinner da war. Er weinte und schau­kelte einfach weiter. Skinner blickte hilflos zu Scully rüber, als ihm eine Eingebung kam.



„Mulder, Scully wird sich erkälten, wenn wir hier draußen bleiben. Lassen Sie uns rein gehen.“



Es funktionierte. Als Skinner seine Partnerin erwähnte, verlor sich der leere Ausdruck in Mulders Augen und er schaute kurz zu Scully bevor er Skinner ansah. Er nickte kaum merklich und erlaubte Skinner ihm auf die Füße zu helfen und ihn zurück zum Haus zu bringen. Scully führte ihn wieder ins Wohnzimmer wo Skinner ihn auf dem Sofa deponierte und sich dann eiligst daran begab ein Feuer im Kamin zu machen. Scully holte eine Decke von der Couchlehne und verpackte ihren mittlerweile heftig zitternden Partner darin, nachdem sie ihn von seiner klatschnassen Krawatte sowie dem Hemd befreit hatte.



„Ich bin gleich wieder da, Mulder“, sagte sie beschwichtigend und strich sein nasses Haar aus seinen Augen, die noch immer glänzten. „Ich hole Ihnen nur ein paar trockene Sachen.“



Skinner hielt in seiner Arbeit inne um sie anzublicken und ihr zu signalisieren, dass er auf ihn aufpassen würde. Als Scully mit einigen flauschigen Handtüchern und einer Jogginghose zurück kam hatte ihr Boss es geschafft ein Feuer zu entfachen welches die Kälte langsam aus dem Raum trieb. Sie legte Mulder die Kleidung auf den Schoß und entsandte einen Blick an Skinner mit der Bitte in der Küche einen Kaffee aufzusetzen.



Zehn Minuten später saß sie neben Mulder auf der Couch, seine unberührte Kaffeetasse stand auf dem Couch­tisch vor ihnen. Skinner hatte ihm aus seinen nassen Klamotten und in die trockenen geholfen und saß nun neben der Feuerstelle um gelegentlich das Feuer zu schüren, wenn es drohte auszugehen. Das Zittern war verschwun­den und Mulders Haut fühlte sich warm an als Scully seine Hand in ihre nahm, aber seit er auf der Schaukel zu ihr gesprochen hatte, hatte er kein weiteres Wort geäußert. Seine Augen schwammen noch mit kaum im Zaum zu haltenden Tränen.



„Reden Sie mit mir, Mulder“, bat Scully leise.



Mulder kniff die Augen zusammen und zog seine Hand aus ihrer. Dann beugte er sich vor, stemmte die Ellbogen auf die Knie und vergrub seinen Kopf in den Händen. Seine Antwort – als sie kam – war irgendwas zwischen einem Flüstern und einem Ächzen.



„Ich kann nicht. Schmerzt zu sehr.“



Seine Worte brachen ihr das Herz. „Sie können das nicht für immer in sich begraben. Es wird nicht aufhören. Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Als Ahab starb...“



Mulder hatte seinen Kopf gehoben und schüttelte ihn bevor sie noch mehr sagen konnte. In seinem Gesicht zeigte sich eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut. „Sie *wissen* das nicht, Scully. Sie haben keine Ah­nung was ich fühle, also tun Sie nicht so als ob.“



Skinner sah zu wie Scullys Gesichtsausdruck sich von einer Sekunde auf die andere erst Mitgefühl und dann Entrüstung zeigte.



„Wie können Sie das zu mir sagen? Sie sind nicht der Einzige, der jemand Lieben verloren hat, Mulder. Glauben Sie mir, mir tut es genauso weh – vielleicht sogar noch mehr, da ich wenigstens ein inniges Verhältnis zu Ahab hatte.“



„Scully“, warnte Skinner.



