World of X

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Tod ohne Herrschaft

von Jean Helms

Kapitel 1

Verwendete Abkürzungen:
SAC Special Agent in Charge
verantwortlicher Special Agent
SSA Supervisory Special Agent
leitender Special Agent
BSU Behavioral Sciences Unit
Abteilung für Verhaltenswissenschaften
BFO Birmingham Field Office
Bezirksbüro des FBI in Birmingham
SEAL short for Sea, Air and Land Teams
Kurzbezeichnung für See-, Luft- und Landstreitkräfte
Navy SEAL spezielle Kriegstruppe der Navy
COMSURFLANT Commander of the Surface Fleet in the Atlantic
Kommandeur der Seeflotte im Atlantik
VICAP Violent Crimes Apprehension Program
Programm zur Erfassung von Gewaltverbrechen
NCAVC National Center for the Analysis of Violent Crimes
Nationales Zentrum für die Untersuchung von Gewaltverbrechen
HCPU Health Care Programs Unit
Abteilung für das Programm zur Gesundheitsvorsorge
RFLP Restriction Fragment Length Polymorphism
Beschränkung des Restlängenpolymorphismus
PCR Polymerase Chain Reaction
Polymere Kettenreaktion
(Die beiden letztgenannten sind DNA-Tests und sollte sich ein medizinischer Sachverständiger finden, der damit was anfangen kann, dann lasst es mich auch wissen.)
BSC Birmingham Southern College
MO modus operandi (lat.)
Art und Weise, wie der Kriminelle seine Verbrechen durchführt
CDC Center of Desease Control
Zentrum für Seuchenkontrolle
BID bis in diem (lat.)
beschreibt, in welcher Dosis und wie oft ein Medikament eingenommen werden
soll
ABI Alabama Bureau of Investigation
Außenstelle des FBI in Alabama
OPR Office of Professional Responsibility
Büro für berufliche Verantwortung
DoD Department of Defense
Verteidigungsministerium
 
"Sie sollten Sterne an Ellbogen und Füßen haben, trotzdem sie verrückt werden, sollten sie vernünftig sein, trotzdem sie im Meer versinken, sollten sie wieder auferstehen, trotzdem Liebende verloren gehen, sollte es die Liebe nicht; und der Tod sollte keinen Herrschaft haben."
And Death Shall Have No Dominion
- Dylan Thomas


FBI-Hauptquartier

Montag, 21. Dezember

8:11 a.m.

Hin und wieder schienen die Leitprinzipien des Universums sich ins Gegenteil zu verkehren und das Unmögliche passiert: Die Wirkung geht der Ursache voraus, parallele Schicksale kreuzen sich, Energie wird erschaffen oder zerstört.

Was an diesem Morgen geschah, war weniger katastrophal, aber nicht weniger unmöglich: Special Agent Dana Katherine Scully, Doktor der Medizin, konnte ihre Gedanken nicht auf die Arbeit konzentrieren. Schon als sie durch die Halle des J. Edgar Hoover Gebäudes ging, dem Zuhause des Federal Bureau of Investigation, war Arbeit das, worum sich ihre Gedanken am wenigsten drehten. Es geschah automatisch, dass sie ihren Ausweis hochhielt und durch die Sicherheitskontrolle für Agenten ging.

Es war Dezember, nicht mal mehr eine Woche bis Weihnachten. Das Wetter war lausig: matschiger, schmutziger Schnee überall, grau und kalt. Sie hatte ihre Weihnachtseinkäufe noch nicht erledigt. Es wäre ihr zu verzeihen gewesen, wenn sie daran gedacht hätte. Aber sie dachte gar nicht an so etwas irdisches.

Sie betrat den Fahrstuhl, drückte auf den Knopf für ihre Etage und ignorierte das herablassende Grinsen der anderen Agenten. Das war sie gewöhnt. Die anderen G-men hätten genauso gut auf einem anderen Planeten sein können bei all der Aufmerksamkeit, die sie ihnen schenkte. Der Fahrstuhl glitt nach oben. Das war eine Veränderung, eine große. In den letzten fünf Jahren hatte sie das einzige Büro im Keller mit ihrem Partner geteilt, den sie seit sechs Jahren hatte: Special Agent Fox Mulder, oder wie er sich bei ihrem ersten Treffen selbst nannte, der im FBI am wenigsten gewollte.

Nun verrichtete sie ätzende Arbeiten im Großraumbüro oben, als ob sie frisch von der Akademie in Quantico kam.

Im Moment machte sie sich darüber jedoch keine Sorgen. Sie hatte andere Dinge im Kopf. Pizza. Um genau zu sein, die Pizza, die sie und Mulder sich zwei Abende zuvor geteilt hatten, als sie ihren letzten Fall bei Pilzen und Peperoni besprachen, Seite an Seite in einem kleinen, trostlosen Hotelzimmer in Podunk, Nebraska sitzend.

Okay, es hieß nicht Podunk, dachte sie. Wie zur Hölle hieß es? Die Städte begannen, in ihren Gedanken miteinander zu verschmelzen. Klein, dem Aberglauben verfallen, trübsinnig, schlecht gebildet, deprimierend - das waren die meisten von ihnen. Und alle hatten sie diese armseligen Hotels, die ihnen die schäbigen Reisekostenvorschriften des FBI gestatteten.  Nutzlose Städte, misstrauisch gegenüber der Wissenschaft und beinahe jeder Form von Wissen.

Mulder war der einzige Akademiker mit Griechischkenntnissen, den die meisten dieser Städte je sehen würden und er war das Herz des Pizzaproblems.

Es hätte nicht passieren dürfen: sie hätten nicht einmal zusammen in einem Hotelzimmer sein dürfen, aber keiner von beiden schenkte den Bestimmungen, die dagegen sprachen, sonderlich viel Aufmerksamkeit. Die Regel waren dazu bestimmt, Problemen mit sexueller Belästigung vorzubeugen, und das war nie ein Problem zwischen ihnen gewesen. Sie fühlten sich zusammen vollkommen wohl und das schon seit ihrem ersten gemeinsamen Einsatz.

Das war sechs Jahre her. Mulder leitete eine Untersuchung von mysteriösen Todesfällen von einer Reihe von Jugendlichen der Stadt, alle waren mit seltsamen Malen an ihrem unteren Rücken gefunden worden.

Als sie in ihr Motel zurückkamen, gab es keinen Strom. Ein Sturm hatte die Elektrizität der ganzen Stadt lahmgelegt. Sie war todmüde, regendurchnässt und bereits halbverrückt durch die Erkenntnis, dass sie sich von einem Mann, den sie am Tag zuvor noch nicht einmal gekannt hatte, hatte überreden lassen, eine Exhumierung und Autopsie einer Leiche zu leiten, die nicht einmal erkennbar menschlich war. Scully war in Unterwäsche und bereitete im Kerzenlicht ihr Bad vor, als sie die Male an ihrem eigenen Rücken entdeckte.

Plötzlich war sie sehr verängstigt. Um die Wahrheit zu sagen, sie war verrückt vor Angst. Das schlimmste daran war, dass sie wusste, dass sie sich vor albernen Dingen fürchtete, unlogischen Dingen, an die sie nicht glaubte. Nicht glauben *wollte*, verbesserte sie sich.

In blinder Panik war sie in Mulders Motelzimmer gelaufen, hatte ohne nachzudenken, ihren Bademantel fallen lassen und darauf bestanden, dass er ihren Rücken untersuchte. Die Ärztin in ihr hatte darin nichts falsches gesehen.

Jedoch erkannte die Ärztin in ihr zu spät, dass das keine medizinische Untersuchung war. Das war ein Motelzimmer und er war ein männlicher Agent und sie war in Unterwäsche. Scully sah ihren Ruf direkt vor ihren Augen zusammenbrechen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr neuer Partner das nicht zu seinem Vorteil ausnutzen und überall im Büro die Geschichte herumerzählen würde, wie sie in sein Zimmer gekommen war und ihre Sachen fallengelassen hatte, kaum einen Tag, nachdem sie Partner geworden waren.  All der Kampf um Respekt und Gleichstellung ging genau hier zu Ende. Sie war dabei, eine Witzfigur zu werden.

Nur dass überhaupt nichts dergleichen geschah. Mulder hatte sich nicht über sie lustig oder anzügliche Bemerkungen gemacht. Er hatte einfach die Male untersucht und sie beruhigt, dass es nur Moskitostiche waren.

In dieser Nacht hatte er ihr Herz gewonnen. Nachdem sie sich den Bademantel wieder angezogen hatte, hatte sie sich impulsiv in seine Arme geworfen. Und er hatte sie gerade lange genug gehalten, um sie zu trösten und sie sofort losgelassen, als sie sich zurückzog. Er begegnete ihrem besorgten Blick mit Augen, die ruhig, freundlich und verständnisvoll waren. Braunen Augen. Warm und tief, deren Farbe sich mit dem Licht veränderte. Den Augen eines Freundes.

