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Nox Aeterna - Triologie Part I

von NightFright

Kapitel 1

PROLOGUS





19. DEZEMBER 2007, 00.27 UHR

ARLINGTON NATIONAL CEMETERY

ARLINGTON, VIRGINIA


DER einst so sorgsam gepflegte, scheinbar immergrünende und friedliche Nationalfriedhof am Potomac River

hatte all seinen Glanz verloren. Er glich nun nicht mehr dem Ort der Ehre und des andächtigen Schweigens, welcher er einmal gewesen war. Vielmehr glaubte man, über ein nahezu unüberschaubares Schlachtfeld zu blicken, über das der tödliche, alles verschlingende Sturm einer nuklearen Apokalypse hinweggefegt war. Kaum eines der unzähligen schimmernd weißen Kreuze, die früher in ermahnend streng geordneten Reihen über 200 Hektar Land bedeckt hatten, stand noch an seinem alten Platz. Überall klafften stattdessen metertiefe, pechschwarze Krater, aus denen dünne, graue Rauchschleier emporstiegen. Von allen jemals angepflanzten Bäumen stand kein einziger mehr. Herausgerissene Baumstümpfe, riesige Trümmerbrocken umgekippter Statuen und Denkmäler sowie unvorstellbare Massen an dem Erdreich entrissener menschlicher Gebeine übersäten das Gebiet.

War Arlington einst das Symbol für ewigen Seelenfrieden gewesen, so empfand man nun beim Betreten der gigantisch dimensionierten Anlage nur noch Abscheu, Trauer und das Gefühl beklemmender Einsamkeit. Starker

Wind blies über die verwüsteten Felder, wirbelte Staub, verwelktes Laub und grobes Astwerk durch die Luft, welche für die Jahreszeit bei weitem zu warm war – ja, man konnte merkwürdigerweise fast sagen, es war schwülheiß wie an einem Spätsommertag. Der Himmel erglühte in schummrigem Blutrot, keinen einzigen Stern zeigend – und dies, obwohl Mitternacht gerade erst eine halbe Stunde zurücklag. Immer wieder zischten kleinere Schwärme seltsamer Lichtscheiben blitzschnell über das Firmament, schmale, bandartige Leuchtspuren hinterlassend. Manchmal blieben einige dieser Lichter für ein paar Augenblicke über der Landschaft schweben,

unruhig hin und her zuckend – gerade so, als würden sie nach etwas Ausschau halten – , um sich dann wieder wie ein Fliegenschwarm in alle Winde zu zerstreuen. Beim Anblick dieses wahrhaft albtraumhaften Szenarios hätte man annehmen sollen, dass es an diesem Ort schlichtweg keinerlei Form irgendwelchen Lebens mehr geben könne; zu feindlich und bedrohlich schien alles zu wirken.



Doch wer so dachte, befand sich im Irrtum.



Inmitten der Trümmer, zerfetzten Skelette und verkohlten Leichen, die einen abscheulichen Gestank über die gesamte Anlage verbreiteten, standen vier menschliche, in lange schwarze Mäntel gekleidete Gestalten schweigend an einem kleinen, stark beschädigten Grabmal. Was auch immer geschehen sein mochte, es war an dieser heiligen Ruhestätte nicht spurlos vorüber gegangen. Der schief sitzende Gedenkstein aus poliertem grauem Marmor zeigte tiefe Risse und war mit Rußspuren übersät; jeglicher Grabschmuck schien offensichtlich zerstört oder vom Sturm fortgeweht worden zu sein. Dennoch strahlte das übrig gebliebene Monument eine merkwürdige Aura der Zuflucht und Geborgenheit aus – trotz seiner Beschädigungen zählte es zu den ganz wenigen Gräbern, die in dieser Trümmerwüste überhaupt noch als solche erkennbar geblieben waren. Die größte der vier Gestalten löste sich aus der Gruppe und trat vor dieses Überbleibsel einstiger Würde hin. In den stark zitternden Händen hielt sie eine einzelne weiße Rose; ja, sie war tatsächlich weiß, was man in einer solchen Situation kaum für möglich gehalten hätte – eine ungewöhnlich helle Farbe, die sich von der düsteren Umgebung mit einem fast gespenstischen Leuchten abhob.



