World of X

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Geblendet von weißem Licht

von DashaK

Kapitel 2

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Julia hörte aufmerksam zu, während Dana ihr "Jerry, das blaue Raumschiff" vorlas. Mit molligen Fingern zeigte sie auf die richtigen Bilder, wenn Dana sie fragte, welches der Satellit war, welches die Startbahn und welches der Mond. Zu beobachten, wie die Intelligenz ihrer Tochter von Tag zu Tag wuchs, war erstaunlich. Es war schwer zu glauben, daß das stramme kleine Mädchen an ihrer Seite, das einen roten Kordsamtoverall trug, als einzelne Zelle in Danas Körper begonnen hatte.

Gegenüber im Zimmer saß John in seinem schwarzen Schreibtischsessel aus Leder, seine Augen waren geschlossen und das Verbindungskabel klemmte hinter seinem Ohr. Er war tief versunken im Netz. Nichts anderes als ein Ellbogen in seinen Rippen würde ihn aufscheuchen, solange er in tiefer Versunkenheit war.

Dana kam zur letzten Seite. "Und dann flog Jerry hoch in den Himmel und der Mond begann, für ihn zu klatschen." Julia applaudierte anstelle des Mondes. Es war ihre Lieblingsgeschichte.

Mit einem verärgerten Geräusch in seiner Kehle drückte John die Taste am Computer, mit der die Verbindung aufgehoben wurde und klemmte das Kabel ab.

"Irgend etwas nicht in Ordnung?" fragte sie von ihrem Platz auf dem Teppich.

Er richtete sich zu seiner vollen, schlaksigen Größe auf und begann, durch das Wohnzimmer zu wandern. "Es ist das Team in Sao Paolo. Sie haben alles versaut."

"John!" Sie zeigte auf Julia, die fasziniert schien von dem neuen Vokabular ihres Vaters.

"Entschuldigung." Er setzte sich auf den Boden zu ihnen und zog an Julias mit einem roten Gummiband zusammengehaltenen Pferdeschwanz. "Dana, es gibt gewaltige Probleme auf der Baustelle. Ich muß morgen dort hinfliegen."

Während Johns Beruf als Bauingenieur bedeutete, daß er einen großen Teil seiner Arbeit von zu Hause aus über das Netz erledigen konnte, so mußte er dennoch Zeit auf seinen Baustellen verbringen. Dana akzeptierte das als Tatsache, aber dennoch stöhnte sie. "Für wie lange?"

Er schüttelte den Kopf. "Ich weiß nicht. Eine Woche, vielleicht zwei Wochen."

"Und da führt kein Weg dran vorbei?"

"Kein Weg." Er küßte sie auf die Wange. "Ich mache es wieder gut, wenn ich zurück bin. Vielleicht können wir beide ein paar Tage frei nehmen und sie zusammen verbringen."

Dana zwang sich zu einem Lächeln. "Du machst es besser wieder gut..."

"Ein Grund mehr, mich mit dem Nachhausekommen zu beeilen," lachte er und schaukelte Julia in seinem Schoß.

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Später am Nachmittag, nachdem John Julia mitgenommen hatte, um mit ihr Zutaten für das Abendessen zu kaufen, stieg Dana in die U-Bahn und fuhr zum Fluß, um ein bißchen zu laufen. Am fernen östlichen Ende der Stadt gelegen, war der Fluß ihr Lieblingsplatz für einen einsamen Lauf.

Sie hatte nicht oft die Möglichkeit zu trainieren, nicht seit Julia da war, aber sie liebte es, sich selbst anzutreiben und sich vollkommen lebendig zu fühlen, während ihr Körper sich auf der Laufstrecke bewegte.