Seufzend entspannte sie sich. Bei diesem Mann war sie sicher. Sie konnte bleiben. Den Rest der Nacht verbrachten sie damit, sich zu unterhalten.  Scully lag auf einem der Betten. Er hatte sie mit einer Decke zugedeckt und saß neben ihr auf dem Boden, und sie begannen damit, was ein sechs Jahre währender Prozess des gegenseitigen Öffnens ihrer tiefsten Herzensangelegenheiten werden sollte. Sie wurden Freunde.

Danach gab es keinen Grund, in die politische Rechtschaffenheit eines Restaurants oder einer Bar zu fliehen. Mulder war vollkommen in der Lage, sich auf ihre Kosten zu amüsieren (‚Scully, was hast du da an?' ‚Oooh, wenn du so stoned wärst, was dann?' ‚Ich denke, es ist kaum glaubwürdig, jemand könnte denken, du bist heiß.'), aber er war genauso perfekt dazu in der Lage, sie als Partnerin und Kollegin zu behandeln. Und das tat er. Das war etwas Seltenes in der Männermachtbastion des FBI.

Das war es auch, warum sie in dieser Nacht in Podunk keinerlei Bedenken hatten, auf einem der Betten zu sitzen, ihre Körper bequem aneinander gelehnt, während sie redeten und die Pizza verdrückten. Dieses Mal war die Pizza heiß und weich und so gut, dass Scully, Miss ‚Grüner Salat mit Zitrone und ein Becher Joghurt mit Bienenpollen' Scully, gierig fast die Hälfte davon verschlungen hatte, sehr zur Erheiterung ihres Partners. Am Ende hatte sie einen großen Klecks Tomatensoße im Gesicht, obwohl sie es nicht bemerkte, bis sie sah, wie sich seine braunen Augen auf ihre linke Wange konzentrierten.

Ohne ein Wort hatte er eine Serviette genommen und die Soße sanft weggewischt, wie ein Vater, der seinem Kind das Gesicht saubermachte. Er hatte das schon vorher getan, aber das war in einem Restaurant; diesmal waren sie allein, saßen auf einem Bett in einem Hotelzimmer und die Berührung durch das raue weiße Papier fühlte sich so unheimlich intim, liebevoll, besitzergreifend an.

Sie schob ihn weg, nahm die Serviette selbst in die Hand und ging hinüber zum Spiegel. Darin sah sie seine Augen, sah die Verletztheit darin, obwohl er sich bemühte, sie zu verbergen. Er würde es so bald nicht wieder versuchen.

Nun, als sie im Fahrstuhl fuhr, überdachte Scully den Zwischenfall wieder und wieder. Warum hatte sie ihn weggeschoben, fragte sie sich? Warum hatte es ihn so sehr verletzt, dass sie es getan hatte? Und warum hatte sie plötzlich Angst davor, ins Büro zu gehen und ihn anzusehen? Ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass es keinen Grund gab, sich Sorgen zu machen. Alles was passiert war, war dass sie die professionellen Grenzen zwischen ihnen wieder gesetzt hatte. Das musste von Zeit zu Zeit in einer männlich-weiblichen Partnerschaft getan werden. Er würde das verstehen und respektieren.

Aber in ihrem Innersten wusste Dana Scully, dass ihr ihr Intellekt einen großen Haufen Scheiße servierte. Weil die Wahrheit war, dass sie ihn wollte. Ganz schrecklich wollte. Und es gab keinen einzigen Zweifel darüber, dass er im Bett gut sein würde. Instinktiv wusste sie, dass Mulder als Liebhaber genauso sein würde, wie als Partner: respektvoll, fürsorglich, leidenschaftlich, intuitiv, athletisch, sogar kreativ. Und zärtlich, so wie er ihr Gesicht abgewischt hatte. Der Gedanke machte sie leicht schwindelig und sie legte eine behandschuhte Hand auf das Fahrstuhlgeländer, um sich zu stützen.

Sie wollte ihn so kennenlernen. Es war lange her, seit sie das letzte Mal mit einem Mann zusammen gewesen war, so lange, dass sie sich kaum daran erinnern konnte, was für ein Gefühl das war. Nicht dass es da so viel zu erinnern gab, zumindest für sie nicht. Ihr Ex-Liebhaber hatte ihr einen Spitznamen verpasst, einen, von dem sie später lernte, dass er im ganzen FBI verbreitet worden war: die Eiskönigin.

Aber wenn es einen Mann auf Erden gab, der dieses Eis zum Schmelzen bringen würde, dann war es ihr Partner. Und Mulder war ein Mann, richtig; gemessen an jedem objektiven Standard war Fox Mulder ein verdammt attraktiver Mann, groß, schlank und muskulös, mit einem Mund, der darum bettelte, ausprobiert zu werden, und diese Augen...

Sie hätte ihn haben können, in diesem kleinen Hotelzimmer, aber es war nicht passiert. Dana Scully, die Eiskönigin, hatte es nicht zugelassen. Das war es gewesen. Mulder hatte irgendetwas darüber gesagt, dass man am Morgen früh raus musste, war in sein eigenes Zimmer gegangen und hatte die Verbindungstür hinter sich geschlossen. Dennoch hatte er sie nicht verschlossen, wenigstens etwas. Wenn sie es gewollt hätte, hätte Scully diese Tür öffnen und zu ihm gehen können. Stunden später, als sie die allzu bekannten Geräusche hörte, dass Mulder aus einem weiteren Alptraum erwacht war, hätte sie es beinahe getan. Es wäre so einfach gewesen.

Aber sie bewegte sich nicht. Sie lag wach da und lauschte auf die Geräusche auf der anderen Seite der Tür: das Wasser, das er sich eingoss, die Pseudoerregung des Publikums in den Werbespots, das klick-klick-klick seines Laptops, als er sich wieder einmal der einsamen Welt seiner dauernden Schlaflosigkeit ergab. Es tat ihr weh, aber sie ging nicht zu ihm. Sie, die in den Lauf einer Waffe starren konnte, ohne mit der Wimper zu zucken, wurde zu einem vollkommenen Feigling und ließ ihn allein gegen seine Dämonen kämpfen. Das war grausam gewesen und sie wusste es. In diesen grausamen Zeiten war er so abhängig von ihrer Freundschaft geworden, aber in dieser Nacht hatte sie sie ihm verwehrt.

Sei ehrlich, Dana, dachte sie, während der Fahrstuhl langsam nach oben fuhr. Es war nicht Freundschaft, die du ihm in dieser Nacht verwehrt hast.  Es war Liebe. Die Liebe zwischen ihnen war niemals ausgesprochen, sogar selten darauf hingewiesen worden. Sie waren darum herumgeschlichen, aber es war wie das Schleichen um einen Elefanten: zu groß, um ihn zu ignorieren, aber auch zu groß, um etwas dagegen zu tun. Beinahe zu groß, verbesserte sie sich. Einmal hatte er sie fast geküsst, obwohl er wahrscheinlich glaubte, sie würde sich nicht daran erinnern. Seine Lippen hatten fast die ihren berührt, als diese verdammte Biene sie gestochen und sie in eine Alptraumwelt aus Eis geschickt hatte, aus der sie kaum lebend entkommen war.

Dass sie überlebt hatte, hatte sie nur ihm zu verdanken. Er hatte sein Leben riskiert, um ihres zu retten, hatte die Eiswüste der Antarktis durchquert, um sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien. Sex würde ihr nicht einmal annähernd seine Liebe so zeigen können, wie es diese Reise getan hatte. Trotzdem, sie wollte es. Sie wollte ihn. Und sie fragte sich, ob sie jemals wirklich nackt vor Mulder stehen könnte, stehen würde.  Physische Nacktheit war nicht die Frage, das war es nicht einmal annähernd.  Die Umstände hatten es gefordert, dass ihr Partner und sie mehr als einmal mit dem unbekleideten Körper des anderen umgehen mussten; und sie hatten es mit professioneller Losgelöstheit getan: erste Hilfe geleistet, die Ambulanz gerufen, Sachen oder eine Decke als Schutz gefunden.

Auch fürchtete sie seine Berührung nicht, kaum ein Tag verging, an dem er sie nicht berührte, manchmal mehrere Male, er legte eine leitende Hand auf ihren Rücken oder hielt sie vorsichtig am Oberarm fest, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Intimere Berührungen waren selten, aber nicht ausgeschlossen: eine Umarmung, ein flüchtiger Händedruck, ein Kuss auf ihre Hand oder auf ihr Gesicht. Seine Berührung trug Anhaltspunkte für Gefahr in sich, Hinweise auf die Sinnlichkeit, die in ihm brannte, auf die Leidenschaft für alle lebenden und lebendigen Dinge, die ihn auf seiner Suche vorantrieben. Diese Leidenschaft auf sie gerichtet zu haben - sie auf sich zu ziehen, der Brennpunkt seiner unerbittlichen Energie zu werden - sie konnte sich kein größeres Vergnügen, keine sicherere Erfüllung als diese vorstellen.

