World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Die erste Blume des Frühlings

von therees

Kapitel 2

J. Edgar Hoover – Building, Washington D.C

Mulders Büro

09:20 Uhr

Mittwoch







Tiefe Atemzüge füllten meine Rippen und ich stieß die Luft immer wieder von mir um neue Partikel aufzusaugen. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag und die Existenz des schwarzen, gepolsterten Drehstuhls der meinen Körper hielt war plötzlich wieder deutlich wahrzunehmen. Ruhe. Stille. Ich musste meine innere Balance zurückgewinnen.



Immer noch zitterten meine Finger von der Plötzlichkeit der unerwarteten Begegnung.

Dann begann mein logischer Verstand zu arbeiten. Mulder und Adrian kannten sich seit vielen Jahren. Sie waren Vertraute und doch Fremde, hatten sich lange nicht wieder gesehen. Ich hatte meinem Partner gegenüber kein Wort über den Fremden verloren der mich an einem verregneten Donnerstagnachmittag in eines der kleinen Büros im obersten Stock gezogen und geküsst hatte. Ich hatte vollkommen losgelassen und meine Gedanken aufgegeben. Hatte ihm erlaubt zu haben was er wollte und keine seiner Berührungen abgewehrt. Stattdessen ließ ich ihn gewähren. Entwaffnet und müde von langer Einsamkeit. Und er schloss die Tür ab und knöpfte ohne zu fragen meine Bluse auf. Ich fand es schön auch wenn es zuviel war und viel zu plötzlich kam, doch die beigefarbene Decke der kleinen Couch seines Büros absorbierte die Schreie aus meiner Kehle und ich ließ sie erst wieder aus dem eisernen Griff meiner Zähne gleiten als ich sicher war das meine bebenden Lungen nur mehr zu einem leisen Keuchen fähig waren. Er küsste meine Wange als ich die Falten glatt gestrichen und meine Erscheinung in die Ausgangsposition zurückgebracht hatte.



Ich stand auf und ging in drei raschen Schritten Richtung Regal um wenigstens ansatzweise so etwas wie Arbeitsmaterial zu sortieren. Ein grauer, staubiger Becher voller gespitzter Bleistifte thronte in Griffhöhe nicht weit von meinen Fingern und ich begann ihn langsam hin und herzu schieben während mein Vorhaben nötige Arbeitsschritte zu erwägen wie plötzlich durch einen weiteren Gedankenhieb weggewischt wurde.



Was wenn die beiden über mich sprachen. Würde Adrian erzählen wie wir uns kennen gelernt hatten? Die beiden waren trotz langer Abstinenz enge Freunde und sprachen Freunde nicht über Frauen, wenn nicht hier dann zu später Stunde in der Gesellschaft von Alkohol?

Ich hatte Mulder kein Wort von dieser intimen Angelegenheit erzählt weil ich meine Privatsphäre vor ihm wahren wollte. Weil wir miteinander arbeiteten und meine persönlichen Erfahrungen außerhalb dieser Gemeinschaft nur für mich selbst bestimmt erschienen. Nein, ich wusste dass das alles eine Lüge war. Keiner dieser Gründe war der wahre Grund für meine Entscheidung. Keiner war der Grund dafür dem Mann dieser anderen Welt den Rücken zu kehren.

Es war die Ebene auf der wir beide, ich und mein Partner verbunden waren. Und die Intensität die von jener ausging und mich vollkommen gefangen hielt. Mein Seelenleben, mein Herz, mein ganzes Wesen. Alles war zu einhundert Prozent involviert. Und ich konnte nichts dagegen machen. Das Bewusstsein dieser Tatsache stieg in mir empor und ich spürte den längst zur Gewohnheit gewordenen Druck auf meinem Kehlkopf, nur stärker und härter als seit Langem.



Dann verließ ich den Raum mit einem letzten Gedanken. Ich musste Adrian finden, und zwar gleich.





Kurze Zeit später..





Die Stimmen der beiden hallten mir durch den Gang entgegen und ich fing sie in der Mitte ab, diesmal gewappnet den Mann zu sehen mit dem ich als letztes geschlafen hatte. Wir tauschten wieder einige Floskeln aus dann entfernte sich Mulder wie durch Magie Richtung Toilette und gewährte mir einen kurzen Augenblick der Zweisamkeit mit Adrian, den ich sogleich nutzte.