Die Warnung ihres Vorgesetzten und die Art und Weise wie Mulder zusammenzuckte erstickten ihre Wut im Keim und sie schämte sich etwas. Sie presste ihre zitternden Finger auf ihre Lippen und ihre blauen Augen wur­den groß als sie bemerkte was ihr Gefühlsausbruch bewirkt hatte. Mulder hatte die Schultern hochgezogen, als ob er einen Hieb erwartete.



„Mulder, es tut mir schrecklich leid. Das wollte ich nicht, ich bin nur etwas wütend geworden.“



Er ließ seine Hände sinken und drehte sich langsam um sie anzugucken. Sein Gesichtsausdruck schien sich durch seine unterdrückten Gefühle verändert zu haben und für einen Moment glaubte sie, einen anderen Menschen zu sehen. Mit einem unangenehmen Ruck erkannte sie, was diesen Ausdruck verursachte: Resignation.



Scully hatte eine ganze Palette an Erfahrungen mit Mulder gesammelt sowie die Gefühle die diese begleiteten. Sie kannte ihn rasend, neugierig, entschlossen, am Boden zerstört, erfreut, sarkastisch und sogar betrunken. Sie hatte die Kräfte gesehen, die nicht nur einmal versucht hatten, Mulder’s Kampfgeist zu brechen. Ihr Mulder war viele Dinge, aber zu allererst ein Kämpfer. Dies hier war ein Fremder.



„Sie müssen sich nicht entschuldigen“, sagte er rauh. „Entschuldigen Sie sich niemals für die Wahrheit. Sie haben Recht. Ich trauere um eine Mutter mit der ich seit zwei Jahren nicht mehr gesprochen habe. Wie war Ihr letzter Besuch bei Ihrem Vater, Scully? Haben Sie zusammen gegessen? Hat er wissen wollen, wie es Ihnen geht? Hat er Sie zum Abschied geküßt? Die letzten Worte, die meine Mutter und ich getauscht haben waren bittere Anschuldigungen und ein wütendes Dementi. Das letzte Mal, dass meine Mutter mich berührt hat...“, seine Stimme brach und seine Brust erzitterte durch einen stummen Schluchzer, während er langsam seine Hand auf seine linke Wange legte und eine Träne ihren Weg die rechte Wange herunter machte.



Scully’s Augen füllten sich mit Tränen als die Erinnerung an diesen Tag ein zweites Mal hoch kam. „Mulder...“



„Jetzt ist nichts mehr da.“ Er versuchte zu lächeln, aber es sah wie eine Grimasse aus. „Nicht, dass da jemals viel da war. Meine Familie gibt es nicht mehr, und ich hatte eine Hauptrolle in ihrer Zerstörung.“



Scully schüttelte den Kopf, als die Worte, die er auf der Schaukel gesprochen hatte, endlich Sinn machten. Sie öffnete den Mund um seine Behauptung anzufechten, aber Skinner, dessen Anwesenheit sie beide fast vergessen hatten, da er schweigend beim Feuer saß, war schneller.



„Das stimmt nicht, Mulder.“



Mulder richtete seine leblosen Augen auf seinen Boss. Falls Skinner durch Mulders Kontrollverlust verstört war, zeigte er es nicht. „Wirklich, Sir? Was wissen Sie denn darüber?“



„Ich weiß, dass ich mit Ihnen mehr als 5 Jahre gearbeitet habe und ich habe des Öfteren gesehen, wie Sie für Situationen, über die Sie keine Kontrolle hatten, die Verantwortung übernommen haben. Sie haben sich die La­sten der Welt aufgebürdet, und diese hier ist eine weitere, die Sie nicht zu tragen haben.“