Nein, die Grenze hatte gar nichts mit irgendeiner physischen Angst zu tun.  Die Hände-Hoch-Politik war ihre Rüstung gegen die vollkommene und beängstigende Nacktheit ihres inneren Selbst vor ihm. Solange er von ihr als seine Partnerin dachte, als Mitarbeiterin, vollkommen von ihm getrennt, war sie sicher; er war zu gut erzogen, um seine Anfragen weiter zu treiben, als sie bereit war, es zu erlauben.

Und so hatte sie sechs Jahre lang Intimitäten zwischen ihnen wie Almosen ausgeteilt, wie ein Mann, der seinen Wasservorrat in der Wüste einteilt.  Sie konnte es nie riskieren, ihn sich so viel von ihr nehmen zu lassen, wie sie wollte; wenn sie es tat, war sie sich sicher, würde er sie mit Haut und Haaren verschlingen. Es würde nichts in diesem sicheren Raum in ihr drin übrigbleiben, kein Teil ihrer Seele, der nicht für seine Prüfung offen sein würde, und das war gefährlich. Zu gefährlich, um es auch nur in Erwägung zu ziehen.

Im Großraumbüro

8:15 a.m.

Mulder war, wie üblich, bereits bei der Arbeit, als Scully hereinkam, und saß zurückgelehnt in seinem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch. Kein Wunder, dass er früh da ist. Er war wahrscheinlich gestern hier und ich glaube auch nicht, dass er letzte Nacht nach Hause gegangen ist, dachte Scully, als sie ihre lustvollen Gedanken in den verschlossenen Teil ihres Gehirns verbannte.

Nicht dass Mulder im Moment einen Anblick bot, der Lust hervorrief, wenigstens für niemand anderen. Er trug dasselbe blaue Hemd und die fürchterliche Krawatte in Grün und Rot, welche er am Tag zuvor getragen hatte, aber das Hemd war zerknautscht, die Krawatte hing lose um seinen Nacken und die Augen hinter den stahlgeränderten Brillengläsern waren rot und müde.

"Hey Scully, sieh dir das an," sagte er, sie wie gewöhnlich ohne Einführung begrüßend. "Wir haben einen richtigen, todernsten FBI-Fall."

"Dir auch einen guten Morgen, Mulder," entgegnete Scully, zog ihren Mantel aus und hängte ihn sorgfältig an den Haken. "Was hast du da bekommen?"

Mulder schleuderte die Akte auf Scullys Schreibtisch in der Zelle hinter seiner und grinste. "Eine Fabrik außerhalb von Mobile, Alabama. Eine Menge mysteriöser Verladungen hinein und heraus, eine Menge Männer in Schwarz, die herumlungern und die Arbeiter verängstigen. Eine Quelle, die sagt, was dort zusammengebastelt wird, ist eine biologische Waffe und dass wir Mobile einen Besuch abstatten sollten - ich habe gehört, dass die Winter an der Golfküste mild und wunderschön sein sollen."

"Was ist das für eine Quelle?" fragte Scully, setzte sich auf ihren stets aufgeräumten Schreibtisch und nahm die Akte in die Hand.

"Eine, der wir trauen können, denke ich," meinte Mulder in einem Ton, der sie zum Streit herausforderte. Scully war nicht in der Stimmung für dieses Spiel. "Du vertraust deinen Quellen immer," entgegnete Scully ruhig und ignorierte Mulders verletzten Hundeblick. "Deshalb sind sie immer noch deine Quellen. Das legt mir aber nicht nahe, dass sie automatisch auch meine werden sollten." Den Ordner öffnend, überflog sie rasch die Akte zur unteren Zeile des Vordrucks 302: Verantwortlicher Agent: SA Mulder. Das habe ich ziemlich lange nicht gesehen, dachte sie.

Scully schloss den Ordner und sah zu Mulder auf. "Vorausgesetzt deine Quelle ist vertrauenswürdig - und im Moment ist das nur eine Annahme - warum sollten sie uns dahin schicken? Und warum Mobile? Ich war vor Jahren in Mobile, als mein Vater ZV auf der Marinebasis Pensacola war."

"Was ist ein ZV?" fragte Mulder. "Klingt wie eine Kugel gefrorener Joghurt."

"Zeitweilige Verpflichtung, Mulder," erklärte sie und verdrehte die Augen.  "Und wechsle nicht das Thema. Mobile ist keine große Stadt. Welchen möglichen Grund könnten sie haben, dort eine höchst geheime Fertigungsanlage zu platzieren? Warum nicht in einer größeren Stadt, wo sie unbemerkt bleiben könnten?"

"Genau das ist es," erklärte Mulder, der verletzte Blick war verschwunden.  Scully würde ihn nicht nach all den Details fragen, wenn sie nicht interessiert wäre, und sie war daran interessiert - das wusste er. "Wenn du dir all die Fakten ansiehst, dann ist Mobile perfekt," fuhr Mulder fort, sich für sein Thema erwärmend. "Denk mal nach Scully: Tatsächlich ist es keine Kleinstadt, es ist eine Stadt mit mehr als einer Viertelmillion Einwohner, sie ist also groß genug, um darin unterzugehen, aber nicht groß genug, um aufzufallen. Und wie du selbst bemerkt hast, es ist nicht der Ort, den du zuerst verdächtigen würdest."

"Ich denke, worauf ich hinauswollte, ist, dass es der letzte Ort wäre, den du verdächtigen würdest," entgegnete Scully. "Das heißt, du entfernst dich von deinen Grundlagen."

"Aber er hat Vorteile," antwortete Mulder eingeschüchtert. "Dort gibt es einen kommerziellen Seehafen von angemessener Größe und hier kreuzen sich auch zwei Interstate Highways, einer davon ist die berüchtigte Drogenpipeline I-10. Rechne dazu die Tatsache, dass die Schornsteinen hinterherrennenden Stadtväter die gesamte Umgebung mit großen, stinkenden Chemiefabriken zugebaut haben, und schon hast du hat du Black Ops Pharmaceuticals, verborgen vor unliebsamen Blicken."

"Mulder, sei vorsichtig," meinte Scully trocken. "Du nennst mir Fakten und die Logik und ich bin mir nicht sicher, dass dein Verstand es vertragen kann."

Mulder lächelte, sowohl den Scherz als auch die Wahrheit dahinter zugebend, aber Scully konnte die Spannung spüren, die sich in ihm aufbaute. Er nagt an dem Bissen, dachte Scully. Warum? Wer war seine Quelle? Mr. X war tot, ebenso Deep Throat. Marita Covarrubius von den Vereinten Nationen? Möglich.  Seine alte Freundin Special Agent Diana Fowley? Die sollte es besser nicht sein, dachte sie grimmig.

Der wahre Grund war der, dachte sie, dass er glaubte, da steckte irgendwie eine X-Akte drin. Mulder hatte es noch nicht verkraftet, dass man ihm die X-Akten weggenommen hatte, und sie war sich sicher, dass er es nie tun würde.

Letzten Endes war es egal, wer die Quelle war oder ob Mulder versuchte, sich in eine Untersuchung paranormaler Phänomene unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Inlandsterrorismus einzuschleichen. Sie konnte sowieso keinem von Mulders Informanten wirklich je trauen, aber sie konnte dem Band zwischen ihr und ihrem Partner vertrauen, es war unbeschädigt.

Lass dieses Beziehungszeug, befahl sie sich selbst in der Stimme ihres Vaters und konzentrierte ihren Blick wieder auf die Akte. Bedenke das anstehende Problem, das einen weiteren Trip nach Nirgendwo bedeutet, und die Möglichkeiten, getötet zu werden, weil ihr etwas reales findet, gegen die Chance, durch eine weitere sorgfältig konstruierte Lüge irregeführt zu werden. Egal, wie sie die Möglichkeiten auch abschätzte, es kam immer auf dasselbe heraus: sie verlor.

Als sie aufblickte, beobachtete Mulder sie mit seinem Profilerausdruck, wie sie ihn immer nannte, im Gesicht. Er wusste immer, wenn irgendetwas falsch war, obwohl es immer noch ein vollkommenes Geheimnis für sie war, wie er es wusste.

