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Nox Aeterna - Triologie Part I

von NightFright

Kapitel 2

C a p i t u l u m I - CONSILIA SINISTRA





7. JULI, 13.48 UHR

BERLIN, DEUTSCHLAND

ZWEI JAHRE ZUVOR



„UNSERE schlimmsten Befürchtungen scheinen sich zu bewahrheiten, meine Herren. All unsere Informatio-nen deuten darauf hin: Der Zeitplan wurde verkürzt. Mit Situation >Nox Aeterna< muss innerhalb der nächsten Monate gerechnet werden. Wenn nicht schon früher.“



Ein Riesentumult setzte im stark abgedunkelten Konferenzraum ein, in welchem sich mehrere Dutzend Männer gehobeneren Alters versammelt hatten. Alle saßen rund um einen ewig langen Tisch und starrten wie gebannt nach vorne zu einem deutschen Offizier in Uniform, der mit einem Laserpointer auf eine große herunter gezogene Dia-Leinwand deutete, welche die verschwommene Silhouette eines dreieckigen, metallisch glänzenden Objektes von unvorstellbaren Ausmaßen zeigte, über einer öden Eislandschaft schwebend. Die Luft im Raum war drückend schwül und übersättigt vom Qualm zahlreicher brennender Zigaretten. Immer lauter schwoll das Durcheinandergerede der Anwesenden an, bis sich schließlich einer der Ältesten in der Runde erhob und den Redner neben der Leinwand mit dunkler, belegter Stimme erregt fragte: „Major Stettner, ich hoffe, Sie sind sich darüber im Klaren, von was Sie da gerade eigentlich reden! Nach all den Rückschlägen, die unsere Organisation in letzter Zeit erlitten hat, würde das von Ihnen angedeutete Ereignis das Ende für uns alle bedeuten! Schlimm genug, dass unseren Kollegen in den Vereinigten Staaten ein so grausames Schicksal durch die Alien-Rebellen widerfuhr, einer Macht, über deren Ziele wir nicht auch nur im Geringsten spekulieren können! Der tragische Tod unserer amerikanischen Freunde stellt für uns einen Verlust dar, von dem wir noch heute zehren! Und nun kommen Sie daher und behaupten, die Schlussphase des Projekts würde bereits beginnen – ausgerechnet jetzt, da wir am schwächsten sind und unsere Vorbereitungen gerade mal am Anfang stehen? Was veranlasst Sie zu einer derartigen Annahme?“

Der Major blieb gelassen. Während er sich am stoppeligen, kantigen Kinn kratzte und die Runde aus seinen stahlblauen Augen heraus mit messerscharfen Blicken musterte, trat er mit wenigen großen Schritten vor an den Konferenztisch und erwiderte eiskalt: „Offen gestanden, sind mir diese Rebellen im Moment so ziemlich scheißegal, Herr Strughold! Ich kann Ihnen nur die Fakten geben, und die sind ziemlich eindeutig: 1998 gelang es einem amerikanischen Bundesagenten namens Fox William Mulder – ein Name, der den meisten von Ihnen sicherlich bekannt sein dürfte – , seine vom Purity-Virus infizierte Partnerin Dana Scully aus Brutstation >Basis-1< am Südpol zu befreien, indem er ihr den von uns so lange geheim gehaltenen schwachen Impfstoff injizierte. Dadurch verursachte er ein komplettes Versagen sämtlicher Kühlaggregate, so dass alle dort herangezüchteten Organismen vorzeitig schlüpften und sich die Installation selbstständig reaktivierte. Sie sehen dort (er wies auf das auf die Leinwand projizierte Dia) eine Aufnahme von einem unserer Satelliten über den Charcot-Inseln, welche das Schiff wenige Augenblicke nach dem Verlassen seiner stationären Position im Eis zeigt! Wir nahmen an, dass die Angelegenheit damit erledigt sei, dass die Basis lediglich in ihr Heimatsystem zurückkehren würde. Doch vorgestern, am 5. Juli gegen 23.41 Uhr... empfing unsere Radarstation in Bad Doberan eine Transmission über die Wellenlänge 263-Theta...“

„... der Kolonisten-Code...“, kam es erschrocken von mehreren der Anwesenden gleichzeitig. Wortlos betätigte Stettner – ein hünenhafter Kerl mit breiten Schultern, kräftigen Oberarmen und annähernd kahl geschorenem Schädel, für seinen hohen Dienstgrad noch erstaunlich jung – den Knopf einer kleinen Fernbedienung, womit er ein Lautsprechersystem an der Decke aktivierte. Unter gedämpftem Rauschen, Pfeiftönen und ähnlichen Hintergrundgeräuschen erhob sich auf einmal der blecherne Klang unzähliger fremdartiger Stimmen, die in einem merkwürdigen, unrhythmischen Singsang vollständig unverständliche Laute von sich gaben. Man hatte den Eindruck, als ließe man eine Aufnahme menschlicher Sprache rückwärts abspielen, würde diese dann nochmals akustisch verzerren und anschließend mit insektenartigen, schnarrenden Verfremdungseffekten versehen.

Obwohl keiner im Raum dieses wirre, gespenstisch säuselnde Gemurmel zu verstehen vermochte, drückte sich jeder instinktiv fester in seinen Sitz, brach in Schweiß aus und starrte an die Decke, als ob diese jeden Moment einstürzen könne. Immer lauter und bedrohlicher wurden die fremdartigen Geräusche, bis schließlich die ersten am Tisch die Nerven zu verlieren begannen und, sich die Ohren zuhaltend, aufsprangen – doch da verstummten die Lautsprecher bereits wieder. Teilweise erleichtert ließen sich die vor Angst zitternden Männer wieder in ihre Sessel fallen, das Entsetzen wich jedoch nicht aus ihren Gesichtern. Wie gelähmt saßen alle da, schweigend, verunsichert, ins Leere blickend. Major Stettner ergriff schließlich wieder das Wort, überrascht über die Wirkung

der eigentlich doch unverständlichen Botschaft. „Unsere... Übersetzer brauchten 36 Stunden intensivster Arbeit, bis sie die wichtigsten Passagen der Nachricht in den Symbolcode der Kolonisten übertragen konnten, den wir ja

inzwischen einigermaßen in unsere Sprache umzusetzen vermögen. Hier das Ergebnis, meine Herren – und ich denke, danach wird Ihnen klar sein, was uns bevorsteht... und warum.“

Mit einem Knopfdruck ließ er ein neues Dia in den Projektor am anderen Ende des Raumes einlegen – auf der Leinwand erschienen Hunderte kleiner schwarzer Zeichen, am ehesten noch vergleichbar mit den Schriften aus einer alten Indianersprache, jedoch um ein Vielfaches komplizierter und symbolischer. Rechts daneben stand die vage Übersetzung in normaler Textform. Mit jeder weiteren gelesenen Zeile weiteten sich die Augen der leichenblassen Anwesenden mehr und mehr vor Schrecken.

„Großer Gott!“, stöhnte jemand fassungslos. „Das ist das Ende!“, rief ein anderer. „Unsere jahrzehntelange Arbeit... verloren!“, kam es resignierend von einer anderen Ecke des großen Tisches. Hektisches, verzweifeltes Getuschel setzte in der Versammlung ein.