„ Ich wusste nicht dass du meinen Partner persönlich kennst. Ich bitte dich um Diskretion, wenn du weißt was ich meine.“ Verwundert lauschte ich meinen eigenen Worten und konnte kaum glauben wie direkt ich sein konnte, in den wenigen Situationen in denen ich meinen Gedanken freie Hand ließ.



Adrians höfliches Lächeln färbte sich in einen nachdenklichen Ton während er mich wieder mit seinen blauen Augen musterte. Einen Augenblick lang sagte er gar nichts, schien seinen Gedanken nachzuhängen.



„Selbstverständlich.“ Der sachlich, professionelle Ton passte nicht zu seiner offensichtlich emotionalen Stimmung, doch ich sah ihm das erste Mal offen in die Augen und nahm ihm so das verlangte Versprechen ab.



Dann waren wir wieder zu dritt. Ich beteiligte mich unbeteiligt an dem Gespräch und beobachtete mit leichtem Unbehagen die Freude meines Partners und die Vertrautheit zwischen den beiden Agenten, die mehr als deutlich und keineswegs veraltet auch nach all den Jahren fortbestand. Wer sich jung kennen lernt, verlernt sich nie wieder. Soviel war klar.





Dana Scullys Apartment, Washington D.C

20:34 Uhr

Mittwoch



Adrian Clark. Ich war in ein Spaceshuttle gestiegen und in der Zeit zurückgereist. Sein Gesicht, unlöschbar und in renovierter Version in meine Gehirnwindungen eingeschrieben, verlor seine Klarheit auch nicht durch die zwei Aspirin die ich mir direkt nach Entledigung meiner Schuhe einverleibte und verfolgte mich noch als ich, mit immer noch zitternden Händen nach meinem Mobiltelefon griff um Patricia Adams anzurufen, eine Freundin mit der ich in meinen Kindertagen Haus an Haus gelebt hatte und die ich bis heute zu einer meiner engsten Vertrauten zählte. Doch meiner nicht gerade in sich ruhenden Verfassung nicht genug, begann das Kunststoffgehäuse in genau dem Moment zu vibrieren als sich meine Finger darum schlossen. Nummer unbekannt. Sollte ich antworten? Ich drückte auf die grüne Taste.

„Dana Scully?“

„Hey Dana, hier spricht Adrian. Ich hoffe ich störe nicht..“

Ich spürte wie ein inneres Hitzegefühl sich in mir zusammenbraute und schluckte schwer.

„Ähm..nein. Was gibt es?“

Kurze Stille. Vielleicht legt er auf betete etwas in mir.

„Ich wollte dich fragen ob du mit mir in einem Schlauchboot den Pazifik bereisen und mir deine Lebensgeschichte erzählen möchtest“ Er lachte betreten. „Nein, ganz im Ernst, in etwas bescheidenerer Manier wäre eine Tasse Kaffee auch nicht von der Hand zu weisen.“

Ich versuchte nicht zu lächeln. Warum reizte mich seine stillose Kitschmetapher überhaupt zu einem Lächeln? Und warum um alles in der Welt war ich nur so verwirrt?

Direktheit hatte einmal funktioniert, warum sollte ich es nicht noch einmal damit versuchen. Irgendwie fühlte ich mich einfach danach und das war so ziemlich das einzige Gefühl dass ich klar auszumachen vermochte.

„Ehrlich gesagt.. weiß ich grade nicht was ich sagen soll Adrian. Ganz ehrlich gesagt bin ich grade ziemlich durcheinander..“

Erneute Stille. Unangenehme Stille. Er suchte nach Worten, ich konnte es förmlich sehen.

„Es tut mir leid dass ich dich in Verlegenheit gebracht habe. Ich hatte wirklich keine Ahnung dass Fox dein Partner ist, du hast ihn in New York niemals namentlich erwähnt. Ich wusste nichts davon Dana.“

„Ich weiß. Und jetzt bist du hier.“ Die Feststellung löste sich in den dunklen Tönen eines Vorwurfs von meinen Lippen und ich erschrak über meine eigene Kälte. „Ich denke, Adrian, ich denke, dass ich darüber nachdenken werde. Allerdings sehen wir uns morgen Mittag bestimmt in der Cafeteria..“ Mulder würde dafür sorgen.

Adrian verabschiedete sich in höflichen Ton und ich konnte keine klare Emotion feststellen. Weder in mir noch in seiner Abfolge konditionierter Floskeln bevor das summende Leerzeichens die Stille füllte.