„Ich stand tatenlos da als meine Schwester entführt wurde, ein Ereignis, welches meinen Vater in den Alkoho­lismus trieb und letztendlich die Ehe meiner Eltern beendete. Trotz gegenteiliger Versprechen habe ich sie nie gefunden – oder wenn ich das habe, dann ist sie eine Frau geworden die mich weder in ihrem Leben braucht noch haben will. Ich habe auf meines Vaters Couch geschlafen, während er nebenan ermordet wurde und ich habe dieses Rattengesicht, das es getan hat, nie zur Gerechtigkeit gebracht. Ich habe meine eigene Mutter be­schuldigt meinen Vater betrogen zu haben, indem sie mit einem anderen Mann geschlafen hat, welches einen Bruch in unserer Beziehung verursacht hat, den ich nie versucht habe zu reparieren. Und jetzt sagen Sie mir, Sir, wenn das nicht eine Familie zerstören ist, wie zum Teufel würden Sie es nennen?“



„Ich würde sagen, dass Sie ein Mann sind, der verzweifelt seit jungen Jahren versucht die Teile von etwas zu­sammen zu halten das nicht repariert werden kann. Und das war nicht Ihr Fehler! Wenn etwas Ihre Familie zer­stört hat, dann waren es die Entscheidungen von fehlgeleiteten Männern – Entscheidungen, die sehr wahrschein­lich noch vor Ihrer Geburt getroffen wurden.“



Skinner hatte seine Augen in Mulders versenkt und weigerte sich die Verbindung zu kappen. „Haben Sie ir­gendwann einmal daran gedacht, dass Sie nach Samanthas Verschwinden der Grund waren, der Ihre Eltern hat weitermachen lassen, trotzdem so viel zerstört war? Dass die Trauer sie ohne Sie vielleicht vollständig einge­nommen hätte?“



Mulder verzog das Gesicht ob dieser Worte und konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Scully zog ihn in eine Umarmung, seinen Kopf an ihrer Schulter und schaukelte ihn sanft, wie eine unbewußte Parodie der Schau­kel.



„So ist’s gut, Mulder“, murmelte sie während ihre Finger durch seine Haare strichen. „Lassen Sie’s raus.“



„Ich hätte es ihr sagen sollen, Scully“, weinte er niedergeschlagen. „Ich hätte ihr sagen sollen, dass ich sie trotz allem liebe. Jetzt ist es zu spät.“

Ihr eigenes schmerzhaftes Bedauern nach dem Tod ihres Vaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf und damit auch ein dumpfer Schmerz. Sie rief sich eine wertvolle Erinnerung ins Gedächtnis und lehnte ihre Wange an seinen Kopf, seine seidigen Haare noch immer feucht.



„Sie wusste es, Mulder.“



Sie wartete einen Augenblick auf die unvermeidbare Frage, die folgen würde. Und wie immer enttäuschte Mul­der sie nicht.



„Wie, Scully? Wie können Sie da sicher sein?“



Scully lächelte sanft und blickte nach oben. „Weil, Mulder... weil sie Ihre Mutter war.“





Teena Mulder’s Haus

Freitag

6:10 Uhr





Scully tapste den langen Flur entlang zur Küche, wobei sie sogar durch ihre dicken Wollsocken die Kälte der Fliesen spüren konnte. Obwohl die Sonne schon aufgegangen war, lagen immer noch Schatten über der Gegend, die gelegentlich durch Blitze erhellt wurden während man in der Ferne den Donner grollen hörte. Sie unter­drückte ein Gähnen, als sie die Küchentür öffnete und musste aufgrund der plötzlichen zunehmenden Beleuch­tung blinzeln.



Skinner saß, auf die Ellbogen gestützt, an dem kleinen Tisch, eine Tasse Kaffee in den Händen, und betrachtete durch das große Fenster düster den Sturm. Er warf einen Blick auf Scully und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.



„Der Kaffee ist frisch. Ich hab ihn gerade gemacht.“



Scully schloss die Augen und atmete das schwere Aroma ein bevor sie den Schrank öffnete um eine Tasse zu suchen. Sie füllte sie bis an den Rand und nahm dann einen großen Schluck und seufzte, als das Koffein durch ihr schläfriges Gehirn raste. Nach zwei weiteren Schlucken sah sie Skinner an und bemerkte, dass dieser sie mit einem leichten Lächeln beobachtete.