"Du musst nicht dabei sein, wenn du denkst, dass es nicht richtig ist, Scully," sagte er, und die Ernsthaftigkeit, die sie in seiner Stimme hörte, beruhigte sie. "Aber ich könnte dabei wirklich deine Fachkenntnisse gebrauchen. Das ist ein Krankheiten verursachender Organismus, und Krankheiten sind dein Gebiet, nicht meins."

"Danke, aber die Medizin hat weniger damit zu tun als Weihnachten, das vor der Tür steht und worauf ich noch nicht vorbereitet bin," entgegnete Scully, nicht vollkommen wahrheitsgemäß, aber auch nicht willig, ihre wahren Gedanken offenzulegen. "Oder hast du das vergessen?"

"Nun, jetzt wo du es erwähnst, ich glaube, ich habe ein oder zwei Weihnachtsdekorationen im Bezirk gesehen," meinte Mulder. "Aber du weißt ja, dass ich Feiertagen nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit widme, nicht mal meinen eigenen. Ich könnte dir nicht einmal ansatzweise sagen, wann die erste Hanukkahnacht in diesem Jahr ist."

"Nun, ich schenke den Feiertagen Aufmerksamkeit, Mulder, und besonders Weihnachten. Meine Brüder kommen nach Hause und ich wollte ab übermorgen freinehmen. Ich will ein bisschen Zeit mit meiner Mutter verbringen und ich muss auch noch meine Einkäufe erledigen." Nun, wenigstens der Teil entsprach der Wahrheit, dachte sie.

"Dann geh, wenn du gehen musst," erwiderte Mulder, sein Blick sorgfältig neutral. Das letzte, was er wollte, war eine Diskussion über Scullys Bruder Bill. Der große Navykommandant machte Mulder für die meisten der Schwierigkeiten verantwortlich, die seine Familie in den letzten Jahren hatte und Mulder konnte es ihm nicht übel nehmen. Scullys Entführung, ihr Krebs, ihre Unfruchtbarkeit, der Tod ihrer Schwester Melissa - nichts von alldem wäre passiert, wenn Dana Scully nicht den X-Akten zugeteilt worden wäre.

Der Profiler in ihm konnte nicht widerstehen, darüber nachzudenken, dass hinter der Besorgnis des großen Bruders mehr steckte als ein Hauch Eifersucht und männliches Territorialgehabe, der Kampf des Alphamännchens gegen den Rivalen um die Frauen, des Helden, der die Jungfrau vor der Verführung schützte. Bill Scully war kein komplizierter Mann.

Leider - oder vielleicht glücklicherweise - hatte er keinen Grund zur Sorge, dachte Mulder. Ich frage mich, was er tun würde, wenn er es hätte.

Jetzt war es an Scully, das Gesicht ihres Partners zu studieren. Ich werde es bereuen, dachte sie. "Ich habe noch ein paar Tage," sagte sie, sich selbst aufgebend. "Wenn du meine Hilfe brauchst..."

"Immer," erwiderte Mulder automatisch und bekam dafür ein kleines Lächeln von seiner Partnerin.

Er hat mir vergeben, dachte sie. Er wird es mir nie vorwerfen. Er will mich nur bei sich haben. Er braucht mich bei sich. Da gibt es nichts mehr zu sagen, nicht wahr, Dana Katherine, dachte sie.

Scully stand auf und nahm ihre Kaffeetasse in die Hand. "Also, wann geht es los?" fragte sie. Ein Hauch von Triumph schlich sich in Mulders breites Lächeln, als er seine Füße vom Schreibtisch nahm und aufstand. "Sobald du mit deinem Kaffee fertig bist. Wovon, nebenbei bemerkt, keiner da ist. Du musst welchen machen."

Scully stellte die Tasse wieder hin. "Ich werde mir am Flughafen welchen holen," erwiderte sie seufzend.

"Du willst Flughafenkaffee trinken? Du hast wirklich den Lebenswillen verloren," sagte Mulder, nahm ihren Mantel vom Haken und hielt ihn für sie hin. Scully schlüpfte in den Mantel und drehte sich zu ihm um. "Was ich verloren habe, ist jede Hoffnung, dass ich jemals wieder mehr als eine Nacht in meinem eigenen Bett verbringen werde, bevor es wieder losgeht."

"Wo ist dein Abenteuersinn geblieben, Scully?" neckte Mulder sie, während er seine Dienstwaffe vom Schreibtisch nahm und sie ins Holster steckte, dann streifte er sich seine Anzugjacke über. Welch ein einfacher Akt, dachte Scully. Die Jacke nehmen, den rechten Arm hineinstecken, mit der linken Hand nach hinten greifen, um den Kragen zu fassen und sie dann über die linke Schulter schwingen. Linken Arm hinein. Revers richten. Taschen kontrollieren, um sicher zu sein, dass der Ausweis drin ist. Nichts besonderes. Er tut es jeden Tag, mehrmals am Tag; er muss nicht einmal darüber nachdenken. Aber jedes einzelne Mal beobachte ich ihn. Und ich denke darüber nach, darüber, wie er sich bewegt, wie er aussieht... Ob er weiß, was er mir damit antut? Das kann er nicht, dachte sie. Es ist zu dumm, um auch nur daran zu denken. Ich habe ihn nackt gesehen und es macht mich an, zuzusehen, wie er sich anzieht? Albern.

Scully zwang ihr Gesicht dazu, nichts zu zeigen, als sie ihre Aktentasche nahm und zur Tür ging. Mulder hielt sie auf und geleitete sie mit seiner üblichen kurzen Berührung an ihrem Rücken hinaus.

Auf dem Weg nach Mobile, Alabama

1:15 p.m.

Nach Mobile zu fliegen war Stück für Stück so schlecht, wie es sich Scully gedacht hatte. Der erste Teil der Reise, von Washington nach Atlanta, war nicht schlecht, wenigstens nicht nach den Standards der beruflichen Vielflieger. Scully war kein Vielflieger. Sie hasste es, zu fliegen. Neben einem 1,82 m langen Mulder zu sitzen, machte es nur noch schlimmer. Er hatte keine Schwierigkeiten damit, es sich in einem Flugzeug bequem zu machen: entweder schob er seine langen Beine in ihren Bereich oder er klappte die Armlehne zwischen ihnen hoch. Egal wie, er nickte schnell ein und überließ sie mit einem riskanten Magen und weißen Knöcheln sich selbst.  Scully hegte niemals dunklere Gedanken gegen ihren Partner, als an Bord eines Flugzeugs.

Der zweite Teil, in einem winzigen, engen, geräuschvollen Pendlerflugzeug von Atlanta nach Mobile zu fliegen, war das weitaus schlimmste. Gegen Ende des 50-minütigen Fluges begann sich Scullys allzu aufrechte Sitzposition negativ auszuwirken. Aus diesem Flugzeug auszusteigen, würde einige Anstrengung kosten, ihre Beine waren eingeschlafen und das Ende ihrer Waffe drückte schmerzhaft in ihren Rücken. Sie konnte sie nicht herausnehmen und eine Panik unter den anderen Passagieren verursachen, und sie hatte keinen Platz, um sich zu drehen, so dass sie nicht darauf lag. Seit Atlanta hatte sie noch keinen tiefen Atemzug getan.

Mulder schlief natürlich fest, sein Kopf lag an ihrer Schulter und er atmete tief. Nicht einmal der Bums der Landung weckte ihn auf. Scully gab sich einen Moment dem Gedanken hin, was wohl ein schroffes Klopfen ihrer Knöchel diesem friedlichen Ausdruck antun könnte, und beinahe sofort fühlte sie sich schuldig. Er schläft im Flugzeug, dachte sie, weil er nirgendwo anders schlafen kann. Gönn ihm eine Pause.

Sanft schüttelte sie ihn wach. "Mulder, wir sind gelandet," sagte sie leise. Mulder öffnete blinzelnd die Augen. "Gelandet, wo?" fragte er verwirrt. Scully lächelte ungewollt und im nächsten Moment erwiderte Mulder das Lächeln verlegen. "Ich weiß, wo wir sind, Scully," meinte er. "Ich wollte dich nur testen." "Bullschietski, wie die Russen sagen, Mulder."

Mobile, Alabama

1:32 p.m.

Ein paar Minuten später hatten die Agenten einen Wagen gemietet und waren auf dem Weg, jeder in seiner gewohnten Rolle: Mulder fuhr, Scully sah in die Karte. Freiwillig gab er niemals das Lenkrad aus den Händen, es sei denn, er war am Einschlafen.

"Der Theodore Industriepark ist das Zuhause verschiedener Fabriken, einige davon sind Chemiefabriken. Er liegt im Süden der Stadt," erzählte sie ihm.  "Andererseits gibt es auch verschiedene Chemiefabriken im nördlichen Teil der Stadt. Hat dir deine Quelle irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wo wir es zuerst versuchen sollten?"