J. Edgar Hoover – Building, Washington D.C.

Cafeteria 1.Stock

07.22 Uhr

Donnerstag



„Hallo Rebecca, wie geht’s dir? Meine Morgenration bitte.“ Ich schenkte der zierlichen Servicekraft einen für diese Uhrzeit weltmeisterlichen Versuch in Mundwinkelgymnastik und nahm den immergleichen Kartonbecher im Austausch einer Dollarnote entgegen. Rebecca überbot meine Anstrengung ohne große Schwierigkeiten und wünschte einen erfolgreichen Tag. Ich wünschte mir ihren Zahnarzt oder die Zahnpasta die dieses unechte Strahlen im Mundraum verursacht hatte. Schnell eine Notiz in den Hinterkopf verstauend machte ich mich auf in Richtung Fahrstuhl, um mich meinem Laptop und den unaufgearbeiteten Akten mit den Nummern 2366, 2367 und 2368 zu widmen, welche ich am Vortag eine ganze Stunde lang angestarrt hatte. Ich fragte mich schmunzelnd ob ich nach diesem Starr-Marathon wohl noch Reste der Druckerschwärze auf dem vergilbten Papier auffinden würde, oder ob ich die Seiten aus dem Jahre 1958 blank und informationsgeleert als stille Zeugen einer schweren Verwirrung vollkommen eliminiert hatte.

Es war 7.22., eine Zeit in der Mulder noch in Jeans und ausgewaschenen Redskins T-Shirt am Wasser entlang joggte und die ich oft nutzte um Arbeiten mit einem intensiveren Konzentrationsanspruch durchzuführen und den Luxus eines leeren Büros zu genießen.

Ein Blick auf Akte 2366 sagte mir dass sich immer noch Worte in genauer Anordnung und Gliederung in ihren Seiten befanden und meine psychokinetischen Fähigkeiten wohl doch noch weit unter der von mir angenommenen Entwicklung in den Windeln lagen. Ich schlug die erste Seite auf und nahm einen tiefen Schluck Kaffee.

Wie lange würde Adrian wohl täglich dieses Gebäude betreten? Warum hatte er sich nach Washington D.C. versetzen lassen?

Ich hörte seine Stimme irgendwo zwischen meinem linken und meinem rechten Ohr meinen Namen sagen. „Ich wusste nichts davon, Dana“

Wütend schlug ich die Akte zu und starrte in das Zentrum des braunen Getränks. Ein Elixier der inneren Ruhe wäre mir in diesen Minuten wesentlich lieber gewesen.





Eine Stunde später..





„Wir fliegen Mittwoch nach Yakima Scully. Ein kleiner Fleck auf dem nördlichsten Westküstenlandstrich der USA, in dem es Regen, Regen und vier ungeklärte Morde DIESER Art gibt.“

Mulders motivierte Linke zog eine Palette Dias aus einem kleinen Kartongehäuse und legte sie in die Schraubfassung des Projektors, dessen Licht sogleich eine Abbildung an der Wand unseres Büros erzeugte. Das erste Bild zeigte die blasse Haut eines ohne Zweifel weiblichen Körpers, der nackt und bäuchlings zwischen Moos und Blättern ruhte. Das graue Haar der Toten rann sanft über ihren leblosen Hinterkopf und rahmte ihn im Laub verlaufend. Ich unterdrückte eine in mir aufbegehrende Emotion von sanfter Melancholie und rügte mich im Stillen für meine innerliche Abweichung von jahrelang erlernter Professionalität.

Dem Bild der Frau folgten drei weitere Leichen in derselben Position und Mulders Ausführungen über den bisherigen Verlauf der Ermittlungen.

„Nancy Graham, Natascha Wild, Alicia Norden und Alicias Mutter Rebecca Norden. Alle vier verschwanden im Zeitraum zwischen dem vierzehnten Dezember und dem zweiten Januar und wurden wenige Tage später in den Obstgärten und Wäldern nahe der kleinen Stadt aufgefunden. Nancy Grahams Bruder gibt an, noch mit seiner Schwester gefrühstückt zu haben die das Nachbarhaus bewohnt, ehe er gegen Mittag seinen Golden Red River Sonny vermisst hatte. Zwei Tage nach Verschwinden seiner Schwester tauchte der Hund wieder bei seinem Anwesen auf, laut Angaben des Mannes, völlig verwirrt und bissig, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Außerdem, und nun halten Sie sich fest Scully, hat er folgende Veränderung an dem Tier festgestellt.“

Ein weiteres Foto löste das Bild des letzten Mordopfers ab und zeigte den Kopf eines ausgewachsenen Golden Red Rivers. Irgendetwas stimmte nicht.