„Sie sind nicht wirklich ein Frühaufsteher, oder, Scully?“



Scully zog eine Augenbraue hoch und hätte ihm fast „den Blick“ gegeben, als sie sich erinnerte, dass er ihr Boss war, und nicht Mulder. Das unwirkliche Gefühl der letzten Tage wurde stärker, aber sie verdrängte ihr Unbeha­gen. Das hier hatte nichts mit der Arbeit zu tun, das hatte Skinner mit dieser Bemerkung gezeigt. Und überhaupt hatte sie es drangegeben Skinner nur als ihren Boss zu sehen, als dieser bei der Beerdigung auftauchte.



„Sie fangen an etwas zu viel über mich zu wissen, Sir“, sagte sie ironisch. „Mulder hat gelernt, seine Verschwö­rungstheorien für sich zu behalten, bis ich wenigstens die erste Tasse Kaffee intus habe.“ Sie blickte zum Neben­raum. „Wo ich gerade von ihm spreche...“



„Schläft immer noch wie ein Stein“, sagte Skinner. „Überzeugen Sie sich selbst.“



Scully stellte die Tasse auf der Anrichte ab und ging leise durch das abgedunkelte Wohnzimmer hin zur Couch. Obwohl das Feuer schon vor Stunden erloschen war konnte sie die rauchige Asche noch riechen. Mulder lag ausgestreckt auf der Seite. Ein Arm hing vom Kissen runter und schien, Handinnenfläche nach oben, mitten im Raum zu hängen und seine Beine hatten sich hoffnungslos in der Decke verwickelt.



Seine Stirn war entspannt und seine verrußten Wimpern berührten seine Wangen, was ihm eher wie einen vom langen Spielen erschöpften Jungen als wie einen FBI Agenten aussehen ließ. Scully widerstand dem Drang eine Haarsträhne, die darauf bestand immer über sein rechtes Auge zu fallen, weg zu streichen und kehrte stattdessen in die Küche zurück. Sie nahm ihre Tasse Kaffee und setzte sich Skinner gegenüber an den Tisch.



„Und?“ Skinner versuchte ihre Miene zu lesen.



„Und was?“



Skinner guckte irritiert als ob sie sich absichtlich dumm stellte. „Er schläft seit vierzehn Stunden, Scully! Ich hab beim Kaffee kochen einen Heidenlärm veranstaltet, und er hat noch nicht mal mit der Wimper gezuckt. Sind Sie da nicht besorgt?“



Scully unterdrückte ein Lächeln. Skinners Sorge war berechtigt, denn er wusste einfach nicht wie Mulder funk­tionierte.



„Tut mir Leid, Sir. Ich habe nicht daran gedacht, dass Sie noch nie mit Mulder einen Fall bearbeitet haben, der ihn total mitnimmt. Er taucht so sehr darin ein, dass alles andere unwichtig wird. Er isst nicht, er schläft nicht – tagelang. Und wenn der Killer gefasst ist, der Horror vorüber ist, dann bricht er zusammen. So als ob sein Kör­per herunterfährt um den Schaden zu beheben.“



„Und wie sieht’s diesmal aus?“, bohrte Skinner leise. „Ist der Horror vorbei?“



Scully nahm einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse, was ihr Zeit gab darüber nachzudenken, was Skinner wirk­lich gefragt hatte.