"Zuerst halten wir im Distriktbüro in Mobile," sagte Mulder. "Wir werden Kontakt mit den örtlichen Agenten brauchen und wahrscheinlich auch mit den Leuten vom Zoll, und das ist der beste Ort, den ich kenne, um ihn zu bekommen."

"Wenn es hier eine Biowaffenfertigungsanlage gibt, werden die Zollbehörden wahrscheinlich nichts davon wissen," meinte Scully. "Beim aktuellen Stand der Dinge bei den Zollbehörden bin ich mir nicht sicher, ob ich möchte, dass sie überhaupt etwas von unserer Aufgabe wissen."

"Ich auch nicht," stimmte Mulder zu. "Die Zollbehörde ist in einem ziemlichen Durcheinander. Ich will sie nur nach ein paar Sachen fragen, die sie vielleicht gesehen oder abgehört haben, etwas, das für sie keinen Sinn machen würde, aber für uns."

"Zum Beispiel?"

"Zum Beispiel Fässer voll mit schwarzem Öl, ungekennzeichnete Container mit Mais, Bienen - diese Art von Sachen," erläuterte er neckend. "Schließlich, Scully, welche größere Biowaffe könnte es sein, als ein Alienvirus?"

"Mulder, das ist keine X-Akte, das ist eine konventionelle Untersuchung über eine mögliche biologische Terrorwaffe," entgegnete Scully, ließ ihren Kopf gegen die Kopfstütze fallen und schloss die Augen. "Und wenn ich mich irre und da gibt es Bienen, dann bist du auf dich gestellt."

Mulder sah sie vorsichtig an. "Ich werde keine Biene näher als hundert Meter an dich heranlassen, Scully," erwiderte er in einem Ton, der ein bisschen zu ernst war. Scully öffnete die Augen und drehte sich zu ihm, um ihn anzusehen. "Ich weiß, das würdest du nicht," sagte sie. "Und du weißt, dass ich es nicht ernst meine, dich allein zu lassen."

"Ich meine es ernst," antwortete er. "Todernst. Bei der ersten Biene, die sich zeigt, schicke ich dich zurück nach D.C. Einmal so eine Scheiße ist genug." Mulder, wenn du nur wüsstest, dachte sie. Hast du bemerkt, als du zu mir kamst, dass meine Augen offen waren? Wusstest du, dass ich wach war und dafür gebetet habe, schnell zu sterben? Nein, das hast du nicht - weil ich es dir nie erzählt habe und auch nie tun werde. Niemals. "Du hast recht, Mulder," sagte Scully und sah zum Fenster hinaus, weg von ihm.  "Keine Bienen mehr. Einmal ist mehr als genug."

Steve Penn, leitender Special Agent des Distriktbüros in Mobile erwies sich als eine Goldgrube an Informationen über die Zollbehörde und die DEA-Kontakte genauso wie über die Polizisten der Alabama Staatsdocks. Mit seiner Hilfe brauchte es nur einen Nachmittag und einen Teil des Abends, um zu erfahren, dass ein Cargo Container mit einem bakteriologischen Mittel kürzlich durch die Docks bewegt wurde und per Eisenbahn in die kleine Stadt McIntosch, außerhalb von Mobile gebracht worden war, wo verschiedene Chemiefabriken zu Hause waren.

Die einzige Frage war, welche. Die Dockarbeiter konnten ihnen dabei nicht helfen. "Wenn so etwas einmal von hier fort ist, mache ich mir keine Sorgen mehr darum," brachte es einer der Schauermänner auf den Punkt.

"Es gibt dort nicht so viele Anlagen, Scully," erklärte Mulder, als sie zum Auto gingen. "Alles, was wir tun müssen, ist die eine herauszufinden, die uns nicht dort haben will, und dann haben wir sie." "Und was dann, Mulder?" entgegnete Scully. "Wenn wir das einmal tun, dann wissen sie, dass wir hier sind und das ganze Ding ist zusammengepackt und aus der Stadt geschafft, sechs Stunden bevor wir einen Durchsuchungsbefehl bekommen können."

"Wer sagt irgendetwas von einem Durchsuchungsbefehl?" meinte Mulder, als er die Tür auf ihrer Seite aufschloss, bevor er zur Fahrerseite herumging.  "Ich will mich einfach nur umsehen. Dafür brauchen wir keinen Durchsuchungsbefehl." Scully stieg ins Auto und legte ihren Sicherheitsgurt an. "Ich bezweifle ernsthaft, dass alles, was du tun willst, ist dich umzusehen. Ich bezweifle auch, dass es die örtlichen Richter freundlich hinnehmen, wenn ein paar Bundesagenten von außerhalb einen Einbruch begehen." Er hörte nicht zu. Wie üblich. Sechs Jahre versuchte sie es nun schon und sie konnte immer noch nichts an Mulders ärgerlicher Tendenz, die Regeln zu verletzen, ändern. Das war etwas, was sie selbst nicht tun konnte. Zu viele Jahre als Navy-Balg, von einer Navystation zur nächsten ziehend, hatten sie die Vorzüge von Zurückhaltung und das Einhalten von Regeln gelehrt.

"Du Idiot," hatte der Sechstklässler gespottet. "Dieser Behälter ist für Papier. Und du tust dein Essen hier rein." Dana schreckte zurück. Die anderen Kinder im Essenraum von St. Benedict hatten gelacht. Sie konnte sie über sie reden hören, als sie verschämt ein halbes Erdnussbuttersandwich aus dem Eimer herausholte. Es war Februar und es war ihr erster Tag in St.  Benedict. Es war ihre siebte Schule in sechs Jahren. Ihr Vater war bei der Navy und sie war immer die Neue in der Schule. Und sie hasste es.

Wenn man immer die Neue in der Schule war, lernte man schnell, sich still zu verhalten, für sich zu bleiben und nichts zu machen, bis man sicher war, dass man die Regeln verstand. Sie wusste das. Aber sie machte immer noch Fehler, saß in der Pause auf der falschen Wippe, stand beim ersten Klingeln von ihrer Schulbank auf, sich dessen nicht bewusst, dass das erste Klingeln denen galt, die mit dem Bus fuhren und nicht denen, die von ihren Eltern abgeholt wurden. So wie sie.

Und wenn man Fehler machte, würde es das niemand um einen herum jemals vergessen lassen. Dana war nicht dumm, sie wusste, wie die Hackordnung funktionierte. Das Kind in der Schule ganz unten, dasjenige, das das niedrigste am Totempfahl vor ihrer Ankunft war, würde sich beinahe immer auf sie einschießen und ein paar billige Lacher aufgrund ihrer Unwissenheit ernten. Sie verstand das Prinzip: Wenn du in der Hierarchie nicht nach oben kommen kannst, dann kannst du wenigstens versuchen, jemanden in den Rang unter dir zu bekommen. Niemand war ein leichteres Ziel als das neue Kind.

Der einzige Ausweg daraus, so fand Dana heraus, war Wissen, Beobachtung, Sehen und perfekte Befolgung der Regeln. Sie beobachtete und wartete und beobachtete noch mehr, sie bewegte sich nicht, bis sie sicher war, ohne jeden Zweifel, dass sie es begriffen hatte. Ein Schüler, der ein halbgegessenes Brötchen in den Eimer warf, war nicht genug; sie mussten es alle tun oder sie konnte sich nicht sicher sein. Beweise, erkennbare, messbare, wiederholbare Ereignisse, die zusammengenommen einen sicheren Beweis darstellten. Finde den Beweis, folge den Regeln, tu, was man von dir erwartet - das, lernte sie bald, war der einzige Weg, um sicher zu sein.

Sie versuchte es wieder. "Hier weht immer noch die Fahne der Konföderierten, Mulder. Bundesautorität ist hier nicht populär, um es milde auszudrücken. Wir haben uns an die Regeln zu halten oder wir riskieren, in Schwierigkeiten zu kommen, aus denen uns niemand heraushelfen wird."

"Ich glaube nicht, dass die Einwohner von Alabama bereit sind, von der Union abzufallen wegen zwei FBI-Agenten, die eine fragwürdige Suche nach einer Chemieanlage durchführen, Scully," entgegnete Mulder und steuerte das Auto die Water Street in Richtung I-10 hinunter. "Sie mögen den Bürgerkrieg nicht vergessen haben, aber hier herrscht Recht und Gesetz."

"Ein Grund mehr, sich an die Regeln zu halten und einen Durchsuchungsbefehl zu beantragen," meinte Scully. "Das Bundesgerichtsgebäude befindet sich nicht weit vom Distriktbüro. Es würde nicht einmal fünfzehn Minuten dauern, dies einem Richter zu erläutern und einen Durchsuchungsbefehl zu bekommen."