Das Flußufer war voll mit Läufern, Familien auf Fahrrädern und Paaren, die Kinderwagen in der Sonntagsnachmittagssonne schoben. Dana dachte über die Tatsache nach, daß die meisten Kinder unter fünf Jahre alt waren, Produkte der neuen Familien, die entstanden waren, nachdem die Anderen gekommen waren. Nur sehr wenige Kinder, die jünger als sechzehn, siebzehn Jahre waren, hatten den Krieg und die Seuche überlebt.

Nun war die Stadt voll im Familienfieber. Jeder wollte ein Baby. In ihrem Labor drehten sich die Pausengespräche um das Stillen, die Behandlung von Unfruchtbarkeit und das Üben, aufs Töpfchen zu gehen. Neuerdings schien sich Danas gesamtes gesellschaftliches Leben um Babypartys und Namensgebungen zu drehen.

Dana lief zu der baumbegrenzten Böschung des Flusses und sah dem trägen Fließen unter sich zu. Der Fluß kam von Draußen, aber zuerst ging er durch eine Kläranlage, um Krankheitserreger und Verunreinigungen herauszufiltern.

Während sie ihre Oberschenkelmuskulatur dehnte, sah sie nach links hinüber und entdeckte eine vertraut aussehende Figur, die ebenfalls Dehnübungen machte. Es war der Mann, den sie in der Woche zuvor im Park getroffen hatte.

Sie ging hinüber und tippte ihn an die Schulter. Er drehte sich um und grinste sie an, glücklich überrascht, sie zu sehen. Er trug ein ziemlich verschlissenes blaues T-Shirt und Jogginghosen, die aussahen, als hätten sie schon bessere Tage gesehen. Dana mochte es, daß er nicht das Gefühl hatte, er müßte eine perfekt zusammenpassende Trainingskleidung tragen, wie so viele andere Läufer am Fluß.

"Ich erkenne Sie," sagte er und hielt ihr seine Hand hin. "Aber ich habe nie Ihren Namen erfahren."

"Dana Scully," sagte sie und schüttelte seine Hand. "Und Sie?"

Der Mann ließ ihre Hand los und beugte sich stark nach vorn, um sich zu dehnen. "Fox Mulder, aber Sie können mich Mulder nennen. Ich mag meinen Vornamen nicht besonders."

Sie grinste. "Fox," wiederholte sie. "Sie haben recht, aus irgendeinem Grunde paßt er wirklich nicht zu Ihnen. Haben Sie darüber nachgedacht, ihn zu ändern? Ich meine, es ist nicht so, daß es irgend jemanden durcheinander bringen würde."

Er sah sie aus erstaunten Augen an und ihr Gesicht begann, rot zu werden. Mist, sie wußte besseres als ihn ausgerechnet an das Vorher zu erinnern. Es war äußerst unhöflich. Aber Mulder lächelte schief und kam aus seiner Dehnübung hoch. "Nein, ich bin zu faul, um mich an einen neuen Namen zu gewöhnen."

"Wie weit haben Sie vor, zu laufen?" fragte sie.

"Ich bin ein bißchen aus der Form. Seit wir umgezogen sind, hatte ich keine Möglichkeit zu laufen, also denke ich an drei Meilen oder so. Warum? Wollen wir zusammen laufen?"

"Warum nicht?"

"Ich persönlich kann mir keinen Grund denken, also los."

Sie machten noch ein paar Minuten Dehnübungen und machten sich dann auf zu einem leichten Lauf über den gewundenen Weg. Sie hatte das Gefühl, daß er langsamer lief, als es für ihn üblich war, aber sie war froh, daß es ihnen die Möglichkeit gab, miteinander zu reden ohne zu sehr außer Atem zu geraten.

"Ich hatte gehofft, Ihnen wieder über den Weg zu laufen, Dana," sagte er, geschickt einer schwangeren Frau mit einem kleinen Jungen im Kinderwagen ausweichend. "Ich wollte Sie um eine Verabredung bitten."

Sie blieb beinahe stehen und spürte, wie sich ihre linke Augenbraue von sich aus nach oben bewegte. "Eine Verabredung?" Sie hatte doch erwähnt, daß sie verheiratet war, richtig?