„Wenn Sie sich fragen, ob Mulder fertig mit ausflippen ist, dann sag ich ja“, antwortete sie langsam. „Was ge­stern passiert ist war für ihn notwendig um zu entspannen. Seit er vom Tod seiner Mutter gehört hatte, hat er weder gegessen noch geschlafen. Ich wusste, dass er irgendwann den kritischen Punkt erreichen würde. Ich wusste nur nicht wann.“



Sie seufzte tief und lenkte ihren Blick von Skinner weg um aus dem Fenster zu gucken. „Aber wenn Sie wissen wollen, ob er den Tod seiner Mutter verarbeitet hat... Sie haben es ja selbst gesagt. Mulder sammelt Schuld­gefühle wie andere Leute Löffel sammeln. In diesem Punkt ist er mit sich noch nicht im Reinen.“



Skinner dachte über ihre Worte nach während er den Kaffee umrührte und anstarrte. Einen Augenblick lang sah es so aus als ob er auf Scullys Ausführungen etwas erwidern wollte, aber er entschied sich dagegen.



„Es sieht so aus als ob ich Mulder und Ihnen doch zur Hand gehen kann.“, sagte er stattdessen. „Ich habe den Flughafen angerufen. Alle Flüge sind wegen des Wetters verschoben worden. Vielleicht kann ich heute Nach­mittag fliegen. Ich habe Kim aber schon gewarnt, dass ich gegebenenfalls noch einen weiteren Tag abwesend sein werde.“



„Ich denke, wir kriegen Sie schon ans Arbeiten, Sir“, Scullys Augen lachten heiter. Da Mulder kurz nach seinem nicht angebrachten Ausflug in einen tiefen Schlaf gefallen war, waren die Räumarbeiten zunächst auf Eis gelegt worden. „Aber denken Sie dran. Ihre Position verschafft Ihnen keine Privilegien.“



Skinner grunzte. „Dann werde ich mich wie zu Hause fühlen, Scully. Die hab ich beim FBI auch nicht.“



„Verdammt. Sie haben gerade meine Ambitionen, die Karriereleiter zu erklimmen, zunichte gemacht.“ Mulder lehnte in der Tür und sah total verschlafen aus. „Scully, sagen Sie mir dass da noch Kaffee in der Kanne ist oder erlösen Sie mich sofort aus meinem Elend.“



Scully, die schon von ihrer Dosis Koffein profitiert hatte, grinste süffisant und stand auf um ihm eine Tasse ein­zuschenken. Mulder lehnte sich an den Tresen und seufzte zufrieden, als sie ihm seine Tasse gab.



Skinner schüttelte den Kopf: „Wie läuft das bei Ihnen eigentlich früh morgens in dem kleinen Büro ab?“



„Auf die gleiche Weise wie Stachelschweine Liebe machen.“, antwortete Mulder und grinste seine Partnerin an.



Scully sah Skinners verständnislosen Blick und erbarmte sich seiner. „Sehr vorsichtig.“



Skinner verdrehte die Augen. „Vielleicht sollte ich mir einen Wagen mieten. Es sind nur 4 Autostunden bis DC.“







Zwei Stunden später waren alle drei mit einer feinen Schicht aus Staub und Schmutz bedeckt, aber dafür hatten sie praktisch den halben Kellerinhalt durchgegangen, sortiert und für Aufbewahrung, Kleidersammlung oder den Müll gekennzeichnet. Mulders Stimmung war etwas bedrückt, ein Rückschritt nach seiner guten Laune am Mor­gen, aber weit entfernt von dem emotionalen Wrack, das er am Vortag war. Scully verschloss einen Karton mit Kleidung für die Heilsarmee und hockte sich dann auf die Fersen um ihren Partner zu betrachten.



Er saß nahe der Nische, die sich unter der Treppe befand, eine offene Kiste vor sich und eine Art Buch in den Händen. Einen Moment später bemerkte sie, dass er es nicht geöffnet hatte. Ihre Augen betrachteten ihn, aber seine Miene blieb ihr ein Rätsel. Sie erhob sich langsam, nahm sich Zeit den Schmutz von ihren Knien zu wi­schen und sich zu recken bevor sie sich durch das Getümmel an seine Seite begab.