"Ich sag dir was, Scully," sagte Mulder. "Du fragst den Richter nach einem Durchsuchungsbefehl. Weck ihn auf, unterbrich ihn beim Abendbrot oder beim Monopolyspiel und erzähl ihm, dass wir vermuten, jemand züchtet tödliche Erreger in einer Fabrik in McIntosch, wir wissen nur nicht, welche Fabrik und wir haben die Erreger nicht gesehen, aber wir wissen, dass sie dasein müssen. Wenn - ich wiederhole, wenn - du einen Durchsuchungsbefehl bekommst, dann will ich es so rechtmäßig wie möglich durchführen. Aber wenn wir das tun, das verspreche ich dir, wird alles, was wir finden werden, ein leeres Lagerhaus oder eine voll funktionierende Fertigungsanlage sein, die umweltfreundliche Babynahrung produziert. Wie oft müssen sie die Beweise verschinden lassen, bevor du es begreifst?"

"Ich begreife es, Mulder," schoss sie wütend zurück. "Ich bin diejenige, die einen Sarg voller Sand vergraben hat, nachdem sie die Leiche meiner Tochter verschwinden ließen." "Scully, so habe ich das nicht gemeint," erwiderte Mulder. Er begann eine Entschuldigung, aber Scully unterbrach ihn. "Ich denke nicht, dass ich das heute Nacht noch weiter diskutieren will, Mulder," sagte sie eisig. "Wir können das morgen entscheiden, nachdem wir uns ausgeruht haben und die Gelegenheit hatten, darüber nachzudenken."

"Ich muss darüber nicht nachdenken, Scully," entgegnete Mulder. "Ich werde heute Nacht dorthin gehen." "Nein." "Was meinst du mit nein?" "Ich meine nein. Ich meine, wenn du gehst, muss ich als deine Rückendeckung mitgehen und ich bin keine angemessene Rückendeckung, weil ich müde bin und weil ich wütend bin, und das wäre im Moment gefährlich. Lass uns einfach ein bisschen schlafen."

"Du musst nicht mitgehen, Scully," meinte Mulder und Scully konnte den kontrollierten Ärger in seiner Stimme hören. "Ich bitte dich nicht darum, mitzugehen. Aber ich bitte dich auch nicht um deine Erlaubnis. Die brauche ich nicht."

"Nein, die brauchst du nicht," erwiderte Scully, ebenso ärgerlich aber nach außen hin kühl. "Ich habe nicht vergessen, wer hier der Senioragent ist.  Aber ich hätte gehofft, nach sechs Jahren als mein Partner würdest du beginnen, meinem Urteilsvermögen zu trauen, nur ein kleines bisschen. Oder ist das zu viel verlangt?"

Lange Zeit sagte Mulder gar nichts. Scully sah aus dem Seitenfenster und sah dem Nieselregen zu, der über das Glas lief. Als sie wieder nach vorn blickte, sah sie, dass sie sich auf einer Brücke befanden, die die Mobile Bay überquerte. "Das ist nicht die Straße nach McIntosch," sagte sie.  "Nein, das ist die Straße nach Daphne, wo unser Hotel ist," erklärte Mulder. "Ich habe überlegt, dass wir vielleicht ein bisschen schlafen sollten und das morgen angehen sollten. Was meinst du?"

Scully sah ihn einen Moment lang an. Der zögernde Blick in seinen Augen sagte ihr alles, was sie wissen musste. "Ich denke, das ist eine exzellente Idee," meinte sie, ihr Ton war gerade warm genug, um ihn wissen zu lassen, dass sie nicht mehr ärgerlich war. Nicht wirklich warm, nicht wenn sie auf dem Weg in ein Hotel waren. Das wäre gegen die Regeln.

Daphne, Alabama

8:43 p.m.

Das Hotel an sich war gar nicht so schlecht und das beste von allem war, es zeigte westwärts über die Mobile Bay. Scully freute sich, das Schlachtschiff USS Alabama in der Ferne zu sehen, das eine scharfe Silhouette in den Flutlichtern hinter sich warf. Vor Jahren hatte ihr Vater sie hierher gebracht, um sich das einst mächtige Schiff anzusehen, während er zeitweilig auf der Marinebasis Pensacola stationiert war. Ihr Großvater, sein Vater, hatte auf einem Schiff wie diesem im Zweiten Weltkrieg gedient, erzählte er ihr. Sie war so glücklich gewesen, als er sie herumzeigte und sie spürte seinen Stolz auf sie und den Stolz, eine Scully zu sein, Teil einer Navyfamilie, Erbin einer alten und großartigen Tradition des Dienens.  Für sie war an diesem Tag alles perfekt.

Nun war sie hier mit ihrem Dienstausweis der Bundesbehörde, die ihr Vater mehr als alles andere gehasst hatte, ruhte sich aus, entspannte sich und brachte sich in Form, um eine illegale Suche durchzuführen, das Gesetz zu brechen, auszuspionieren, was amerikanische Staatsbürger taten, und das alles im Namen einer besseren Sache. Hör einfach auf, dachte sie. Du tust, was du tun musst. Tag für Tag. Der Morgen wird sich um sich selbst sorgen.

Sie sah auf ihre Uhr, es war spät, aber noch nicht zu spät. Scully begann zu glauben, dass es womöglich an diesem Abend ein richtiges Abendessen geben würde. Dieser Ort hatte tatsächlich Restaurants in der Nähe, in denen das Essen auf Porzellantellern serviert wurde anstatt in Pappschachteln.  Aber sie hatte kein Glück. Mulder war wie üblich in sein Zimmer gegangen, hatte den Fernseher eingeschaltet und begonnen, durch die Kanäle zu zappen.  Vom Geräusch her hatte er einen Sportkanal gefunden und sie wusste, das bedeutete, er war für die Nacht fertig.

Reumütig schob Scully die Gedanken an einen Abend in Gesellschaft beiseite.  Sie zog sich ihren Pyjama und den Bademantel an und prüfte verdrießlich die in Plastik geschweißte Liste des Hotels mit den in der Nähe befindlichen Fastfood-Ketten.

Dann hörte sie das schwache Klingeln von Mulders Handy. Er nahm das Gespräch entgegen und drehte sofort den Fernseher leiser. "Sind Sie sicher?" hörte sie ihn fragen. "Wir sind gleich da." Einen Moment später klopfte er zweimal an die Verbindungstür. Sie öffnete sie. "Scully, zieh dich an, wir müssen noch mal raus." "Keine Chance, es sei denn, du hast einige wirklich zwingende Gründe," entgegnete Scully und verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Ich habe nichts gegessen, du hast nicht geschlafen und wir waren uns einig, dass wir morgen darüber reden."

"Scully, ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre." "Es ist immer wichtig, Mulder," antwortete sie ungerührt. "Kannst du mir wenigstens sagen, wer dich angerufen und dich dazu gebracht hat, mich wieder in diesen ‚milden und wundervollen' Winter an der Golfküste hinauszutreiben, der sich als kalt und regnerisch und ekelhaft erwiesen hat und noch nicht einmal die ästhetischen Vorzüge von Schnee bietet?"

"Ich habe nie behauptet, ein Meteorologe zu sein, Scully," meinte Mulder.  "Aber es ist nicht viel Zeit und ich möchte nicht hier darüber reden. Die Wände in diesem Hotel sind zu dünn. Ich verspreche dir, ich erzähle es dir unterwegs. Zieh dich einfach an, okay?"

Seufzend drehte sich Scully um. Werde ich jemals lernen, ihm zu widerstehen, dachte sie. "Gib mir zehn Minuten, Mulder," antwortete sie.  "Und schließ die Tür, wenn du rausgehst." "Das ist meine G-woman," meinte Mulder. Auf halbem Wege durch die Tür hielt er inne. "Hey Scully?" fragte er. "Ja?" "Hast du eine kugelsichere Weste mit?" "Brauche ich eine?" Mulder nickte. "Ja, und nimm ein zusätzliches Magazin mit." Damit schloss er die Tür. Scully starrte auf die Tür. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Mulder so eine Bitte jemals zuvor geäußert hatte und es bereitete ihr Sorgen. Wenn er glaubte, dass dort Gefahr lauerte, dann war das so. So einfach war das.

Nicht immer hatte sie seinen Instinkten vertraut; als sie ihn kennenlernte, unterstützte sie die allgemeine Meinung, dass Spooky Mulder wenigstens ein bisschen verrückt war. Doch er war Verhaltensprofiler gewesen, die ganze Wissenschaft des Profilings, so wie sie war, basierte auf intensiven Befragungen bekannter Serienmörder und dem Zerpflücken ihrer Gehirne auf der Suche nach den Hintergründen für ihre Taten. Das verlangte seinen Tribut von den Befragern, die meisten der ursprünglichen FBI-Profiler hatten das Gebiet nach weniger als zehn Jahren verlassen, schrieben Bücher, gaben Unterricht und wurden Privatdetektive. Mit anderen Worten, sie machten alles, nur nicht mehr das, was sie vorher getan hatten.