„Ist es wirklich hier?“, fragte eine raue, männliche Stimme aus der Runde der hinter dem Rosenträger Stehenden heraus. „Licht!“, kam es als Antwort trocken von vorne. Unmittelbar darauf erhellte der schmale Lichtkegel einer Taschenlampe das Grab, tastete suchend über den bröckelnden Marmorstein – und blieb an einigen schwer leserlichen Buchstaben hängen. Nach einem Moment der Ungewissheit fiel der Vorgetretene zur Überraschung seiner Begleiter auf die Knie, vergrub das schmutzige, blutverkrustete Gesicht in seinen noch schlimmer als zuvor zitternden Händen – und begann leise zu wimmern. Selten zuvor hatte man an diesem Ort der Trauer jemals ein solch herzzerreißendes Geräusch des Klagens und des Leids vernommen. Es war, als ob sich aller Kummer der Welt in einem einzigen Laut vereinigen wollte, als ob selbst die Zeit stillstehen und in stummem Mitgefühl innehalten würde. Eine Zeitlang verharrte der Kniende so, seinen unkontrollierbaren Gefühlen freien Lauf lassend. Schließlich blickte er zögernd auf, die müden, verweinten braunen Augen auf den Grabblock gerichtet. Im Schein der Lampe konnte man das abgemagerte, kantige Gesicht eines Mannes erkennen, mit Staub behaftet und teilweise blutende Schnittwunden aufweisend. Einige graue Strähnen zogen sich seitlich beider Schläfen durch sein ansonsten durchgehend schwarzes, wenn auch wirres Haar, welches der Wind unaufhörlich immer stärker zerzauste. Wenn der Mann insgesamt auch eine erbärmliche, abgekämpfte und Mitleid erregende Erscheinung abgab, so vermochte man in seinem Blick dennoch etwas auszumachen, welches darauf hindeutete, dass er einmal eine starke, charismatische Persönlichkeit mit Zielstrebigkeit und idealistischen Wertvorstellungen gewesen sein musste.

Um seine Fassung ringend, wischte er sich flüchtig die Tränen aus dem Gesicht und starrte mit leerem Blick auf die in den Stein gehauenen Lettern. Die Rose nervös zwischen den Fingern hin und her bewegend, brachte er schluchzend hervor: „Mein... Gott... wie konnte es nur dazu kommen? Ich... ich wollte ihr doch nie wehtun, niemals... in ihrem ganzen Leben... ich versprach es ihr damals... und... sie... hatte... noch so viel vor sich... die Zukunft, die wir gemeinsam hätten haben können... alles unwiederbringlich verloren... warum nur? Warum sie, warum ausgerechnet sie, Frohike?“ Der Mann verlor erneut die Beherrschung über sich und verfiel in einen Weinkrampf, der ihn aufs Heftigste schüttelte. Besorgt trat ein untersetzter, grauhaariger Mann mit großer Brille und faltigem Gesicht aus der Dreiergruppe vor und legte dem Freund vorsichtig eine Hand auf die Schulter. „Mulder“, raunte er mit tiefer, verrauchter Stimme, „du darfst dir nicht die Schuld dafür geben, was geschehen ist. Sicher, wäre sie nicht gegangen, sähen die Dinge jetzt vielleicht besser aus, möglicherweise sogar entscheidend besser, aber du darfst keinesfalls vergessen, wie es dazu kam. So hart und bitter das nun auch für dich klingen mag, aber sie ist an ihrem Schicksal nicht unschuldig. Genau genommen hat sie... es sogar selbst verursacht, das alles hier. Zwar aus fehlgeleitetem Glauben heraus, zugegeben, doch die schwerwiegenden Vorwürfe sind nicht von der Hand zu weisen. Durch sie konnte es erst beginnen.“ „Nein!“, heulte Fox Mulder verzweifelt auf, in trotzigem Protest auf den Erdhügel vor sich zeigend. „Das hätte sie niemals gewollt! Niemals, hört ihr? Unwissend war sie, ein Werkzeug, nur eine Schachfigur in einem Spiel, dessen Gewinner bereits feststand, bevor die erste Runde überhaupt angefangen hatte! Ich wollte ihr kein Leid zufügen, zu keiner Sekunde! Meine Absichten waren gut, und ihre letzten Endes sicherlich ebenfalls! Hätte sie mir doch bloß eine Chance gegeben, ein einziges kleines Fünkchen Hoffnung, dass sie doch noch zur Einsicht zu bringen sei! Und ich war so dicht davor, ja, ich hatte es sogar schon geschafft! Doch dann ist sie mir... genommen worden... einfach so... gerade, als unser Glück so nahe gerückt schien wie noch niemals zuvor... oh, ich Versager! Ich elender Versager! Meine ganze Zukunft habe ich mir nehmen lassen... meine eigene... und die von uns allen! Frohike, wie kann ein Mann, ein einzelner Mann nur in einem derartigen Ausmaß versagen, weißt du darauf eine