Er schnaubte lachend. "Ja, eine Verabredung zum Spielen. Adam und Julia schienen ganz gut miteinander auszukommen."

"Bis sie ihm mit ihrer Schaufel auf den Kopf klopfte."

"Adam mag angriffslustige Ladies."

"Dann wird er Julia lieben. Sie kann manchmal ein Scheusal sein."

"Nein," sagte Mulder. "Sie erkundet im Moment nur ihre Selbständigkeit. Das typische Verhalten Zweijähriger."

Sie folgten dem Weg eine weitere Meile und dann machten sie eine Schleife zurück zum Denkmal für die verlorenen Seelen. Sie war froh darüber, daß sie sich dort nicht aufhielten. Aus irgendeinem Grund ließ sie die gigantische Statue aus Granit, die einen Mann und einen Frau zeigte, die in den Himmel sahen und augenscheinlich um ihre verlorenen Angehörigen trauerten, zittern.

Als sie ihren Ausgangspunkt erreichten, kauften sie sich eine Flasche Wasser an einem Erfrischungskiosk und setzten sich auf eine niedrige Steinmauer, von der aus man über den Fluß sehen konnte.

"Ich mag es hier," sagte Mulder und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Es ist einer der wenigen Plätze, die sich real anfühlen."

"Was meinen Sie mit real?" Dana hatte das unbehagliche Gefühl, daß sie wußte, worüber er sprach.

"Nun, real wie die Welt einmal gewesen sein muß. Es fühlt sich an wie Erinnerungen daran, daß ich im Vorher gelaufen bin."

Ihr Atem kam in einem heftigen Zug heraus. "Niemand spricht jemals über das Vorher."

Er nickte. "Ich weiß. Da funktionieren klassische Verleugnungsmechanismen. Es ängstigt die Menschen, ihre Vergangenheit zu erforschen, sich hinzusetzen und über die Tatsache nachzudenken, daß sie ein Leben vor diesem hier hatten. Es scheint einfach so mächtig."

Sie nickte.

"Es tut mir leid," sagte er. "Wir müssen nicht darüber reden, wenn es Sie ärgert. Ich meine, wir kennen einander nicht besonders und da komme ich und gehe auf empfindliche Themen los."

Ein kleines Lächeln begann sich auf ihren Lippen zu formen. "Nein, es ärgert mich nicht, wirklich nicht. Ich habe nur niemals mit jemandem darüber geredet. Mein eigener Mann will es nicht einmal mit mir diskutieren."

"Sarah will es auch nicht. Ich bekomme nur diesen steinernen Blick von ihr, wenn ich auf dieses Thema komme. Manchmal sehe ich sie an und frage mich, woran, wenn überhaupt, sie sich erinnert."

Dana beobachtete eine kleine Gruppe von Teenagern aus einem der Jugendhäuser, die Wandersachen anhatten und von einer athletischen jungen Frau angeführt wurden, die ziemlich beunruhigt aussah, angesichts ihrer Verantwortung. "Gott, ist jede Beziehung so?" fragte sie. "Einer sieht den anderen an und fragt sich, wer warst du, bevor ich dich kannte?"

"Ich wünschte, ich wüßte, wer ich gewesen bin," sagte Mulder und trank sein Wasser aus.

"Ich auch."

Sie starrten einander einen langen unbehaglichen Augenblick an, als wären sie sich dessen bewußt, daß sie gerade Geheimnisse geteilt hatten, die nicht gerade angemessen waren für neue Bekanntschaften.

Mulder sprang von der Mauer und sah auf seine Uhr. "Ich sollte wirklich zurückgehen. Wie ist Ihre Nummer? Wir können die Verabredung zum Spielen treffen."

"Ich habe nichts, um sie aufzuschreiben."