Also wäre es einfach für Scully gewesen, als Mulder zum ersten Mal begann, ihr von Alienentführungen und Regierungskomplotts zu erzählen, seine Theorien als Produkte eines leicht verwirrten Geistes abzutun. Aber langsam, über die nächsten sechs Jahre, lernte Scully die Wahrheit kennen und es war schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte.

Die Wahrheit war, dass Mulder nicht verrückt war. Als sie ihn kennenlernte, obwohl sie es da noch nicht wusste, war Mulder nahe am dem Wendepunkt, zu dem ihn seine Peiniger so sorgfältig geführt hatten. Ihm den Nimbus zu nehmen, war der letzte Schritt, ihn zurückzulassen mit nichts, das er zeigen konnte nach all den Jahren Arbeit, all das unberücksichtigt zu lassen, was er über die Verschwörung erfahren hatte, von der sein eigener Vater ein Teil gewesen war.

Ihre Zuteilung zu den X-Akten war Teil dieses Plans, aber es erwies sich als Fehler, als ein großer aus der Sicht der Verschwörer. Anstatt seine Zerstörung zu vervollständigen, wurde sie seine Erlösung, gab sie ihm seine Vernunft wieder, gewann sein Vertrauen und gab ihm die Kraft, weiterzumachen. Irgendwie war es einfach dadurch geschehen, dass sie an seiner Seite war.

Als diese mächtigen Männer einen direkteren Angriff gestartet hatten - die Generalstaatsanwältin davon zu überzeugen, Mulder die X-Akten wegzunehmen, dann die Akten fast vollständig zu verbrennen - war sie immer noch bei ihm geblieben. Dort gehörte sie hin. Auch wenn sie nicht wusste, wie das passiert war. Aber sie waren Partner, sie waren zusammen durch die Hölle gegangen und nun wusste sie, dass seine Instinkte vernünftig waren.

Rasch zog sie sich ein Unterhemd und Jeans an und zog ein T-Shirt über die Kevlarweste, um sie zu verbergen. Sie zog ihre Dienstwaffe aus dem Holster, prüfte die Kammer und das Magazin. Voll geladen. Sie lud die Waffe wieder, steckte sie zurück ins Holster und steckte ein weiteres Zehn-Schuss-Magazin in ihre Hosentasche, zusammen mit ihrem Dienstausweis und einem Paar Handschellen. Gott sollte ihr beistehen, wenn einundzwanzig Schuss nicht genug waren.

Scully streifte sich eine Windjacke über, verbarg damit geschickt die Waffe und stopfte zwei Baumwolltupfer und zwei kleine verschlossene Teströhrchen in eine Tasche, zwei Paar Latexhandschuhe in die andere und verließ dann, die Tür hinter sich verschließend, das Hotelzimmer.

North Mobile County, Alabama

9:47 p.m.

"In Ordnung, Mulder, da bin ich. Ich bin bis an die Zähne bewaffnet. Nun erzähl," verlangte Scully, während Mulder durch den kalten Nieselregen fuhr. "Dieser Anruf kam von Marita Covarrubius," begann Mulder. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie sich die Kiefermuskeln seiner Partnerin verspannten. Eifersucht oder professionelle Verachtung? Er konnte nicht sicher sein. So fuhr er eilig fort. "Die Covarrubius hat gesagt, dass sich der Zugverkehr in McIntosch in den letzten vierundzwanzig Stunden verzehnfacht hat. Ihre Quellen sagen, es sieht so aus, dass die alte Monsanto-Anlage in rasantem Tempo ausgeräumt wird."

"Also liege ich richtig, dass wir auf dem Weg zur Monsanto-Anlage sind?" fragte Scully. "Auf den Tipp der Blondine hin?" "Ich will es nur überprüfen," entgegnete Mulder. "Tatsächlich traue ich ihr nicht mehr, als du es tust. Worauf ich vertraue ist, wenn sie ihren üblichen Mustern treubleibt, wird dort etwas sein, etwas bedeutsames. Ich will nur wissen, was dieses etwas ist. Es würde mich nicht überraschen, wenn der alte Raucher uns an der Eingangstür begrüßt. Meine Wachsamkeit wird nicht nachlassen, Scully, glaube mir."

"Wird sie das nicht? Beweist du nicht, nur indem du dorthin fährst, dass deine Wachsamkeit nachlässt? Wenn du ihr wirklich nicht vertraust, warum sind wir dann in erster Linie hier?" Einen Moment lang antwortete Mulder nicht. In der Dunkelheit konnte Scully sein Gesicht nicht genug sehen, um zu sagen, ob sein Schweigen von Ärger, Zweifel oder nur von Überlegung herrührte, und das bereitete ihr Sorgen. Sie mussten zusammen sein, wenn sie sich in Gefahr begaben; Ärger konnte sie beide umbringen. Scully öffnete den Mund, um sich zu entschuldigen, als Mulder schließlich sprach.  "Es ist nichts, dass ich quantifizieren kann, Dana," sagte er. Wie immer, wenn er sie beim Vornamen nannte, erhielt er ihre volle Aufmerksamkeit. Er tat es selten und dann gewöhnlich nur, wenn sie allein waren, als Einleitung zu etwas sehr wichtigem oder sehr persönlichem. "Es basiert auf einem inneren geistigen Prozess, von dem ich nicht einmal weiß, wie ich ihn beschreiben soll," fuhr er fort. "Aber ich glaube, dass es richtig ist, in diese Fabrik zu gehen. Ich glaube, dass da etwas ist, dass wir wissen müssen, egal ob sie dort Pockenviren züchten, graue Aliens erzeugen oder etwas weitaus schlimmeres."

Das erschreckende daran war, dachte Scully, dass er es wahrscheinlich wusste. Er wusste eine Menge. Im Wagen herrschte ein leicht unbequemes Schweigen, bis Mulder wieder sprach. Ohne seine Augen von der Straße zu nehmen, sagte er leise, "Ich wünschte, du könntest mir vertrauen." "Mulder, ich vertraue dir," erwiderte Scully, ebenso leise. "Ich vertraue dir mit meinem Leben. Aber irgendetwas ist hier verkehrt. Ich glaube nicht an Intuition oder wie immer du es nennen willst, aber ich kann das Gefühl nicht loswerden, dass da etwas weitaus gefährlicheres ist, als du glaubst." "Das denke ich nicht," meinte Mulder. "Du würdest nicht glauben, für wie gefährlich ich das halte."

In der Zwischenzeit war es nach zehn Uhr abends geworden, als sie die verlassene Monsanto-Fabrik erreichten, die verborgen an einer schmalen Straße zwischen den hohen Pinien von Alabama lag. Mulder schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus, als sie sich annäherten, und ließ den Wagen den abschüssigen Kiesweg in Richtung Eisenbahnzufahrt zu dem Gebiet rollen.

Scully spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, als sie so geräuschlos wie möglich dem Eisenbahnwagonentladepunkt entgegengingen. Mulders Vorahnungen in Bezug auf die Gefahr übertrugen sich auf sie und sie hatte selbst auch welche. Es war dunkel, zu dunkel, sogar für eine verlassene Fertigungsanlage. Ein paar Lichter hätten an sein sollen, wenn auch nur, um Vandalen abzuhalten.

Mulder kletterte die 1,50 m hohe Betonladerampe allein hoch, dann nahm er Scullys Hände und half ihr herauf. Langsam und geräuschlos wischte er sich die Hände an seinem T-Shirt ab und zog seine Waffe aus dem Holster. Sie hochhaltend, den Finger leicht um den Abzug gelegt, ging er in das stille Gebäude. Scully zog ihre Waffe und folgte ihm, hielt sich leicht links hinter ihm und deckte so seine unbewaffnete Seite.

Ihre Fußtritte hallten laut wider, das Geräusch ließ auf ein großes, leeres Areal schließen. Scully konnte gar nichts sehen. Es gab kein Licht, nicht einmal Mondlicht fiel durch die Fenster. Sie spitzte die Ohren, hörte aber nichts außer einem leichten kratzenden Geräusch. Mäuse, dachte sie, oder Insekten. Ein saurer Geruch hing schwer in der Luft - verdorbenes Getreide oder vielleicht Schwefel. Was immer es war, es machte sie krank. "Was zur Hölle ist das für ein Gestank?" flüsterte ihr Mulder ins Ohr.