Antwort?“ „Noch ist nicht alles verloren, Mulder.“, erwiderte Frohike nach kurzem Überlegen. „Zumindest noch nicht ganz. In unseren Verstecken leben noch so viele... und sie verdanken dir weit mehr als nur ihr Leben.“ „Was kann ich denn letztendlich schon für die tun? Ich zögere das Unvermeidliche doch lediglich hinaus! Irgendwann werden auch sie gefunden, und dann erwartet sie das gleiche Schicksal wie alle übrigen! Es gibt keinen Weg, den ich unbeschritten gelassen habe, keine Möglichkeit, die ich ungenutzt verstreichen ließ, keinen Plan, den ich nicht angehört hätte. Alles vergeblich. Unser Widerstand ist doch bloß eine Farce, ein Witz, eine Illusion! Spätestens seit ihrem Tod ist er das, glaub mir! In ihr lag meine ganze Hoffnung, meine Zuversicht, mein Leben... mit ihr habe ich alles verloren, einfach alles. Sogar mich selbst. Die Leere, die sie in meinem Herzen hinterlässt, frisst mich von innen heraus nach und nach auf, so dass ich jeden Tag ein wenig mehr sterbe. Es ist ein langsames, qualvolles Hintreiben auf ein Ende, das ich selbst in die Wege geleitet habe!“ Unter Tränen griff er in eine Tasche seines weiten schwarzen Ledermantels, der ihn fast wie eine Kutte einhüllte, holte mühevoll ein kleines Foto heraus und hielt es zitternd in das Licht der Taschenlampe. Eine junge, sehr hübsche Frau mit langem, schimmerndem roten Haar blickte den Betrachter aus bezaubernden, tiefblauen Augen heraus an und zog einen allein schon durch ihr strahlendes Lächeln in ihren Bann.

Mulder wollte es innerlich zerreißen, als er mit einer Hand nach vorne an den Grabstein tastete und wie ferngesteuert den Ruß von den Buchstaben abscheuerte, um die Schrift wieder einigermaßen lesbar zu machen. Jäh zuckte er zusammen, als er erstmalig entziffern konnte, was er die ganze Zeit erahnt hatte:



DANA KATHERINE SCULLY

1964 - 2005



Einmal mehr schrie er auf. Er wollte nicht wahrhaben, dass der Name, den er da vor sich stehen sah, zu derselben Frau gehörte, deren Foto er gerade in seinen Händen hielt. „Dana! Nein! Du kannst das nicht sein! Nein, du kannst es einfach nicht sein!“, brüllte er verzweifelt in die stürmische, feuerrote Halbnacht hinaus. Tief besorgt sahen Mulders Begleiter einander an. „Ich hab´s euch ja gesagt, Leute!“, meinte der eine von ihnen. Er hatte schulterlanges, fahlblondes Haar, ein spitzes, kantiges Kinn und trug eine schwarzumrandete Brille mit dicken Gläsern. „Es war keine gute Idee, ihn hier her kommen zu lassen. Er dreht uns völlig durch!“ Sein Gegenüber, ein Typ mittleren Alters - überraschend gepflegter Vollbart und frisiertes braunes Haar - wollte gerade etwas erwidern, als plötzlich ein grelles Licht, das von einem Objekt hoch über ihnen ausgesandt wurde, mit hoher Geschwindigkeit auf sie zuschnellte. „Scheiße, Mann! Langly, Byers, schnell, dort in die Kuhle!“, bellte Frohike in Panik. Zu dritt packten sie den gelähmten Mulder eilig unter den Armen und zerrten ihn in einen der nahe gelegenen Krater. Noch während sie, ängstlich über den Kuhlenrand hinaus spähend, den riesigen Schein über das Grab hinwegstreichen sahen, begann Mulder bereits, sich unter hastigen Bewegungen aus dem Versteck wieder hervorzuarbeiten, um an seinen alten Platz zurückzukehren. „Sag mal, willst du’s heute etwa genau wissen, du Irrer?“, brüllte der wohlfrisierte Byers das geistesabwesende Häufchen Elend an, das bereits wieder dort kniete, von wo es gerade eben erst gewaltsam fortgezerrt worden war. „Wenn die uns finden, können wir uns praktisch gleich zu ihr dazulegen, kapierst du das nicht, Mulder? Wir sollten hier schleunigst verschwinden, solange wir’s noch können, oder bist du scharf darauf, unbedingt noch heute abzutreten? ... Mulder...?“



Fox Mulder schien seine wild gestikulierenden Freunde überhaupt nicht mehr wahrzunehmen. Wie in Trance hob er die Rose auf, die ihm während des Versteckens aus der Hand gerutscht war, und legte sie sorgsam vor den geborstenen Marmorblock.