Nur einer von ihnen blieb ruhig. Es handelte sich um denselben Mann, der zu Beginn den referierenden Offizier erstmals angesprochen hatte: Conrad Strughold. Dunkelgrauer Oberlippenbart, prüfend umherblickende, dunkle Augen, hohe, faltige Stirn, Halbglatze, schimmernd weißer Haarkranz. Seinem Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er mit der momentanen Situation gerechnet hatte. Für eine Minute beobachtete er im Stillen das Chaos um sich herum. Dann erhob er sich langsam, trat vor zu dem geduldig wartenden Offizier und wechselte ein paar abklärende Worte mit ihm. Schließlich wandte er sich der Versammlung zu und brachte mit einer einzigen Handbewegung die gesamte Menge schlagartig zum Schweigen. In sachlichem, beruhigendem Ton hob er an: „Meine Herren, die Lage der Dinge ist nunmehr geklärt: Die Kolonisten wissen über die Existenz unseres insgeheim entwickelten Impfstoffes, der einen direkten Verstoß gegen unser Abkommen darstellt, Bescheid. Des Weiteren sind sie sowohl über die Alien-Rebellen informiert als auch die Tatsache, dass unser einzig verbliebener Kontaktmann in den Vereinigten Staaten, CJB Spender, vor seiner Ermordung durch genetische Manipulation dauerhaft resistent war gegen die geplante virulente Bedrohung. Dies kann nur eines bedeuten: Die Rekolonisierung beginnt in absehbarer Zukunft, und niemand wird verschont werden – nicht einmal wir.“ Bevor im Raum vorzeitig Panik ausbrechen konnte, die jegliche vernünftige Diskussion zunichte gemacht hätte, fuhr Strughold hastig fort: „Es gilt nun vor Allem, nicht gleich den Kopf zu verlieren und leichtsinnig alles hinzuwerfen. Dies wäre ein fataler Fehler, und er würde nur zu dem führen, was wir seit über fünfzig Jahren so erfolgreich zu verhindern verstanden hatten: Unsere Bloßstellung. Wenn die Welt da draußen auch nur Bruchstücke der Wahrheit erfährt... ich glaube, Sie können sich die Konsequenzen sehr gut selbst vorstellen.“

„Was also schlagen Sie vor? Sollen wir uns den Rebellen anschließen, obwohl wir nicht einmal deren wahre Absichten kennen? Oder leisten wir lieber Kadavergehorsam und rennen in unser eigenes Verderben?“, wollte einer von den hinteren Sitzplätzen wissen. „Beide Optionen klingen nicht gerade einladend, wenn Sie mich fragen!“ Der Beitrag erntete zustimmendes Geraune. Da verlor Stettner die Beherrschung und schlug mit geballter Faust so brutal auf den Tisch, dass fast alle unweigerlich zusammenzuckten. „Was soll die Scheiße hier, verdammt noch mal?“, brüllte er wütend. „Ihr Unmut kotzt mich langsam an! Denken Sie denn ernsthaft, wir halten so lange durch und ziehen nun einfach den Schwanz ein, weil´s kritisch wird? Im Leben nicht! Damals haben wir uns für eine Seite entschieden, und dieser wird auch weiterhin unsere Loyalität gelten, verflucht! Ich war ja von Anfang an der Meinung, die Entwicklung eines Impfstoffes zur reinen Absicherung sei ein Fehler, aber einige Unbelehrbare konnten es wohl einfach nicht lassen! Das einzige, worauf wir nun noch bauen können, sind die Prinzipien der Schadensbegrenzung und des Taktierens. Wir müssen Schuldige finden, die wir vorschieben, wenn sie uns zur Rechenschaft ziehen wollen – und das werden wir auch, nur keine Sorge!“

„Vollkommen richtig, Major!“, pflichtete ihm Strughold bei, während er sich seelenruhig eine Zigarette ansteckte. „Und das erste, was es für unsere Gruppe zu bewerkstelligen gilt, ist die Eliminierung aller Unsicherheitsfaktoren, die unseren bevorstehenden Unternehmungen gefährlich werden könnten.“



Ein neues Bild erschien auf der Leinwand, einen großen, schwarzhaarigen Mann und eine kleinere Frau mit kupferrotem Haar zeigend. Beide trugen deutlich erkennbare FBI-Ausweise am Kragen ihrer Anzüge.

„Die ehemaligen Spezialagenten Fox Mulder und Dana Scully – von ihnen gingen bisher sämtliche Probleme aus, die wir je hatten“, erläuterte Stettner mit unüberhörbarer Verachtung in der Stimme. „Schon oft wurde versucht, sie zu eliminieren“, ergänzte Strughold, „immer wieder ohne Erfolg. Dieses Mal muss es gelingen. Sie wissen bereits viel zu viel, können unsere Schritte inzwischen sicher voraus ahnen. Wenn alles beginnt, dürfen sie keine Gefahr mehr darstellen.“ „Dann... töten wir sie doch einfach! Jetzt, da sie ohnehin von praktisch jeder US-Behörde und dem Militär gejagt werden, wo liegt da ein Problem?“, äußerte sich einer der weiter vorne Sitzenden entschlossen und zog an seiner qualmenden Zigarre. Stettner grinste teuflisch.



„Oh, nein! Ich werde es nicht darauf ankommen lassen, dass uns in der entscheidenden Stunde noch ins Handwerk gepfuscht wird! Zu oft haben es unsere angeheuerten Auftragskiller verbockt. Die Angelegenheit muss anders gelöst werden. Ich weiß, Viele unter Ihnen haben es schon früher gesagt und meinen vielleicht auch jetzt: >Mulder ist nur ein Mann. Ein Mann allein kann die Zukunft nicht bekämpfen.< Doch er war nie wirklich allein. Daher hatten wir auch nie eine reelle Chance, ihn zu fassen. Wenn sich dies ändern soll, muss er zu dem Zeitpunkt, an dem er ein für allemal unschädlich gemacht wird, vor Allem eines sein…



allein.“







19.05 UHR

ROSWELL, NEW MEXICO



Seit bald zwei Jahren waren Dana und ich schon auf der Flucht vor dem US-Militär, das uns quer durch die Staaten jagte. Immer wieder hatten wir den Aufenthaltsort ändern, immer wieder uns neue Pseudonyme für unsere Irrfahrten zulegen müssen, und immer wieder waren wir kurz davor gewesen, von den Super-Soldaten, die zwischenzeitlich einen Großteil des Militärs unterwandert hatten, entdeckt zu werden.

Wie dem auch sei – für den Augenblick schien es so, als würde die Jagd nach uns nicht länger oberste Priorität genießen. Man zog die auf uns angesetzten Truppen nach und nach zurück. Ich konnte mir denken, aus welchem Grund dies geschah, wagte aber nie, mit Dana darüber zu sprechen: Die Einheiten sammelten sich für eine große Operation. Besorgnis erregende Mitteilungen dieser Art waren jedoch etwas, das ich meiner treuen Freundin momentan am wenigsten zumuten wollte. Vielmehr fasste ich den Entschluss, diese vorüber gehende Atempause zu nutzen und meine Beziehung zu der Frau, die mit mir stets durch Dick und Dünn gegangen war und die selbst in den letzten recht entbehrungsreichen und gefahrenvollen Monaten keine Sekunde lang Frustration, Ärger oder Resignation zutage hatte treten lassen, wieder aufzufrischen.

Um es kurz zu machen: Aus Sicherheitsgründen hatten wir uns bislang immer getrennte Zimmer genommen, wenn wir in einem Motel (oder in welch billiger Absteige auch immer) eine oder mehrere Nächte verbrachten. Auch waren wir selten gleichzeitig eingecheckt, sondern reisten einander zumeist nach, um unsere Spuren besser verwischen zu können. Heute, an diesem Abend, sollte sich das endlich ändern. Großen Wert hatte ich darauf gelegt, diesmal eine kleinere Mietwohnung mit Küche und all dem übrigen Brimborium zu bekommen. Es war sicherlich noch längst nicht das „Ritz“, aber meine alte Bude in Vancouver hätte auf keinen Fall mehr zu bieten gehabt... Meine Stimmung befand sich auf recht hohem Niveau, denn ich wusste, dass Dana auf meine Einladung hin hierher unterwegs war und jeden Moment eintreffen sollte. Natürlich beabsichtigte ich nicht irgendein Treffen, sondern schlichtweg *das* Treffen – nennen wir es ruhig „romantischer Abend zu zweit“. Ohne Danas Kenntnis darüber, versteht sich…