„Sehen Sie sich seine Augen an Scully“.

Mein Kopf hatte schon vor Mulders Worten in die richtige Richtung geschalten, doch ich konnte nicht glauben was ich da sah.

„Ist er blind?“

„Bingo. Peter Graham und die Nachbarin vom Haus gegenüber bezeugen, dass Sonny vor seiner Abwesenheit mit einem ausgezeichneten Augenlicht gesegnet war. Dasselbe Bild bietet sich uns in den drei weiteren Fällen, in denen zwei weitere Familien das Doppelverschwinden eines weiblichen Familienmitglieds plus Hund angegeben haben und – leider- nur den Hund wieder lebend zu Gesicht bekommen haben. Alle drei Hunde sind blind.“

„Drei Hunde? Sie meinen 4.“

„Nein, im Falle der Norden Familie verschwand der Mischling zweimal in diesem Zeitraum, kehrte jedoch schon vor der Auffindung der Tochter Alicia zurück. Laut Angaben von Peter Norden mit normalem Sehvermögen. Erst nach dem Verschwinden von Mr. Nordens Frau hatte der Hund diese Behinderung.“

Voller Fragen und etwas irritiert blickte ich in die benetzten Augen des Tieres und durchsuchte mein Gedächtnis nach möglichen Verursachern dieser abrupten Veränderung ohne aber auf schlüssige Ergebnisse zu kommen.

„Eine akute, starke Sehverschlechterung dieses Ausmaßes kann durch Erkrankungen der Gefäße oder Blutungen im Bereich der Sehnerven herbeigeführt werden. Ein Schlaganfall möglicherweise. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen wie die Tiere im Zeitraum ihrer Abwesenheit zu diesem gekommen sein sollen.. vor allem da der Schlaganfall bei Tieren äußerst selten und meist erst in hohem Alter vorzufinden ist und dieses Tier noch eher jung wirkt.“

„Das gilt es herauszufinden Scully.“ Mulder schaltete den Projektor ab. „Auch die Todesursache scheint nach wie vor ungeklärt, allerdings ist einer der Gerichtsmediziner gerade dabei Autopsien an den vier Leichen vorzunehmen, die bei unserer Ankunft nächsten Mittwoch bereits zu einigen Ergebnissen geführt haben sollten.“

„Um so besser für mich“ kommentierte ich den Bericht meines Partners. „Irgendwie ist mir momentan nicht danach.“

„Kann ich verstehen“ lächelte Mulder.

Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest dass der Zeiger bald am oberen Zentrum des Kreises angelangt sein würde. Wieder spürte ich das unangenehme Ziehen in meinen Nervenbahnen, dem ich den Namen Adrian verliehen hatte.

„Kommen sie mit in die Cafeteria Scully, ich habe mich dort mit Adrian verabredet und würde mich freuen wenn wir gemeinsam Essen würden.“

Mulder und ein über die üblichen drei Minuten hinausgehender Cafeteriaaufenthalt ohne Handschellen? Normalerweise bat er mich regelmäßig seine fehlenden Nahrungsbeschaffungsstrategien auszugleichen und ihm ein Sandwich ins Büro zu bringen.

Das Ziehen wurde stärker. Ich lächelte ihn an und nickte, verkniff mir jedoch die zynische Bemerkung die normalerweise einer Aussage dieser Art gefolgt wäre, um mir eine Konversation über unseren gemeinsamen Bekannten zu ersparen, solange das irgendwie möglich war.

Bald ist Mittwoch. Sagte die Stimme in mir und zum ersten Mal seit langem freute ich mich auf den Außendienst.



Adrian nippte an einem Wasserglas während sein Blick immer wieder verstohlen in meine Augen zu gleiten schien. Ich stocherte lustlos in meinem Salat und fixierte Mulder, der seinen ehemaligen Studienkollegen über die Details unseres aktuellen Falls in Kenntnis setzte. Doch meinen Augenwinkel entging der Fokus meines Gegenübers keineswegs und ich wünschte mich ans Ende der grünen Blätter, die ich von einem Tellerrand zum andern schob.

Doch bevor ich dort angelangt war und Mulder und ich den gemeinsamen Weg ins Büro antraten, klärte Adrian uns über die genaueren Umstände seiner zeitweiligen Versetzung auf. Als, wie Mulder, auf dem Bereich der Kriminalpsychologie ausgebildeter Agent arbeitete er im New Yorker Büro in der Abteilung für die Erstellung von Täterprofilen. Ein in DC stationierter Agent namens Fincher hatte ihn für die Zusammenarbeit an einigen Projekten nach DC gebeten und er hatte eingewilligt und seinen Wohnsitz auf unbefristete Zeit verlassen.