„Lass sie nur reden, Liebes“, flüsterte er vor sich hin. „Wir brauchen die Zeit füreinander. Für uns. Weißt du eigentlich, weshalb ich heute zu dir gekommen bin? Ja, genau - weil es heute war. Heute vor genau zwei Jahren... zwei schrecklichen, bitteren Jahren...“



Von irgendwo weit her, so schien es ihm, meinte er noch Langlys Stimme zu hören, die beinahe unverständlich murmelte: „Uns bleibt keine Zeit mehr, Mulder, wir müssen los, hörst du? Die kommen sicher wieder, die vermuten doch garantiert schon, dass wir hier irgendwo sind...“



Unbeirrt fuhr er mit seinem imaginären Zwiegespräch fort, plötzlich milde lächelnd: „Damals hatte keiner von uns beiden auch nur die geringste Ahnung, dass es je so weit kommen würde, stimmt’s? Ganz im Gegenteil, der ganze Kram von wegen >Rekolonisierung< und >Invasion< war bereits sekundär geworden für uns. Die Verschwörung, von der wir die ganze Zeit befürchtet hatten, sie würde eines Tages Kontakt zu den außerirdischen Mächten aufnehmen, um grünes Licht für die Rückeroberung des Planeten zu geben, war längst vernichtet, ebenso wie der einzige existierende Alien-Mensch-Hybrid, der die Voraussetzung für eine Rückkehr der Kolonisten gewesen wäre. Auch der Raucher galt als tot, verbrannt in den Ruinen der Anasazi – mein eigentlicher Vater, der mir die Gabe, die bevorstehende Viren-Apokalypse durch ein aktiviertes außerirdisches Gen in meinem Gehirn überstehen zu können, genommen und egoistischerweise für sich selbst beansprucht hatte. Auch wenn wir, gejagt von beinahe unbesiegbaren Super-Soldaten, nach New Mexico fliehen und unsere Positionen im FBI aufgeben hatten müssen – für den Augenblick schien keine unmittelbare Bedrohung zu existieren, so dass wir unsere Sorgen verdrängten und uns der Vertiefung unserer jahrelangen Freundschaft widmen konnten, die sich endlich in die Richtung zu entwickeln begann, die ich schon lange Zeit angestrebt hatte. Endlich sah es danach aus, als ob sich zwischen uns etwas wie eine zarte Liebesbeziehung anbahnen könnte... trotz unserer Gegensätze, die aber ohnehin stets nur oberflächlicher Natur gewesen waren, wie ich finde... nach ewigem Warten endlich glücklich vereint... Vielleicht war ja das unser Fehler gewesen, vielleicht hätten wir weniger voreilig sein sollen. Weißt du, Dana... es fällt schwer, im Nachhinein die Ursache eines Fehlers zu finden, dessen Konsequenzen eine Nachforschung eigentlich längst sinn- und nutzlos gemacht haben... und doch will ich versuchen, gemeinsam mit dir herauszufinden, was mein Fehler war, warum ich versagen musste – nun, da ohnehin alles gleichgültig geworden ist angesichts des bevorstehenden Endes von Allem, was lebt. Ich weiß, das wird dich mir nicht zurückbringen, liebe Dana, aber dennoch... dieses Bekenntnis bin ich dir irgendwie schuldig, nach all dem... was ich dir und dem Rest der Welt angetan habe. Und ich anmaßender Idiot dachte in meiner grenzenlosen Arroganz, ich könnte den Helden spielen, denjenigen, der selbst in der ausweglosesten Situation immer noch eine Möglichkeit findet! Der Auserwählte, der Erlöser, ein Ritter der Gerechtigkeit – wie auch immer du es nennen willst... Doch ich bin kein Held. Ich war niemals einer und werde es auch nie sein. Leider ist mir das erst spät, zu spät klar geworden – nämlich erst,... als ich... ich dich verlor, meine liebe... Kleine...“



Mulder versagte die Stimme. Unerträgliche Trauer schnürte ihm die Kehle zu und drohte ihn zu erwürgen. Für einige Sekunden glaubte er, sich einfach flach auf die aufgewühlte Erde werfen zu müssen, um seiner nunmehr wertlos erscheinenden Existenz ein Ende bereiten zu können. Doch dann zwang er seine Augen einmal mehr auf das Foto vor sich, betrachtete die darauf abgebildete Frau, setzte sich auf...



...und fuhr mit seiner Geschichte fort.
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