Fox Mulder betrachtete sich prüfend im Badezimmerspiegel. Beinahe hätte er sich selbst nicht wiedererkannt, so

gestylt und elegant gedresst war er. Das kurze, schwarze Haar mit Gel bearbeitet, frisch rasiert (nicht unbedingt immer eine Selbstverständlichkeit, seit er nicht mehr beim FBI arbeitete), der neue, todschicke (und leider auch ebenso teure) Anzug im „Blues Brothers“-Stil soeben gebügelt (was ihm ohne seine Mutter recht schwer gefallen war – um seine Fähigkeiten in häuslichen Dingen stand es ja leider nicht allzu gut) und wohlriechendes Aftershave im Gesicht – noch nie hatte sich Mulder jemals zuvor dermaßen herausgeputzt wie heute. „Perfekt!“, meinte er hochzufrieden grinsend zu seinem Spiegelbild. Siegessicher warf er noch einmal einen Kontrollblick ins abgedunkelte Wohnzimmer – der Tisch war vorbildlich für zwei Personen gedeckt, milder Kerzenschein verbreitete Wohlfühlatmosphäre, und romantische Musik säuselte leise aus dem CD-Player in einer dunklen Ecke des Raumes herüber. Aus der kleinen Küche gegenüber roch es ebenfalls sehr viel versprechend. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie es hier noch vor drei Stunden aussah, dachte er. Just in diesem Moment läutete es auch schon an der Tür. War Mulder gerade eben noch die Ruhe selbst gewesen, so explodierte er jetzt plötzlich vor Aufregung und Nervosität. Schon wollte er loslaufen, um seinen Besuch hereinzulassen, als er noch eine Atemprobe machte, indem er sich auf die Handfläche hauchte – und entsetzt zusammenzuckte. Hastig flüchtete er zurück in den Waschraum und durchstöberte seinen kleinen Badezimmerschrank nach etwaigem Mundwasser, wobei er recht rücksichtslos vorging und auch in Kauf nahm, dass einige Glasfläschchen aus den Regalen fielen und klirrend auf den Bodenkacheln landeten. „So eine Scheiße! Mit der Scheiße hier!“, fluchte er verzweifelt, als er begriff, dass seine Suche wohl erfolglos bleiben würde. Da ging die Klingel erneut, und eine gedämpfte Frauenstimme rief: „Mulder? Bist du da? Hallo?“ Nun wurde ihm alles egal. Kurz entschlossen schnappte er sich das Aftershave vom Waschbecken, kippte sich die halbe Flasche in den Hals, gurgelte – und spuckte. Eine Sekunde später hing er würgend am bis zum Anschlag aufgedrehten Wasserhahn und versuchte krampfhaft, das unerträgliche, säureähnliche Brennen aus seiner Kehle wegzuspülen. Noch einmal läutete es, so dass Mulder sich gezwungen sah, seine „Notbehandlung“ vorzeitig einzustellen, sich den Mund abzuwischen und (mit zunächst etwas säuerlicher Miene) seinem ungeduldig werdenden Besuch endlich aufzumachen. Als er die Tür schließlich öffnete, klappte ihm fassungslos die Kinnlade herunter – ganz offensichtlich war er nicht der Einzige gewesen, der sich eine Überraschung hatte einfallen lassen: Danas Anblick verschlug ihm regelrecht die Sprache, so unbeschreiblich schön sah sie aus.

Sie trug ein kurzes, dunkelblaues Abendkleid, mit funkelnden Pailletten bestickt und sehr elegant, ihre tolle Figur ebenso betonend wie ihre makellosen Beine. Ihr Gesicht war zart und hübsch geschminkt, das schimmernde, seidig glänzende Haar fiel ihr über beide nackten Schultern. „Ho-holla die Waldfee! Äh... hier hat sich nicht zufällig jemand im… im Zimmer geirrt, oder?“, stotterte Mulder unüberlegt heraus, während er sie so bestaunte. Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Jetzt würde ich normalerweise meine Dienstmarke vorzeigen, wenn ich denn noch eine besäße“, lachte sie, „aber ich hoffe, du erkennst sie auch so... deine Waldfee!“ „Ja, klar... äh… komm nur... ich helfe dir beim Reintragen...“, murmelte er ihr hinterher, bevor er sich ob seiner Verwirrung an den Kopf fasste, denn natürlich war sie lediglich mit leichtem Handgepäck angereist (alles Andere hätte auch wenig Sinn gemacht). Zu seinem Glück schien sie den Fauxpas ohnehin überhört zu haben. „Du liebe Zeit, Mulder!“, rief sie erstaunt und spazierte langsam mit großen Augen durch den Raum, den sie in recht unordentlichem Zustand erwartet hatte. „Kommt heute Abend vielleicht noch wer, von dem ich bislang nichts weiß?“ Lässig (fast schon unachtsam) schmiss er den von ihr mitgebrachten „Kofferberg“ ins frei geräumte Schlafzimmer. Er wagte eine coolere Antwort. „Nur zwei weitere gut aussehende Damen räkeln sich bereits nebenan ungeduldig im Bett! Aber keine Sorge, du kennst mich doch – an einem Abend schaffe ich viel mehr!“, grinste er und verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust, als er zurückkehrte, eine Reaktion auf seinen selbstironischen Spruch erwartend. Kaum hatte sie die Lippen geöffnet, um eine zynische Retourkutsche zu starten, da winkte er bereits ab: „Komm, vergiss es! Wir wissen beide, wie es da drinnen wirklich aussieht… Setzen wir uns lieber hin und essen erst mal, was hältst du davon?“ „Gern, danke“, erwiderte sie freundlich und ließ sich von Mulder – dem das Herz bis zum Hals hochschlug – zu ihrem Platz am gedeckten Tisch führen.

Dabei fiel ihr plötzlich eine große Dose Insekten-Vertilgungsmittel auf, welche merkwürdigerweise direkt neben dem Teller ihres Gastgebers stand und irgendwie nicht so recht in das ansonsten perfekte Ambiente hineinpasste. „Ähem... ich möchte ja nur ungern neugierig erscheinen, aber... hast du zur Zeit größere Probleme mit Ungeziefer hier drin?“, wollte sie stirnrunzelnd wissen und deutete auf die Sprayflasche. Er senkte daraufhin den Blick, wurde rot und druckste merklich herum: „Ach, ich... hmm... hab seit Längerem so eine komische Abneigung gegenüber allen möglichen fliegenden Viechern... die können einem echt in den unpassendsten Momenten in die Quere kommen, weißt du...“ Nervös lächelnd nahm er Platz und ging nicht weiter auf das Thema ein. Sie ahnte, dass sie ihn auf eine ihr unverständliche Weise in Verlegenheit gebracht hatte und beschloss, das Ganze einfach als eine seiner zahlreichen Marotten stillschweigend hinzunehmen – sie war ja ohnehin schon so einiges von ihm gewohnt...

Nachdem sie wirklich vorzüglich gegessen hatten (wie auch immer Mulder dieses überraschend gute Mahl geglückt war – er ahnte schon voraus, dass es ihm so schnell wohl nicht wieder gelingen würde...), lehnte sich Scully neugierig vor zu ihrem Gegenüber, welches sie schon die ganze Zeit von oben bis unten gemustert und selbst während des Essens nie aus dem Blickwinkel verloren hatte, und stellte die Frage, die sie bereits seit dem Betreten des Apartments beschäftigte: „Also schön, nun verrate es mir aber bitte! Ich spiel dein Spielchen ja brav mit, aber allmählich wird es mir ein wenig unheimlich! Was hast du mit mir vor, Mulder?“ Er stellte sich bewusst dumm und gab sich auch keine besondere Mühe, dies zu verbergen. „Was meinst du denn?“ „Ach, tu doch nicht so unschuldig! Das tolle Essen, die romantische Musik, die tiptop aufgeräumte Wohnung, dein wohl mehr als ungewöhnlicher Auftritt – das alles ist ja wohl kaum der Mulder, der sich früher immer abends zu Hause gelangweilt vor den Fernseher haute, um irgendwelche Schundfilme zu sehen, während man um ihn herum beinahe schon Frisuren in den Schimmel kämmen konnte, der aus allen Ritzen quoll! Bist du zufällig durch einen Alien-Klon ersetzt worden?“ „Also, eben übertreibst du aber!“, protestierte ihr geduldiger Zuhörer unter gespielter Empörung und haute mit der flachen Hand auf den Tisch. „Von wegen Schundfilme! Diese Bezeichnung verbitte ich mir! Da agieren hochqualifizierte Schauspieler, die das richtig gut rüberbringen, und selbst die Kameraführung ist zuweilen erstklassig! Zudem – ich bezweifle stark, dass du das überhaupt objektiv beurteilen kannst, weil du dir so was ja nie anschaust! Wahrscheinlich deswegen, weil du...“ „Weil ich WAS, hm?“, hakte sie nach und stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. Er traute sich nicht, ihr zu antworten – er hatte sich ohnehin schon verplappert. „Denkst du etwa, ich wäre prüde, Mulder? Dass ich mich zu Tode schäme, wenn ich es einen Mann mit einer Frau, die beide bloß lächerlich in der Gegend herum stöhnen, auf dem Fernsehbildschirm treiben sehe? Komm, glaubst du so was wirklich über mich? Na los, in einer solch lockeren Atmosphäre kannst du mir das ruhig mal verraten, nachdem du dich fast zwölf Jahre lang über derartige Themen geradezu totgeschwiegen hast!“ Mulder rang um die richtigen Worte. Schließlich lehnte er sich so weit über den Tisch zu ihr hinüber, dass höchstens noch fünf Zentimeter fehlten, um mit seiner Nase ihr Gesicht zu berühren. Zunächst schwiegen sie sich an, der Eine in die Augen des Anderen blickend. Dann sprach Mulder zögernd: „Deine... Befürchtung, ich könnte dich für verklemmt halten, amüsiert mich ehrlich gesagt ein wenig, denn bislang bin ich der Meinung gewesen, dass dir das relativ bis ziemlich egal wäre. Aber du erwartest jetzt eine Antwort von mir und kriegst auch eine, und zwar eine ehrliche: Jemand, der sich so wunderschön machen und körperbetonend, ach was quatsch ich drum herum, sexy anziehen kann wie du heute Abend, ist unmöglich prüde und verklemmt – ganz im Gegenteil sogar.“