Er schenkte ihr ein schiefes Lächeln, das ihn um Jahre jünger aussehen ließ. "Ich habe ein gutes Gedächtnis, ich werde sie mir merken."

Sie nannte ihm ihre Nummer und er machte sich auf den Weg in Richtung U-Bahn mit einem lebhaften Winken.

Lange Zeit saß sie auf der Mauer, beinahe gelähmt vor Erstaunen.

Vorher, dachte sie. Er wollte über das Vorher reden.

Sie war sich nicht sicher, ob es Angst oder Hoffnung war, was sie fühlte.

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In dieser Nacht setzte sie sich, nachdem John und Julia ins Bett gegangen waren, an den Schreibtisch und begann eine Liste.

Dinge, die ich kenne:

- mein Name - mein Geburtsdatum - die Stadt, in der ich einmal gelebt habe - meine medizinischen Fähigkeiten und Kenntnisse, aber nicht, wo ich sie erworben habe - Ich hatte einmal eine schwere Verletzung im Bauchbereich. Ich habe eine Narbe und es scheint, daß es sich um eine Schußwunde handelte. - An meinem unteren Rücken habe ich ein kleines Tattoo, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt. - Ich war niemals schwanger vor Julia. - Ich kann Klavier spielen, aber nicht sehr gut. - Ich bin keine gute Tänzerin - Ich bin Rechtshänderin. - Ich muß einmal Deutsch gelernt haben, weil ich eine Menge von dem Tele-Programm verstehe, das aus der Gegend kommt, die einmal Deutschland war. - Ich habe einmal im Schnee gespielt. - Ich glaube, ich hatte einmal einen Geliebten mit dunklem Haar. Er nannte mich bei meinem Nachnamen. - Ich lese gern, besonders Romane und medizinische Journale. - Ich habe meinen Kaffee schon immer mit Milch gemocht, keinen Zucker. Es gab einmal eine bestimmte Art, Kaffee zu machen und ich habe sie wirklich gemocht, aber ich kann mich nicht erinnern, was drin war. - Ich mag würzige Speisen, besonders chinesisches Essen. - Ich genieße es, zu laufen und es scheint etwas zu sein, das ich gewohnt war, häufig zu tun. - Am Wasser empfinde ich es am friedvollsten, besonders am Fluß. - Ich weiß, wie man kocht und kann mich noch an Rezepte erinnern. - Ich war vielleicht einmal religiös. Manchmal kommen mir ein oder zwei Zeilen eines Gebetes in den Sinn. - Ich habe zur Arbeit Kostüme getragen im Vorher.

Sie starrte auf ihre Liste und bemühte sich sehr, sich an mehr zu erinnern. Es gab andere Dinge, an die sie sich hin und wieder erinnerte, aber sie waren ein kurzes Aufblitzen, das nur einen Moment dauerte.

Das ist es also, dachte sie. Die Summe von fünfunddreißig Jahren?

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~~~~ Am Morgen duschte sie und begann, sich für die Arbeit anzuziehen. Sie hatte ihre Routine, einen morgendlichen Rhythmus, der so eingefleischt war, daß sie nicht darüber nachdenken mußte - sie stand einfach auf und tat es.

Bevor sie duschen gegangen war, hatte sie eine Kanne Kaffee gekocht. Nun nippte sie an der blau und goldenen mexikanischen Kaffeetasse, während sie ein schwarzes Kostüm und eine cremefarbene Seidenbluse zum Anziehen auswählte. Im Hintergrund erklang Geplapper aus dem Radio, als sie schwarze Nylonstrümpfe anzog und ihre Jacke zuknöpfte.

Ihr Haar war ein bißchen länger. Es hatte die ärgerliche Angewohnheit, sich zu wellen und sie mußte Styling lotion hineinkämmen und es über einer Rundbürste fönen, um es in dem ordentlichen Bubikopf zu halten, den sie bevorzugte. Schließlich deckte sie ihr Gesicht mit einem matten Puder ab, benutzte ein wenig braunen Mascara und bemalte ihre Lippen mit einem natürlichen beige-pinkfarbenen Lippenstift. Ohrringe, Uhr und sie war fertig zum Gehen.