„Mulder?“, fragte sie mit einer Stimme, die sanft wie eine Liebkosung war. „Alles okay?“



Er riss sich aus seinen Gedanken und richtete seine Augen widerstrebend auf Scully. „Mir geht’s gut, Scully.“



Das war ein Stichwort welches sie beide benutzen und missbrauchten um einer schmerzlichen Situation zu ent­gehen anstatt sich ihr zu stellen. Scully hätte diese Antwort aufgebracht, wenn sie diese nicht ebenso benutzen würde“



*Leute in Glashäusern...*, dachte sie reumütig.



Sie lehnte sich etwas näher zu ihm hin und betrachtete das Objekt, welches Mulder so lähmte. Die Seiten waren mit der Zeit leicht vergilbt, der Einband war aus rotem Leder mit einem Wort aus Goldbuchstaben: *Erinnerungen*.



„Was haben Sie da, Partner?“ erkundigte sie sich.



Mulder lächelte, aber es war aufgesetzt und nicht echt. „Das ist mein Album, Scully. Sie wissen schon, voll mit Andenken an meine tolle Kindheit.“



Scully zuckte ob seines bissigen Tones zusammen. Sie hatte ein ähnliches Buch mit vielen Bildern, Papierchen aus der Schulzeit und anderen kleinen Schätzen. Es war nicht einfach gewesen, aber ihre Mutter hatte es trotz vier Kindern und einem Mann der häufig unterwegs war geschafft und für jedes Kind eines dieser Andenken fertig gestellt.


„Darf ich mal gucken?“



Achselzuckend reichte er ihr das Album. Scully setzte sich neben ihn auf den Boden, so dass er über ihre Schul­ter gucken konnte. Vorsichtig öffnete sie das Deckblatt und legte die erste Seite frei. Das faltige Gesicht eines Neugeborenen mit dunklen Haaren starrte sie an. Ein winziges Erkennungskettchen des Krankenhauses war unter dem Foto eingeklebt und jemand hatte akribisch Mulders Daten notiert: Datum und Zeitpunkt der Geburt, sowie seine Größe und sein Gewicht.



Scully guckte über ihre Schulter. „Hey Mulder, ich kann sehen, dass Sie das sind.“



„Ja. Und Sie dachten diese Nase ist zu groß für einen Mann.“ erwiderte er trocken.



„Eigentlich hab ich Sie an dem Gesichtsausdruck erkannt. Das ist derselbe Blick den Sie aufsetzen, wenn Sie eine X-Akte entdeckt haben.



Sie war erleichtert als er gluckste und sie schlug die Seite um. Ein Foto von Mulder in einem Hochstuhl und einem Gesicht voll verschmiertem Geburtstagskuchen grinste sie an.



„Wie ich sehe haben sich Ihre Tischmanieren auch nicht verändert.“, grinste Scully.



„Ha ha. Warten Sie nur bis wir mal bei Ihrer Mutter sind, dann werde ich nach *Ihren* Glanzstunden auf Papier fragen.“



Jede weitere Seite hielt mehr dergleichen. Eine dunkle Locke feines Babyhaars vom ersten Haarschnitt. Ein Stück Papier auf dem in wackligen Buchstaben „Fox Mulder“ geschrieben stand. Der vierjährige Fox mit seiner neugeborenen Schwester Samantha auf dem Arm, feierlich in die Kamera guckend. Ein Aufsatz aus der 2. Klasse über Dinosaurier, dem Scully ansah, dass er weit über den Fähigkeiten eines siebenjährigen lag.



Sie blätterte sich langsam durch die Seiten, kostete den Einblick in Mulders Kindheit aus und freute sich über die Rückkehr seines trockenen Humors. Bis zu dem Punkt wo die Erinnerungen abrupt endeten, und somit ein gan­zes Drittel des Albums leer ließen. Mulder entzog sich Scully, drehte sich zur Kiste und durchwühlte diese.



„Sie hat aufgehört nachdem Samantha verschwunden war.“, sagte er schroff.