Scully, die auf ein solch höfliches und freundliches Kompliment nicht gefasst gewesen war, runzelte überrascht die Stirn und schlug dann schüchtern die Augen nieder. „So etwas Nettes von dir zu hören... kommt offen gestanden ziemlich selten vor“, kam es leise von ihr. „Mal im Ernst: Gefalle ich dir denn wirklich?“ Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft. „Heute Abend noch viel mehr als sonst... Dana. Und das meine ich jetzt ehrlich – falls du annehmen solltest, ich will dich auf den Arm nehmen. Vielmehr würde ich dich ganz gern in den Arm nehmen…“ Man sah ihr an, dass sie sichtlich verwirrt und verunsichert war, sich unklar darüber, wie sie auf diese unerwarteten Schmeicheleien ihres Freundes (den sie ja ebenso sehr mochte) reagieren sollte.

Er spürte, wie schwer sie sich tat. Mit der Hand, die er noch frei hatte, tastete er neben seinem Stuhl auf den Boden (er hatte dort scheinbar zuvor unbemerkt ein Gefäß abgestellt) – und kam mit einer großen weißen Rose zurück, die er ihr hinhielt. „Nimm die lieber schnell, bevor sie mir von einer der sehnsüchtig im Schlafzimmer wartenden Damen aus der Hand gerissen wird, Dana...!“, scherzte er und streichelte ihr mit der Blüte sanft über die Wangen. „Dankeschön – wie außergewöhnlich nett von dir!“, bedankte sie sich strahlend, während sie die Blume von ihm entgegennahm.



Noch war sie unentschlossen, meine Schöne – doch ich hatte etwas bei mir, um sie aus der Reserve zu locken, und es war einfach dazu vorbestimmt, sie vor mir dahinschmelzen zu lassen. Etwas, das sie unausweichlich erkennen lassen musste, wie gern ich sie tatsächlich hatte. Alles, worauf es zu achten galt, war, mich ihr nicht aufzudrängen, geduldig abzuwarten, bis sie von selbst nachgeben würde. Der Sieg war so gut wie mein...



„Ich habe da noch eine Kleinigkeit für dich...“, begann Mulder, bevor Dana auf die Idee kommen konnte, voreilig irgendwelche Gefühle zu Tage treten zu lassen. Er griff in die Brusttasche seines Jacketts, holte ein kleines Etui hervor und öffnete es. „Vor fast 32 Jahren... beabsichtigte ich, meiner... Schwester Samantha etwas ganz Besonderes zu ihrem zehnten Geburtstag zu schenken. Ein Geschenk, das sie immer daran erinnern sollte, dass sich ihr Bruder um sie kümmert und für sie da ist, wenn sie ihn braucht. Ich nahm mein ganzes zusammengespartes Taschengeld, um etwas zu kaufen, doch die paar Dollar reichten natürlich für rein gar nichts, was mich sehr traurig machte. Meine Eltern bekamen´s irgendwann mit, und notgedrungen erzählte ich ihnen von meinem Vorhaben. Sie waren von meiner Idee so gerührt und angetan, dass mir meine Mum nach zögerlichem Hin und Her einen… Gegenstand aus ihrer wohl gehüteten, hoch heiligen Schatulle im Badezimmer überließ. Überglücklich bekam Klein Fox „sein“ Geschenk daraufhin eingepackt. Er war so gespannt, was Samantha an ihrem Geburtstag dazu sagen würde. Doch dazu... sollte es niemals kommen. Am 27. November 1973... vor seinen eigenen Augen... hat man sie geholt... er musste hilflos dabei zusehen... und alles kam anders.“ „Mulder...“, begann Dana mitfühlend, doch er fing sich wieder. „Na, egal. Jedenfalls... im Laufe der Jahre entschied ich mich, es entweder Sam zu geben, sobald ich sie finden sollte, oder dem Menschen, der mir jemals so viel bedeuten würde wie sie – was ich damals nie für möglich gehalten hätte. Doch dann kamst du, Dana. Und heute... bist du die Einzige, die mir noch geblieben ist, das einzig Kostbare, das ich besitze. Oft wollte man dich mir nehmen, doch ich habe dich mir immer und immer wieder zurück erkämpft, zurück erobert, selbst wenn die Chancen noch so schlecht standen und unser Verderben auch noch so nahe schien. Ich fand trotzdem stets einen Weg, denn ich wollte mich auf gar keinen Fall mit der Tatsache konfrontiert sehen, dich ebenfalls zu verlieren.“ Er streichelte ihr mit einer Hand liebevoll durch ihr langes, geschmeidiges Haar, das im Kerzenschein kupfern glänzte. Wie verzaubert saß sie da und konnte nichts tun, als ihrem treuen Freund weiter zuzuhören. „Mein Leben habe ich aufs Spiel gesetzt, jedes Mal wenn es dich zu retten galt. Und ich täte es endlos oft wieder, ohne auch nur für einen Moment zu zögern. In dir habe ich die Freundin gefunden, die ich über die langen Jahre hinweg nicht mehr zu finden geglaubt hätte. Du bist etwas ganz Besonderes für mich, und ich hoffe, du weißt das spätestens jetzt, da ich es dir sage. Wenn ich dir gleich das gebe, was ursprünglich für meine Schwester bestimmt war, soll das nicht heißen, ich würde mein Andenken an sie aufgeben – es bedeutet vielmehr, dass ich in dir den ersten und wohl einzigen Menschen sehe, dem ich so bedingungslos vertraue, den ich so respektiere und verehre... wie damals Samantha. Bitte nimm es an.“

Leicht zitternd legte er ihr einen wunderschönen goldenen Ring, kunstvoll mit feinen Mustern verziert, in die Hände. Ein blutroter Rubin funkelte daran, umgeben von zwei kleineren blauen Saphiren. Tränen kullerten über Scullys Wangen, als sie sich den Ring betrachtete. „Das... ist ja so lieb von dir, Mulder... Fox... so wahnsinnig lieb... aber... das ist ein Erbstück. So was kann ich unmöglich nehmen, niemals“, schluchzte sie. „Doch, du kannst“, widersprach er ihr lächelnd und fasste ihr behutsam unters Kinn, ihre strahlend blauen Augen zu ihm aufrichtend. „Und du wirst, wenn du auch nur annähernd begriffen hast, was ich gerade eben noch zu dir gesagt habe. Die Annahme eines solchen Geschenkes abzulehnen, käme einem Leugnen all der vielen Jahre gleich, die wir uns nun kennen. Ich möchte dich nicht dazu zwingen, die Entscheidung liegt bleibt dir. Aber solltest du lediglich vor dem materiellen Wert des Rings zurückschrecken, sei versichert: Der ist vollkommen irrelevant. Was für mich zählt, ist die Tatsache, dass ihn allein die Frau trägt, die meine Zuneigung wirklich verdient. Also, Dana – ich warte.“ Sie blinzelte ihn gerührt an, mühsam gegen die vielen Tränen, die ihr in den Augen standen und in silbrig glitzernden Spuren über ihr Gesicht rannen, ankämpfend. Schließlich ließ sie sich – zu seiner großen Freude und Erleichterung – das kühle, rund geschmiedete Stück Metall langsam auf den Zeigefinger ihrer rechten Hand gleiten. Es passte genau – gerade so, als sei es nur für sie gemacht. Da ertrug sie die auf sie eindringenden Gefühle nicht mehr länger und begann leise zu weinen wie ein kleines Mädchen.