Plötzlich wurde ihr etwas bewußt und ihre Hand griff an ihren Hals. Ihre Halskette, ihr kleines goldenes Kreuz an einer Kette - wo war es? Sie legte ihre Kette niemals ab, nicht einmal zum Schlafen oder Duschen.

Nur zweimal in ihrem Erwachsenenleben hatte sie ihre Kette verloren. Beide Male hatte er sie gefunden und für sie aufbewahrt.

Panik machte sich in ihrer Kehle breit, als sie auf der Frisierkommode, den Bettdecken und im Badezimmer suchte. Die Kette und das Kreuz waren nirgendwo zu finden.

Das kann nicht sein, dachte sie. Meine Mutter hat mir das Kreuz zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt. Es ist der einzige materielle Gegenstand, der mir wirklich etwas bedeutet.

Sie konnte sich daran erinnern, im Krankenhausbett in den Kissen gelegen, die vertraute Kühle des Kreuzes an ihrem Hals gespürt und gedacht zu haben, er hat es die ganze Zeit für mich aufbewahrt...

Und nun war es weg. ~~~~

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Die Welt veränderte sich und löste sich auf und Dana fand sich in einem Bett wieder, in ihrem eigenen Bett und ihr Mann tätschelte ihr ängstlich die Schulter.

"Bist du nun wach?" fragte er, seine Augen groß und erschrocken.

Sie blinzelte unter matten Augenlidern, völlig verwirrt. Was war real und was war Traum?

Ja, es war ein Traum gewesen, dachte sie, eine weitere mögliche Erinnerung, die sich als Traum verkleidete.

John schaltete die Nachttischlampe an. "Du hast wieder im Schlaf gesprochen und etwas über eine verlorene Halskette gemurmelt." Er küßte ihr Haar, das feucht von Nachtschweiß war. "Hast du geträumt, daß du deine Korallenkette verloren hast?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Es war ein kleines goldenes Kreuz an einer Kette. Meine Mutter hatte es mir geschenkt."

"Deine Mutter?" Seine dunklen Augenbrauen gingen in die Höhe.

"Ich glaube, daß mein Traum eine weitere Erinnerung an das Vorher war."

"Oh, Dana," seufzte John und zog sie fester in seine kräftigen Arme. "Ich hasse es, zu sehen, wie du dich quälst."

"Es ist in Ordnung." Sie atmete seinen vertrauten Geruch tief ein und ihr Herzschlag begann, ruhiger zu werden. "Ich denke, ich will mich erinnern."

Ich hasse es, ein weißes Blatt Papier zu sein, dachte sie.

John nickte. "Ich verstehe nicht, warum du dich erinnern willst. Ich will es verstehen, aber ich kann es nicht."

"Ich weiß, daß du es nicht kannst," flüsterte sie. "Ich weiß, daß es dich ängstigt. Es ängstigt mich ebenso."

"Warum tust du es dann? Es ist nicht gesund. Und es ist irgendwie nicht fair Julia und mir gegenüber oder dir selbst gegenüber. Das hier ist jetzt dein Leben."

Ein kurzer Anflug von Ärger überkam Dana. Sie erinnerte sich daran, was Mulder nach ihrem Lauf gesagt hatte - es ist einfach zu mächtig. Ja, es war gewaltig, darüber nachzudenken, daß ein ganzes Leben ausradiert worden war, aber warum konnte John ihr Verlangen zu wissen nicht verstehen?

Sie fragte sich, ob ihr Mann sie letztendlich wirklich kannte.