Scully zog die Augenbrauen zusammen und ein wohlbekannter Ärger sie durchbohrte. Sie sah es Mulder an, dass er nicht den Wunsch hegte die Bedeutung jener leeren Seiten zu diskutieren und sie beugte sich nur ungern diesem Wunsch. Dennoch drehte sie weiter eine leere Seite nach der anderen um und dachte, dass diese die Dreh- und Angelpunkte in Mulders Kindheit weitaus besser darstellten, als Mulders Mutter es je hätte tun kön­nen. Sie fragte sich, wie ihr Partner wohl heute sein würde, wenn all diese Seiten gefüllt worden wären.



Etwas fiel in ihre Hand und riss sie aus ihren Gedanken. Es war ein Umschlag – verschlossen, und mit derselben flüssigen Handschrift versehen, die schon Mulders Geburtsdaten dokumentiert hatte.



*Fox: bitte im Fall meines Todes öffnen*



Scullys Magen drehte sich etwas. Obwohl es unlogisch war, hatte Scully für einen Moment das Gefühl, den Umschlag wieder zwischen den Seiten verschwinden zu lassen und so zu tun, als ob sie ihn nie gefunden hätte. Aber ihr Verstand gewann und sie tippte Mulder auf die Schulter.



„Ich hab was gefunden, was Sie sich angucken sollten, Mulder.“



Sein offener, neugieriger Ausdruck verschwand als er den Umschlag sah. Sie sah ihn die Aufschrift nicht nur einmal, sondern zweimal lesen. Seine Augenbrauen zogen sich argwöhnisch zusammen und er spitze den Mund. „Das ist die Handschrift meiner Mutter.“, sagte er unnötigerweise.



„Nur zu, öffnen Sie ihn.“ Scully versuchte einen lockeren Ton anzuschlagen, was ihr misslang. An der Art wie Mulder auf seiner Lippe kaute merkte sie, dass er die gleichen Bedenken gegen den Inhalt hegte wie sie. „Es wird Sie schon nicht beißen, Mulder.“



„Woher wollen Sie das wissen?“, murrte er düster aber er schob seinen Finger in die Lasche und öffnete den Umschlag und entnahm ihm zwei handgeschriebene Seiten.



Bevor er zu lesen begann, schloss er die Augen und schluckte. Scully nahm seine Hand, schlang ihre Finger in seine und drückte sie kurz, sagte aber nichts. Daraufhin öffnete er die Augen und sie konnte sehen, dass Aufre­gung mit Angst kämpfte.



„Meine Mutter hat sich geweigert mit mir in 25 Jahren über irgendetwas Wichtiges zu reden. Was kann sie mir jetzt wohl sagen wollen?“



Er senkte seine Augen auf den Brief und begann zu lesen. Scully sah, wie seine Augen schnell die Zeilen entlang flogen bis sie plötzlich erstarrten und weit wurden. So weit, dass sie fast das Grau verschlangen. Jedes bisschen Farbe wich aus seinem Gesicht und er kniff die Augen fest zusammen. Der Brief flatterte wild in seinen zittern­den Fingern.



„Mulder?“



Er antwortete nicht und schien fast soweit weg zu sein wie auf der Schaukel. Er fluchte leise vor sich hin und seine Stimme brach wiederholt durch den Schmerz. Obwohl er sicherlich jemand war, der auch starke Worte benutzte, brachte er Ausdrücke über die Lippen die Scully noch niemals von ihm gehört hatte.



„Mulder, was ist los?“



Skinner, der am anderen Ende des Kellers gearbeitet hatte war plötzlich an ihrer Seite, durch die Panik in ihrer Stimme alarmiert. Bevor er etwas sagen konnte beendete Mulder seine Schmährede und öffnete die Augen. Scully holte tief Luft als sie die intensive Wut und den Schmerz wahrnahm, den seine Augen widerspiegelten. Als er endlich sprach war seine Stimme wie Granit.



„Gratulieren Sie mir, Scully. Ich habe einen Bruder.“

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