Mulder war unsicher, wie er sich nun ihr gegenüber verhalten sollte. War es besser, sie einfach gehen zu lassen oder sie lieber doch tröstend in den Arm zu nehmen? Er wusste: Wenn er zu weit ging, würde er alles riskieren. Aber sie nahm ihm diese Entscheidung ab. Weiterhin schluchzend erhob sie sich, schritt um den Tisch herum, kniete neben ihn hin – und ließ vertrauensvoll ihren Kopf auf seinen Schoß sinken, die Wärme und den Schutz ihres Freundes suchend. Vorsichtig streichelte er ihr durch ihr weiches duftendes Haar, unfähig, etwas zu ihr zu sagen.



Dies war der wohl mit Abstand schönste Moment in unserer gesamten bisherigen Beziehung. Oh, wäre ich kein solcher Idiot gewesen, Dana hätte mir gehören können, und nichts von alledem, das später geschehen würde, hätte stattgefunden! Nur, weil ich meine unersättliche, sinnlose Gier nach dem, was ich die “Wahrheit“ nannte, nicht auch nur ein einziges Mal zu unterdrücken verstand, verflucht...

Sie schaute auf, blickte ihm tief in die Augen – und plötzlich erkannte er in ihr einmal mehr nicht länger nur die Freundin, die ihn jahrelang auf Schritt und Tritt begleitet, ihm beigestanden und bereits mehrere Male das Leben gerettet hatte – nein, eine bezaubernd hübsche Frau war es, die da vor ihm kniete und ihm stumm zu verstehen gab, dass seine Hoffnungen zu keinem Zeitpunkt vergebens gewesen waren. Behutsam nahm er sie bei den Schultern und zog sie hoch zu sich auf den Schoß, wo er sie zärtlich umarmte, an sich drückte – und seine Lippen langsam den ihren näherte. Er spürte an seiner Brust, wie rasend schnell ihr Herz schlug, dass ihr ganzer Körper zitterte vor Aufregung. Erwartungsvoll schloss sie ihre Augen und flüsterte: „In meinem Bauch fängt es plötzlich ganz furchtbar an zu kribbeln. In deinem auch?“ „Solange sich das nicht auf mein feines Essen zurückführen lässt… ich habe nämlich an alles gedacht außer an einen Eimer…“, hauchte er ihr halbernst ins Ohr. Sie lachten beide kurz, bis sich ihre Blicke erneut trafen. Ein weiteres Mal spürte er ihren Atem auf Mund und Nase, dann glitten seine Lippen erstmals über ihre, nur ganz flüchtig zunächst. Von da an war Scully wie elektrisiert. Verlangend drängte sie sich an ihn, einen langen, ausgiebigen Kuss fordernd. Innerlich triumphierte Mulder bereits, während er zum entscheidenden Austausch von Zärtlichkeiten ansetzte – er konnte bereits wieder ihre zarten, geschmeidigen Lippen auf seinen spüren, als plötzlich...



... Mulders Notebook, das er extra ins Nebenzimmer verfrachtet hatte, sirenenartige, ohrenbetäubend laute Geräusche von sich gab. Scully zuckte erschrocken zusammen. „Ja, Bullshit!“, fluchte er. „Was ist das?“, fragte sie verwirrt, sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichend. „Das?“, stöhnte er, „Oh, bloß mein gottverdammter, verfluchter, rund um die Uhr angeschalteter Rechner, der mich immer dann nervt, WENN ES MIR AM WENIGSTEN PASST, zur Hölle noch mal!“ „Bitte lass es doch einfach weiterpiepen, Mulder!“, bettelte sie und schmiegte sich wieder an ihn. Wie gerne hätte er ihren Rat befolgt, doch er wusste leider zu genau: Dieser infernale Alarm war nur auf eine Art zu stoppen. „Es tut mir Leid, Dana...“, entschuldigte er sich schuldbewusst bei ihr, schob sie sanft von seinem Schoß und stand auf, um ins Nebenzimmer zu gehen. Enttäuscht seufzte die Frau auf und kam sich ziemlich vernachlässigt vor. „... und da liest man in der Zeitung über Computer, die sämtliche Beziehungen zum Scheitern verurteilen – und lacht selber noch drüber!“, rief sie ihm vorwurfsvoll hinterher. Der Alarm hörte auf. „Nur ein paar Sekunden, liebe Dana... bin sofort wieder bei dir... wehe, du vergisst, wo wir aufgehört haben...“, kam es von nebenan, doch man konnte hören, dass er abgelenkt war und wohl gerade irgendetwas durchlas. Plötzlich schrie er laut auf, sprang mit einem Satz zum Türrahmen, der ins Wohnzimmer führte, und kam, wie ein Irrer tanzend, in den Raum gestürmt. „Haha! Darauf hab ich lange gewartet, und nun ist es endlich soweit! Am Arsch haben sie euch! Alles wird rauskommen, die ganzen Lügen, die dreckigen! Das ist das Ende dieser Schweine!“, brüllte er euphorisch. Scully verfolgte den offensichtlichen „Rückfall“ ihres Freundes mit Skepsis und Besorgnis. „Uh-oh“, seufzte sie resignierend, „er ist zurück, der gute alte Spooky... schade... gerade, als mir der neue wirklich zu gefallen begann...“ „Du musst dir unbedingt was Anderes anziehen, was Schwarzes, irgendwas, worin man dich im Dunklen schlecht erkennen kann!“, meinte er nur und hastete bereits in seine Rumpelkammer, um sich für eine Fahrt auszurüsten. „Mulder! Wie wär´s, wenn du mir erst einmal erklärst, wieso ich mich umziehen soll?“, wollte sie verärgert wissen.

Für einen Augenblick hielt er in seinem geschäftigen Treiben inne und trat vor sie hin. „Warum?“, raunte er ihr zu, und es schien, als befände er sich gedanklich bereits in einer anderen Dimension.