Jedoch war 3.00 Uhr früh nicht die Zeit, diesen Punkt zu diskutieren, besonders wenn John am Morgen nach Sao Paolo flog. Das Adrenalin war aus ihrem Körper verschwunden und sie fühlte sich plötzlich erschöpft. Alles was sie wollte war, unter die Decke zurückzuschlüpfen und in einen traumlosen Schlaf zu versinken.

Dana rutschte auf der Matratze herunter und schloß die Augen. "Laß uns weiterschlafen, John."

Sie betete darum, daß sie nicht träumen würde.

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Mit einem Leuchten in ihren goldbraunen Augen schoß Julia gekonnt ein Stückchen Käseomelett von den Zinken ihrer Kindergabel aus Plastik quer durch den Raum. "Julia," ermahnte John sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Aber Dana lehnte sich einfach zurück, nippte an ihrem Kaffee und lächelte.

Nachdem sie aufgewacht waren, hatte John sich über das Netz mit dem Flughafen in Verbindung gesetzt und herausgefunden, daß sein Flug um drei Stunden verschoben worden war, wegen schlechten Wetters. Außerhalb der Kuppel zogen bedrohlich aussehende Sturmwolken am Himmel dahin und sie sahen so aus, als wären sie bereit, Schnee auf die klare, abgerundete Oberfläche fallen zu lassen, der schmelzen und heruntergleiten würde.

Da sie ein bißchen Zeit totzuschlagen hatten, liefen sie sieben Blocks zu Fuß zum Greenlawn Corners Café. Es war ein gemütliches Plätzchen mit kaum zwanzig Tischen. Sie hatten selten die Gelegenheit, als Familie auswärts zu essen, aber dies war ein Platz, der zwanglos genug war, ein geräuschvolles, chaotisches, tapsiges Kleinkind zu beherbergen und die Küche servierte eine durchschnittliche Portion Huevos Rancheros. Und Dana mochte die im Hintergrund plappernden Kellnerinnen und das wertlose Hologramm von Affen, die auf Reben herumsprangen - es gab dem Restaurant so ein karikaturhaftes Dschungelgefühl.

Sie blickte durch den Raum auf ein junges Paar, das zerzaust und erhitzt aussah, als hätten sie letzte Nacht nicht besonders viel Schlaf gehabt. Die Frau, die mit dem Gesicht zu ihr dasaß, war groß und prächtig mit einer langen schwarzen Mähne, die über ihren schlanken Rücken fiel. Sie lächelte ihre Geliebte, eine kleinere Frau mit kurzem blondem Haar, mit bezaubernder Sinnlichkeit an.

Ich erinnere mich an diese hitzigen Tage der ersten Liebe, dachte Dana, stocherte in dem Dotter ihrer Eier herum und sah zu, wie es sich mit dem leuchtenden Rot der Salsa vermischte.

Sie berührte Johns Hand. "Erinnerst du dich an das erste Mal, als wir hierher kamen?"

Er setzte seine Kaffeetasse ab und blinzelte sie an. "Das erste Mal?"

Gegen den Drang ankämpfend, die Augen zu verdrehen, sagte Dana, "Du weißt schon, das erste Mal..."

Ein Ausdruck von Panik erschien auf seinem Gesicht, als wüßte er, daß er in Schwierigkeiten geraten würde. John zuckte mit seinen breiten Schultern. "Das erste Mal?"

Sie klopfte ihm auf die Hand, was Julia auf ihrem Hochstuhl dazu brachte, zu kichern.

"Dana, du mußt mir weiterhelfen," sagte John, seine Niederlage eingestehend. "Du weißt, daß ich in solchen Sachen nicht gut bin."

"Das erste Mal," wiederholte sie und senkte ihre Stimme, als wenn Julia sie tatsächlich verstehen könnte. "Denk darüber nach, John. Erinnerst du dich an dein altes Apartment, bevor wir geheiratet haben? Erinnerst du dich, daß es gleich hier um die Ecke war? Komm schon - Chris, Mike und du und eine ganze Menge schmutziger Wäsche auf dem Boden?"