"Ich weiß nicht," flüsterte sie zurück. "Obwohl ich das vorher schon mal irgendwo gerochen habe." "Könnte es eine Bakterienzucht sein?" "Bestimmt, aber welcher Art? Es ist kalt hier drin, zu kalt..." Scully schob sich vorwärts, dann legte sie eine Hand auf seinen Arm und deutete nach vorn auf etwas, das aussah, wie eine 3,50 m hohe Kühlzelle. "Da drinnen," flüsterte sie.

Die kühle Luft war feucht und unbewegt, als sie sich zentimeterweise vorwärts bewegten, und Scully spürte, wie ihr kalter Schweiß über den Rücken lief und in das Tal zwischen ihren Brüsten, sich in den Bund ihres BH saugend. Es war kein gutes Gefühl. Die Waffe lag schwer in ihrer Hand.  "Mulder," flüsterte sie, ihre Stimme klang laut und hart in der Stille.  "Wir brauchen Licht." Mulder nickte, knipste eine kleine Taschenlampe an und richtete sie auf die Türklinke. Er drückte sie nieder, es war nicht verschlossen und er schob den Riegel zurück und öffnete die Tür. Der Geruch überfiel beide Agenten gleichzeitig - ein ekelhafter Geruch von Fäulnis, wie der Geruch einer Leiche. Scully wurde abgestoßen, aber wenigstens war sie es gewöhnt, Mulder wurde beinahe davon überwältigt.

"Oh Gott," sagte er sehr flach. "Atme durch den Mund," riet ihm Scully, immer noch flüsternd. "Leuchte mal nach vorn." Als er es tat, sah sie, dass sie sich in einem Raum von 30 mal 6 m befanden. Der Raum war voller Regale, in denen Behälter mit trüber, faulriechender Flüssigkeit standen. Die Luft war warm, beinahe heiß; ungefähr 37° Celsius, dachte sie. Körpertemperatur.  Die ideale Wachstumstemperatur für Krankheiten verursachende Organismen.  "Sieht so aus, als hätte dein Informant recht gehabt, Mulder," sagte sie sehr leise. "Dieser Raum scheint ein gigantischer Inkubator für irgendeine Art Bakterienkultur zu sein. Wir können hier nicht bleiben, es könnte ein durch die Luft übertragenes Pathogen sein. Fass nichts an." Scully steckte ihre Waffe ins Holster und holte rasch die Handschuhe heraus. Sie griff sich einen der Behälter und hielt ihn in das Licht von Mulders Taschenlampe, um ihn zu untersuchen.

"Was ist es?" flüsterte Mulder. Scully schüttelte den Kopf. "Das kann ich nicht sagen ohne eine Kultur." Sie griff in ihre Tasche nach den Teströhrchen, öffnete sie und tauchte erst einen Tupfer, danach den zweiten in die scheußliche Flüssigkeit. Dann setzte sie den Behälter wieder ins Regal, steckte die Tupfer in die Röhrchen, verschloss sie wieder und steckte sie in ihre Tasche zurück.

"Wir müssen das schnell in ein Labor schaffen, bevor was immer da drin wächst stirbt," flüsterte sie So schnell sie konnte, zog sie die Handschuhe aus, drehte die Innenseite nach außen und stopfte sie wieder in ihre Tasche. Mulder nickte. "Ich will mich nur noch kurz im Rest der Fabrik umsehen," entgegnete er und richtete das Licht der Taschenlampe auf die Tür. "Lass uns schnell machen," meinte Scully und zog ihre Waffe wieder hervor. "Ich will diese Proben nicht länger als nötig mit mir herumtragen."

Gerade als sie die Tür erreichten, schaltete Mulder das Licht aus und legte seine Hand auf den Arm seiner Partnerin, so dass sie stehen blieb. Sie spürte seinen warmen Atem dicht an ihrem Ohr. "Da ist jemand," flüsterte er. "Ungefähr zehn Meter vor uns, auf der rechten Seite." "Ich sehe gar nichts." "Hör hin." Scully lauschte. Wieder hörte sie das kratzende Geräusch und den Klang des Regens, der von der Dachrinne tropfte. Sie hatte sich halb zu Mulder umgedreht, bereit, ihm wieder ins Ohr zu flüstern, als sie ein Mündungsfeuer in der Dunkelheit gerade vor ihr sah. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und sie spürte den wuchtigen Aufprall der Kugel auf ihrer Brust. Ihre Waffe flog ihr aus der Hand und schlitterte über den Zementfußboden, als sie zusammenbrach und sich vor Schmerz krümmte, unfähig zu sprechen.

"FBI! Ich bin bewaffnet! Lassen Sie die Waffe fallen!!" hörte sie Mulder rufen, hörte ihn sich auf den Boden werfen. "Lassen Sie sie jetzt fallen!" "Leck mich," erwiderte eine knurrende Stimme. Scully hörte ein klickendes Geräusch. Ein Revolver, dachte sie von weitem. Pass auf, Mulder, er schießt. Immer noch atemlos, mit rebellierendem Magen, tastete sie nach ihrer Waffe. Obwohl sie wusste, dass sie jetzt nicht schießen konnte, brauchte sie sie doch, um bereit zu sein, wenn die Chance dazu kommen sollte. Aber Mulder hatte das Geräusch auch gehört und das war alles, was er brauchte. Auf die Quelle des Geräuschs zielend, feuerte er los. Einmal.  Zweimal. Ein grauenvoller Schrei erklang und das Geräusch von etwas schwerem, das hinfiel, dann nichts.

"Scully!" schrie Mulder und obwohl sie die Panik in seiner Stimme hörte, konnte sie nicht antworten. "Scully, bist du in Ordnung? Antworte mir, Scully!" Sie versuchte, irgendein Geräusch zu machen, einen Weg zu finden, um ihn zu beruhigen, doch sie schaffte nur ein Wimmern. Aber er hörte es.  Er bewegte sich auf sie zu, hielt sich am Boden, kam aber langsam näher. Er war beinahe da. Sie hörte das kranke Geräusch von etwas schwerem, das gegen Knochen schlug. Mulder stöhnte vor Schmerz auf und brach neben ihr auf dem Boden zusammen. Er bewegte sich nicht. Ein strahlendes Licht schien Scully direkt in die Augen und blendete sie. "Ihr zwei lernt es nie, nicht wahr?" sagte die Stimme hinter dem Licht. Ich kenne diese Stimme, dachte sie, ihre Gedanken verschwammen immer mehr, je mehr die Schmerzen zunahmen. Wer ist das? Mit der Zeit, dessen war sie sich sicher, würde sie es herausfinden.  Sie lag still und dachte nach, bis ein Stiefel kraftvoll in ihrem Unterleib landete, sich dann zurückzog und gegen ihren Kopf trat.


Anmerkungen: Wenn ihr soweit gelesen habt, verdient ihr besseres, als mit all diesem Zeug begrüßt zu werden, aber ich nahm an, wenn ich es an den Anfang gesetzt hätte, hätte absolut niemand über die erste Seite hinaus weitergelesen. Ich bitte um Entschuldigung. 1. Identifizierende Informationen über Verdächtige und Opfer in den Mordfällen wurden geändert; jegliche Fehler stammen von mir und nicht von Mr. Douglas. 2. Mulders private Gedanken über die Fälle, ausgenommen wo anders gekennzeichnet, sind meine eigene Schöpfung, jeder Makel darin ist komplett meine Schuld. Keines der wirklichen Opfer in den Fällen von Mr. Douglas hat irgendeine Verbindung - ausgenommen als Opfer - zu irgendwelchen kriminellen oder terroristischen Aktivitäten. Solche Verbindungen in diesem Roman sind die pure Einbildung der Autorin. 3. Dylan Thomas und andere Schreiber, die zu Beginn eines jeden Kapitels zitiert werden, werden ohne Erlaubnis zitiert, aber mit großer Bewunderung. 4. Die Namen bestimmter Personen und Schauplätze in Mobile und Daphne, Alabama, wurden geändert, die Geographie bleibt erhalten. 5. Die USS Nassau war in der Zeit, in der dieser Roman spielt, in der Ägäis und half dem UN-Aufgebot in Bosnien und ich meine es überhaupt nicht als Respektlosigkeit ihr oder ihrer tapferen Crew gegenüber, wenn ich sie in diesem Roman als unfreiwilligen Transporteur eines Verräters benutze. 6. Dank und überschwänglichen Respekt dem Polizeigeistlichen Hal Brown für seine verständnisvolle und mitfühlende Arbeit mit den Polizisten der Justizbehörde und dem posttraumatischen Stress, auf die ich schwer vertraut habe bei den Nachforschungen für diesen Roman. Danke auch für seinen humorvollen Einblick in die Verantwortlichkeiten beim FBI, was die Doughnuts und das Spielzeug angeht. 7. Die Charaktere sind Schöpfungen der Autorin, einschließlich des diensthabenden Special Agent Daniel Prescott und Officer Willie Mack und somit ihr Eigentum.
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