„Weil es rauskommen wird. Heute Nacht! Die gesamte Verschwörungs-Scheiße wird unseren Freunden in der Regierung und im Militär um die Ohren fliegen, denn die Beweise werden auf dem Tisch liegen, und diesmal wird keiner eine Ausrede finden! Unser lächerliches, selbst auferlegtes Exil, unser seit Ewigkeiten andauerndes Versteckspiel vor diesen Super-Soldaten… es wird ein Ende haben. Jetzt, ja genau jetzt ist die Zeit gekommen, ins Licht zu treten und allen die Augen zu öffnen!“ „Mulder, ich will jetzt SOFORT im Klartext von dir hören, weshalb du derart aus dem Häuschen bist! So hab ich dich ja noch nie erlebt!“, schrie sie ihn böse an – ihr reichte sie allmählich, seine temperamentvolle, aber ziemlich nervende Art, mit der er Neuigkeiten zu verbreiten wusste. In aller Eile schusterte er sich eine Erklärung zurecht, die er hastig von sich gab: „Gerade eben... als der Alarm losging... erhielt ich eine E-Mail von einem meiner Underground-Informanten im Pentagon. Seit der Sache mit meiner Flucht aus dem Militärgefängnis hatte ich nichts mehr von ihm gehört – bis vor kurzem, als ich ihn kontaktierte. Jedenfalls hat er eben etwas mitgekriegt, und das ist schlichtweg der Hammer! Vor wenigen Minuten muss da bei Halifax was auf den Radarschirmen aufgetaucht sein, Dana, ein UFO wahrscheinlich – er schreibt, es habe eine triangulare Form und sei gigantisch groß, viel größer als jedes bisher registrierte Objekt dieser Art überhaupt! Seinem Kurs zufolge steuert es am Rand der Ostküste entlang und befindet sich im stetigen Sinkflug, und das mit einer Geschwindigkeit, die jegliches Abfang- oder Verfolgungsmanöver schlichtweg unmöglich macht! Vielleicht überfliegt es sogar Washington, stell dir das mal vor! Jetzt aber kommt das Allerbeste: Die Journalisten haben irgendwie Wind davon bekommen und sind bereits unterwegs zur vermutlichen Lande- beziehungsweise Absturzstelle – bei einem deutlichen Vorsprung vor den Militärs! Inzwischen dürften die sogar schon vor Ort sein und alles fleißig für eine Nachrichten-Sonderausgabe vorbereiten! Dana, da müssen wir dabei sein! Endlich kommt die Wahrheit heraus, und sie wird jeden blenden, der sie jemals zu vertuschen versuchte!“ Auch sie war nun in heller Aufregung. „Wo genau soll das passieren, Mulder?“, fragte sie fassungslos.



„In den Wäldern von Cleveland! Los, los, zieh dich schon um! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“





23.38 UHR

FBI-ZENTRALE, J. EDGAR HOOVER BUILDING

WASHINGTON D.C.



Assistant Director Walter Skinner schritt in seinem Büro unruhig auf und ab. Eigentlich hätte er schon seit Stunden zu Hause sein können, so wie alle anderen Mitarbeiter auch – doch irgendeine seltsame Vorahnung hielt ihn zurück. Er spürte, dass noch etwas geschehen würde, und ihm war alles andere als wohl bei dem Gedanken.



Begonnen hatte alles am frühen Nachmittag, nachdem ihm diese ominöse Faxmitteilung zugeschickt worden war, auf der nichts weiter stand als ein einziger, rätselhafter Satz: >ERWARTET UNSERE RÜCKKEHR.<

Zunächst hielt er das Ganze lediglich für einen schlechten Scherz irgendeines Spinners, der zufälligerweise die Faxnummer seines Büros herausgefunden hatte. Daher informierte er auch zunächst niemanden darüber und wollte die Angelegenheit schon wieder vergessen – bis sich knapp zwei Stunden später mehrere Angestellte kreidebleich bei ihm meldeten und felsenfest behaupteten, in der Pathologischen Abteilung ginge es nicht mehr mit rechten Dingen zu: Sämtliche Kühlkammern hätten sich, wie von Geisterhand bewegt, selbstständig geöffnet, die darin liegenden Leichname sich anschließend langsam aufgerichtet und den jeweils rechten Arm nach oben ausgestreckt, alle mit den Zeigefingern zur Decke deutend. Wäre er nicht selbst hinunter gegangen und hätte alles zu seinem Entsetzen tatsächlich so vorgefunden, wie man es ihm beschrieben hatte, wäre er höchstens in höhnisches Gelächter ausgebrochen. Stattdessen jedoch erblickte er zwölf blau gefrorene Leichen, die mit aufgerichtetem Oberkörper auf den herausgezogenen Pritschen ihrer deaktivierten Kühlzellen hockten und in fast schon makabrer Weise über ihre leicht angehobenen Köpfe hinweg empor zeigten. Skinner durchfuhr noch jetzt ein grausiger Schauer, als er sich dieses gespenstische Bild zurück ins Gedächtnis rief. Jedenfalls waren sämtliche daraufhin angestellten medizinischen sowie forensischen Untersuchungen sowohl an den Körpern als auch an den Maschinen ergebnislos verlaufen. Niemand schien erklären zu können, was dieses unheimliche Ereignis verursacht hatte. Bei Routinemessungen war man lediglich auf geringe Spuren einer neuartigen, bislang unbekannten Strahlung gestoßen, die nun im Labor näher examiniert werden sollte. Solange die dortigen Experten keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen vermochten, blieb nichts weiter übrig, als die Toten wieder in ihre Kammern zu betten und den Vorfall als eine Störung in der elektronischen Steuerung des Systems abzutun – eine mehr als unzureichende Verlautbarung natürlich, aber immerhin besser als überhaupt keine, wie Skinner fand, denn unerklärbare Phänomene würden das Personal nur unnötig in Unruhe versetzen. Wären seine einstigen Top-Agenten Fox Mulder und Dana Scully noch verfügbar gewesen, er hätte sie sofort zur näheren Untersuchung auf diesen Zwischenfall angesetzt. So aber blieben ihm die Hände gebunden, denn in der Leitung des FBI hatten sich inzwischen neue, wenig Vertrauen erweckende Gesichter eingefunden, an die er mit einem derartigen Anliegen nicht heran zu treten wagte. Wer wusste schon, auf welchem Schreibtisch seine Berichte letzten Endes landen würden?



Nun befand er sich allein im riesigen Verwaltungskomplex des FBI. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ungewohnt still es hier war ohne das tagsüber ruhelos auf den Gängen umherhuschende Personal, ohne das wirre Durcheinander von Stimmen, Tippgeräuschen der Schreibmaschinen und dem Rattern unzähliger Drucker und Faxgeräte. Was tat er überhaupt noch hier? Weshalb hatte er das Gebäude nicht zusammen mit den letzten Mitarbeitern verlassen? Er wusste keine Antworten auf diese Fragen. Müde ließ er sich in den Sessel an seinem Bürotisch fallen, nahm die Brille mit den runden Gläsern von der Nase und kniff die Augen kurz zusammen, um sich zum Wachbleiben zu zwingen. Einige Minuten lang saß er regungslos da und starrte vor sich auf seine gefalteten Hände. Schließlich übermannte ihn die bleierne Müdigkeit dann doch, und sein Kopf sackte ihm nach vorne auf die Brust ab.



Wenig später geschah es.



Ein schriller, extrem hoher Pfeifton zerriss jäh die vorherrschende Stille und ließ den eingenickten FBI-Direktor krampfhaft aufschrecken. Sämtliche Fensterscheiben in seinem Zimmer sprangen klirrend auseinander, die Wände begannen merklich zu vibrieren, und diverse Gegenstände fielen aus den Regalen krachend zu Boden. „Was zum Geier...“, murmelte er schlaftrunken – unmittelbar darauf flackerte die angeschaltete Tischleuchte kurz auf und erlosch. Schlagartig hockte er in pechschwarzer Dunkelheit. „Schöne Scheiße!“, fluchte er zornig, ertastete vorsichtig seine Brille vom Tisch und fingerte eine Taschenlampe aus einer der Schubladen neben sich heraus. Instinktiv leuchtete er auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand – sie zeigte 00.11 Uhr.

Schon wollte er sich dem zerbrochenen Fenster hinter ihm zuwenden, als ihm auffiel, dass sich der Sekundenzeiger gar nicht weiterbewegte. „Auch das noch. Stehen geblieben! Na wunderbar!“, seufzte er und erkundigte sich auf dem Display seiner digitalen Armbanduhr nach der tatsächlichen Uhrzeit – doch auch hier rührte sich die Sekundenanzeige nicht mehr. Ungläubig schüttelte er sein Handgelenk, hoffend, den offensichtlich verrückt spielenden Chronometer dadurch wieder in Gang zu bringen – vergebens. Gedankenverloren fiel Skinners Blick durch das Fenster hinaus auf die Skyline Washingtons...

Der Mann glaubte, seinen eigenen Augen kaum trauen zu können, während er fassungslos nach vorne trat und aus seinem Zimmer hinab auf das Stadtzentrum sah.