Johns Augen wurden größer und er begann zu kichern. Sie nahm eine Gabel voll Ei und Tortillas in den Mund und lächelte triumphierend.

"Jetzt erinnere ich mich," flüsterte er. "Das erste Mal kamen wir hierher nach unserer ersten gemeinsamen Nacht."

Sie waren wie die beiden Liebenden dort drüben im Raum gewesen. Schwindelig davon, herauszufinden, daß das Vergnügen ihres sein könnte. Und überrascht, daß ungeachtet der Leere, die ihre Geschichte war, sie Liebe finden konnten und fanden.

"Und dann kamen wir gleich her, nachdem wir erfahren hatten, daß ich schwanger war," sagte Dana.

John legte mehr Eistückchen auf Julias Teller. "Für eine kleine Eckkneipe ganz schön viele Erinnerungen."

Dana nickte und goß ihnen Kaffee aus der Kanne auf dem Tisch nach.

"Da wir von schwanger reden," meinte John und schob seinen Teller weg. "Hast du noch einmal darüber nachgedacht, ein zweites Kind zu haben?"

Jeder verbliebene Hunger flüchtete bei Johns Worten.

Obwohl er mit ihr zusammen bei den Tests war, die endlosen Runden von Arztbesuchen mitgemacht und ihre Hand gehalten hatte während der laparoskopischen Behandlungen und Zelltherapien, fragte sie sich manchmal, ob ihr Mann wirklich verstand, wie schmerzhaft der ganze Prozeß gewesen war, zu versuchen schwanger zu werden. So viel schien auf dem Spiel zu stehen. Sie hatte es gehaßt, ihn zu enttäuschen mit ihrer Unfähigkeit, Kinder zu bekommen.

Sie konnte sich noch mit vollkommener Klarheit erinnern, wie sie auf dem Tisch gelegen hatte nach dem dritten Versuch einer Invitro-Befruchtung, ihre Zähne zusammengebissen und stumm geleiert hatte ichwillichwillichwillichwill...

Es tut weh, etwas so sehr zu wollen.

Und es ist möglicherweise noch schmerzvoller, zu erkennen, wieviel von ihr selbst und ihrer Ehe durch den Aufwand in Anspruch genommen worden war.

Dana legte ihre Gabel nieder und berührte Johns Hand, die auf dem glänzenden schwarzen Tisch ruhte. "Ich denke viel darüber nach," sagte sie, ihre Stimme ruhig haltend.

Sein Gesichtsausdruck war erwartungsvoll. "Irgendein Ergebnis?"

Ich wünschte, ich könnte sein wie du, John, dachte sie. Dein Verstand geht sorgfältig von Punkt A nach Punkt B und kommt bei Punkt C an, vollkommen klar. Im Grunde deines Herzens bist du Mathematiker. Während ich Logik und Sinn brauche, um mich über den Tag zu bringen, das Leben ist komplizierter für mich.

Sie sah auf die Reste ihres Frühstücks herab. "Nein," sagte sie. "Kein Ergebnis. Ich weiß nicht, ob ich das alles noch einmal durchmachen will. Ich weiß nicht, ob ich es kann."

Ich weiß nicht, ob ich das durchstehen kann, mich wie eine Versagerin zu fühlen, wenn meine Periode kommt, dachte sie. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen kann, in die Notaufnahme gebracht zu werden wegen einer weiteren Fehlgeburt. Ich weiß nicht, ob ich meine ganze Zeit damit verbringen kann, meinen Körper dafür zu schelten, weil er mich verraten hat.

Dana sah Julia an, die in den Grenzen ihres Hochstuhls mit den Füßen trat in dem verzweifelten Versuch, zu entkommen und sich mit eiverschmierten Fingern durch die Haare fuhr.

Sie sah ihren Mann an und ergriff seine Hand. "Ich weiß nicht, ob ich es kann," wiederholte sie.

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