Nicht nur, dass weit und breit kein einziges Licht mehr brannte, nein, etwas viel Eigenartigeres erregte seine Aufmerksamkeit: Er nahm dort unten keinerlei Bewegungen mehr wahr. Die im fahlen Mondlicht erkennbaren Fahrzeuge, die zu dieser späten Stunde noch auf den Straßen unterwegs waren, fuhren nicht mehr – alle standen still. Die wenigen Passanten auf den Bürgersteigen schienen wie eingefroren – der eine hielt mitten in der Geh-

bewegung inne, ein anderer war halb von einer Bank aufgestanden (oder wollte sich gerade hinsetzen, je nach Betrachtungsweise), und die Fontäne eines nahe gelegenen Bassins ragte wie eine baumähnliche Säule aus erstarrtem Wasser empor, ohne in das Becken zurück zu plätschern. Eine von einer Mülltonne springende Katze schwebte völlig frei in der Luft.



„Grundgütiger!“, murmelte Skinner wie in Trance und stolperte verwirrt vom Fenster zurück, in Schweiß ausbrechend. Okay, meinte er schließlich zu sich selbst, du hattest einen Scheißtag. Der Kaffee war schlecht, die Briefings hatten Überlänge, und irgendein kranker Psychopath dachte, er könne die Pathologie in ein Gruselkabinett umfunktionieren. Jetzt aber ist es definitiv an der Zeit, aus diesem irrsinnigen Traum aufzuwachen und die Treter wieder auf festen Boden zu kriegen! In der Erwartung, in wenigen Augenblicken aus dem vermeintlichen Albtraum hochzuschrecken, hielt er inne – doch das erhoffte Erwachen blieb aus. Ganz im Gegenteil. Es sollte noch schlimmer werden.

Während er so vor sich hin überlegte, ob er halluzinierte oder einfach nur den Verstand zu verlieren begann, vernahm er auf einmal ein sehr verhaltenes, leises Klopfen an die Tür zu seinem Büro. Erschrocken fuhr er herum und rief schweißgebadet, wer auch immer da sei, solle sich zu erkennen geben. Er erhielt keine Antwort. Stattdessen pochte es erneut, diesmal lauter, eindringlicher... und irgendwie auch bedrohlicher. Seine zitternde Hand lenkte den Schein seiner Taschenlampe nervös in Richtung des Zimmereingangs.

Wie gelähmt beobachtete der Mann verängstigt, wie sich der glänzende messingfarbene Metallknauf an der Tür wie in Zeitlupe Stück für Stück herumzudrehen begann. In größter Eile zog Skinner seine Dienstwaffe, rammte hastig ein Magazin in das Griffstück und lud durch, den Lauf ständig auf die sich ankündigende Bedrohung voraus gerichtet. Knarrend und ächzend öffnete die Tür sich schließlich – zunächst nur einen Spalt breit, dann vollständig. Instinktiv warf sich der FBI-Direktor zu Boden und feuerte voreilig einen Schuss ab, ohne zu wissen, ob er überhaupt etwas treffen würde. Der Knall hallte durch den angrenzenden Raum hinaus auf die Korridore und pflanzte sich dort peinlich laut durch den gesamten Gebäudetrakt des FBI-Führungsstabes fort. Zögernd blickte Skinner endlich auf – und sah seine verschossene Kugel im Schreibtisch seiner Sekretärin stecken. Vorsichtig erhob er sich, schritt leise hin zur offen stehenden Tür und spähte für einen Sekundenbruchteil hindurch – von einem etwaigen Angreifer gab es nicht die geringste Spur. Blitzschnell wirbelte er herum in das Empfangszimmer, durchquerte es, so schnell er konnte und leuchtete dann in den sich anschließenden lang gezogenen Gang hinaus, welcher in komplette Finsternis getaucht war. Prüfend ließ er den Lichtkegel der Taschenlampe über die geschlossenen Türen links und rechts wandern – aber auch hier vermochte er nichts zu erkennen.

Umso mehr erschrak er, als vielleicht zehn Meter vor ihm im Korridor ein leises Tapsen einsetzte, das sich zwar nur allmählich, aber dennoch stetig von seiner Position entfernte und leiser wurde. Man meinte, kleine nackte Kinderfüße würden auf den Flurfliesen umherstapfen, begleitet von einem Geräusch, das einen an das ständige Aufklatschen eines triefend nassen Schwamms erinnerte. Skinner lief es eiskalt den Rücken herunter. Da schoss ihm schlagartig ein rettender Gedanke durch den Kopf: sein Handy am Hosengürtel. Im Nu hatte er es aus der Halterung gerissen, tippte, während sich die unheimlichen Schritte weiterhin langsam den Gang hinunterarbeiteten, nervös John Doggetts Nummer ein – und fuhr überrascht zurück, als sich das Display auf einmal mit lauter wirren, unidentifizierbaren Symbolen füllte, grell aufleuchtete und dann mit einem Knacken barst. „Soviel zum Thema 99%-Netzabdeckung, schätze ich mal!“, knurrte er ironisch, warf den nunmehr unbrauchbaren Apparat von sich, rappelte sich auf und ging dem kaum noch hörbaren Getapse zögernd nach, immer wieder stehen bleibend, um die Richtung zu lokalisieren, aus der es zu kommen schien.

Er folgte den Schrittgeräuschen in den Treppengang, wo sie sich abwärts auf das Untergeschoss zu bewegten. Verflucht... irgendwie hab ich’s ja so kommen sehen, dachte er bei sich, als er bald den Wegweiser für die Pathologische Abteilung passierte. Nervös wischte er sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von Stirn und Nase, hielt Waffe sowie Leuchte weit von sich weg gestreckt und rückte weiter vor.



Allmählich wurde es kühler, so dass er leicht zu frösteln begann. Hier und da flackerten immer wieder kurz einige Neonröhren auf und beleuchteten die vor Skinner liegenden Räume durch bläulich gefärbte Blitze. Er erkannte, dass er soeben die engen Gänge der ersten Laboratorien durchschritt. Überall standen Erlenmeyerkolben in den unterschiedlichsten Größen, gefüllt mit Flüssigkeiten fast aller Farben – grün, blau, gelb, rot... Kompliziert aussehende Versuchsaufbauten füllten ganze Tischreihen aus, und aus zahlreichen Gefäßen blubberte und dampfte es vor sich hin. Große, massive Stahltresore säumten in regelmäßigen Abständen die weiß gekachelten Wände – der Aufbewahrungsort hunderter entnommener Blutproben, angelegter Bakterienkulturen und sonstiger Forschungsergebnisse, wie Skinner wusste. Normalerweise kannte er sich hier recht gut aus, doch in diesem Moment kam ihm alles ziemlich fremdartig und unheimlich vor.

Plötzlich schien das Tappen vor ihm für einige Sekunden auf der Stelle zu treten, um dann schlagartig zu verstummen. Die darauf folgende Stille beunruhigte ihn beinahe mehr als die ihn leitenden Geräusche zuvor. Verunsichert blieb er stehen.



Sollte er nicht lieber doch umkehren? Was würde ihn hier in der Dunkelheit erwarten? War es nicht besser, das Gebäude zu verlassen und herauszufinden, was draußen mit der Umgebung auf so eigenartige Weise vor sich ging? Alles schön der Reihe nach, meinte er letztendlich zu sich selbst. Halbe Sachen werden keine gemacht, und irgendeinen Zweck muss das alles hier ja wohl haben. Entschlossen setzte er seinen Weg fort und erreichte schnell die Stelle, an der er die Schritte zum letzten Mal gehört hatte – feststellend, dass er direkt neben dem Eingang zur Leichenkühlhalle stand. Die Metallschleuse glitt leise beiseite – und das, obwohl die im Hintergrund dezent brummenden Notstromaggregate doch lediglich für die (dennoch ausgefallene) Beleuchtung sowie die Kältekammern zuständig waren. Widerwillig folgte er der offensichtlichen „Einladung“ und betrat mit vorgehaltener Waffe den Raum.

Wie er erwartet hatte, war es dort stockfinster und bitterkalt. Dann fiel ihm beinahe sofort etwas auf, und es verhieß nichts Gutes: Das gewohnte monotone Summen der Kühlaggregate fehlte, was nur eines bedeuten konnte – die Stasiskammern waren abgeschaltet.

„Scheiße noch mal!“, hauchte er zitternd, seinen kondensierten Atem im matten Lichtschein der Handleuchte betrachtend. Auf der anderen Seite des Raumes entdeckte er die metallenen, in die Wand eingelassenen Schub- fächer, in der die Gerichtsmediziner die zu obduzierenden Leichname aufzubewahren pflegten, um die jeweiligen Todesursachen festzustellen. Skinners schlimmster Verdacht bestätigte sich:



Zwölf der Kammern standen weit offen – und sie waren allesamt leer.



„Verdammt, welcher Film läuft hier?“, schrie er – mehr, um sich Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit vorzugaukeln als eventuelle Beobachter einzuschüchtern. Paranoid rannte er von einer Ecke des Raumes zur anderen, ständig in alle Richtungen sichernd und sekündlich mit einem Angriff rechnend. Da ließ ihn ein leiser Piepton zusammenzucken und brachte ihn einem Nervenkollaps bedenklich nahe – doch zu seiner großen Erleichterung war es lediglich das Stundensignal seiner Armbanduhr. Aufatmend wollte er schon den Alarm abstellen, als er bestürzt auf das Display starrte.



Es war 23:59 Uhr, also früher als beim letzten Zeitcheck – die Sekundenanzeige lief tatsächlich rückwärts, und zwar sehr, sehr langsam. Das kann doch überhaupt nicht sein, dachte er verzweifelt und brach erneut in Schweiß aus, der ihm träge an den Schläfen hinab rann.



Noch während er versuchte, dieses neue Mysterium zu verarbeiten, hämmerte es zu seinem hellen Entsetzen dreimal laut an das geschlossene Metalltor einige Meter links neben ihm, welches in einen der Obduktionsräume führte. Sein Herz wollte ihm beinahe die Brust sprengen, so laut schlug es, als er sich dem Unheil verkündenden Tor Schritt für Schritt näherte. Bevor er den Riegel zurückschob, schloss er noch einmal die Augen, schickte so etwas wie ein Stoßgebet gen Himmel (wie lange hatte er das nicht mehr getan!) und riss dann die dünne Trennwand aus kühlem Aluminium mit einem heftigen Ruck zur Seite. Dichte, weißliche Nebelschwaden umhüllten ihn, nachdem sich der Eingang wieder hinter ihm geschlossen hatte. Das Licht seiner Taschenlampe nützte ihm hier nur noch wenig, wie er besorgt feststellen musste. Vorsichtig trat er noch einen Meter vor, als sich seine Augen vor Schrecken weiteten: Vor ihm ragten dünne, bleiche menschliche Arme aus dem Nebel heraus in die Höhe. Unvorstellbares Grauen packte ihn nach einem weiteren Schritt: Die Nebelschleier wurden beiseite gewirbelt und offenbarten ein Szenario, das einem buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren ließ.



Vor Skinner standen zwölf nackte, leblose menschliche Körper mit bläulich-blasser Haut und entsetzlich verzerrten, entstellten Gesichtszügen in einer Reihe nebeneinander – die gleichen wie am vergangenen Nachmittag. Die weit aufgerissenen Augen einer jungen weiblichen Leiche waren starr auf ihn gerichtet, und ihr Mund stand extrem offen, wie zu einem stummen Schrei. Der Kopf eines anderen, älteren Mannes war zur Seite geneigt, und sein Gesichtsausdruck erweckte den Anschein, als erleide er große Schmerzen.

Einer weiteren Leiche war gar der Kopf vom Hals abgetrennt und wurde steif verkrampft von der linken Hand umklammert gehalten, deutliche Spuren von Fäulnis und Verwesung aufweisend. Alle reckten den rechten Arm senkrecht nach oben, den Zeigefinger ausgestreckt.



Skinner ertrug diesen grässlichen Anblick nicht länger. Würgend wandte er sich zur Seite und musste sich übergeben. Es dauerte eine ganze Weile, bevor er sich wieder imstande fühlte, dem Grauen entgegen zu treten.

Auf einmal spürte er etwas Feuchtes, Kühles auf seinem kahlen Kopf. Erschrocken fuhr er mit der Hand über seine Stirn und streckte sie anschließend vor sich aus. Zwischen seinen Fingern klebte eine schmierige, fluoreszierende Substanz, die ein seltsam mattes, grünliches Licht aussandte. Instinktiv wanderte sein Blick in die Höhe, dorthin, worauf die Finger der Leichname wiesen. Über ihm an der Decke standen in großen, zittrigen und verschmierten Buchstaben leuchtend folgende Worte:



EXSPECTATE FINEM AETATIS VESTRAE

FM-RT0093526108-X



„... und ich Depp hab Latein nach dem ersten Jahr abgewählt!“, stöhnte Skinner und versuchte, sich zwanghaft an seine mageren Fremdsprachenkenntnisse zu erinnern. Bevor ihm jedoch etwas einfallen konnte, lenkten gurgelnde Laute seine Aufmerksamkeit zurück auf die Leichen.

Irgendeine Flüssigkeit begann aus Augen, Nase und Mund der Toten zu strömen. Zuerst hielt Skinner es für Blut, bis er im Schein seiner Lampe erkannte, dass die Substanz pechschwarz war, zähflüssig wie Öl die steifen Körper hinabströmte und zu einer ständig größer werdenden Pfütze vor den Füßen der Leichenreihe zusammenfloss. „Das... sieht übel aus...“, murmelte er und taumelte mehrere Schritte zurück in den Nebel.

Ein eklig klingendes Schmatzen setzte ein, und deutlich war zu erkennen, wie sich aus der öligen Masse allmählich eine Gestalt zu formen begann, immer größer und breiter werdend. Im Hintergrund vernahm man überdeutlich das Faulgeräusch menschlichen Fleisches, das in atemberaubender Geschwindigkeit zu zerfallen anfing. Wie im Zeitraffer dörrten alle Körper aus, schälte sich die Haut in Fetzen von den Leibern und ließ die Knochen knirschend hervortreten. Muskelfasern und Sehnen rissen wie überspannte Gummibänder, bis auch die übrig gebliebenen Skelette krachend in sich zusammenfielen und von unsichtbarer Kraft zu grauweißer Asche pulverisiert wurden.



Laut aufschreiend wirbelte Skinner herum, nahm seine Beine in die Hand und hastete zurück zum Tor, das er zitternd aufstemmte, und flüchtete geschockt zurück in den Kühlraum. Hinter ihm erhob sich ein Mark erschütterndes, Ohren betäubendes Grummeln, das bedrohlich anschwoll und in ihm die schreckliche Vorstellung wachrief, die Seelen tausender Verstorbener hätten plötzlich Stimmen und würden stöhnend nach ihm rufen.

In seiner Eile blieb Skinner mit einem Fuß an einem der Obduktionstische hängen und fiel der Länge nach hin. Seine Taschenlampe rutschte ihm dabei aus den Händen, rollte auf dem kalten Boden entlang und ging aus. Wertvolle Sekunden verstrichen, bis er sich wieder aufgerappelt hatte und nunmehr blind den Weg zum rettenden Ausgangsschott finden musste. Humpelnd tastete er sich an der Wand entlang, stieß dann auch endlich auf das glatte Metall der gesuchten Tür – die sich jedoch nicht mehr automatisch öffnete. Krampfhaft trommelte er mit den Fäusten dagegen, in der verzweifelten Hoffnung, so den Mechanismus in Gang zu bringen, aber umsonst.



In diesem Moment spürte er, wie hinter seinem Rücken etwas aus der Ecke des Raumes heraus Anlauf nahm und rasend schnell auf ihn zugeschossen kam, grauenvoll brüllend und alles im Weg Stehende zur Seite schleudernd.

Eine unerklärliche Hitzewelle schlug ihm ins Gesicht und versetzte ihn durch den abrupten Temperaturanstieg beinahe in einen Schock.

Ihm blieb keine Wahl mehr. Wild entschlossen drehte er sich um, richtete seine Pistole bebend vor sich in die Finsternis und schoss mit einem lauten, lang gezogenen Schrei ungezielt auf das heranbrausende Unbekannte.



Er feuerte um sich, bis auch die letzte Patronenhülse aus seinem Magazinschacht klingend zu Boden fiel...
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