„Es sieht ganz gut aus, ich denke wir werden zwei bis drei Monate daran arbeiten.“ Meinte Adrian. „Zu schade dass ihr beide ab nächster Woche auf Außendienst seid.“

Ich stimmte ihm verlogen zu und senkte meinen Blick, wieder den Flughafen und den bereits ausgehändigten Boarding Pass auf meiner inneren Leinwand erflehend. Eine weitere halbe Stunde als Meisterin der Selbstkontrolle. Die olympischen Spiele sollten neue Disziplinen für psychologische Glanzleistungen entwerfen. Ich sah mich selber mit Goldmedaille und Champagner im Haar auf dem Siegerpodest. Dann erhob ich mich und verabschiedete mich von meinen beiden Kollegen, höflich wie immer.





J. Edgar Hoover – Building, Washington D.C.

20:28 Uhr

Sonntag





Sonntagabends war das J.Edgar Hoover Gebäude bis auf die zu dieser Stunde tätigen Reinigungskräfte und die in der Abteilung für Gewaltverbrechen und Terrorismus stationierten Workaholics menschenleer und meine Schritte hallten beinahe gespenstisch durch die grauen Gänge. Normalerweise verbrachte ich meine Sonntagabende in Gegenwart meiner Coach und einem guten Buch oder telefonierend, vor dem Fernsehgerät, doch meine Mutter hatte mich gebeten für den Geburtstag meiner Großtante Kinderfotos von mir, Melissa und meinen Brüdern einzuscannen und ihr zu schicken und mein kaputter Scanner zwang mich anhand der mütterlichen Bitte in die Räumlichkeiten meiner Arbeitswelt. Der Gedanke Melissas Lächeln gleich in doppelter Form und vielfältiger Variation sehen zu müssen, verursachte in mir ein hilfloses Gefühl von tiefer Traurigkeit, doch ich konnte meiner Mutter diesen Wunsch nicht abschlagen. Ich wusste dass sie dasselbe fühlte und ich wusste auch, dass meine Großtante Marina meine Schwester geliebt hatte und das sie sich erst heute, nach Jahren um Fotos erkundigt hatte, hoffend dass unser Schmerz bereits an Intensität verloren hatte. Was mich anging so gab es diesbezüglich keine Zeit. Wenn ich das Geschehene nicht mit aller Kraft verdrängte, löste sich jedes Mal eine Lawine von Tränen aus meinen Augen und ich focht mit mir selbst, um meiner Angst vor dieser Lawine Herr zu werden.

Im Büro angekommen legte ich das alte Album mit dem braunen Ledereinband neben den Kopierer und schaltete meinen Laptop an. Mit einem leisen, fast unmerklichen Rauschen fuhr er hoch und ich beschloss, um die schmerzhafte Aufgabe hinauszuschieben, noch einen Blick in meine Emails zu machen. Zwei Mails von A.D. Skinner mit Angaben zu meinem letzten Bericht- er schien in letzter Zeit auch häufiger am Wochenende seine Arbeit zu tun- und eines von Mulder, mit einem Link der mich auf die Seite eines Berichtes über erblindete Kühe führte. Mulder.

Eine weitere Berufung dieses Mannes wäre meiner jahrelangen Meinung nach die Aufstöberung und Archivierung der seltsamsten Links, die es im Netz zu bieten gab und die Gründung einer Datenbank, in der die Daten dieser Links gespeichert werden würden, bevor die Domains wieder aufgelöst und die Informationen verschluckt wurden. Frohike hatte sich diese Aufgabe zum Hobby gemacht und war dabei, meiner Meinung nach beinahe genauso erfolgreich, wie ich mir Mulder in seiner Position ausmalte.

Ich dachte an Mulders Aquarium und unser gestriges Treffen.

Um 3 Uhr nachmittags, nachdem ich eben von einem meiner allmonatlichen Samstagsbesuche bei meiner Mutter zurückgekommen war und gerade versuchte möglichst viele Kleidungstücke in die runde Öffnung meiner Waschtrommel zu stopfen läutete das Telefon und Mulder meldete sich.

Schon nach dem Zuschlagen meiner Autotüre hatte das Gefühl erleichternden Abgelenktheit zu bröckeln begonnen und das in den letzten Tagen so vertraut gewordene Ziehen in meinen Gliedern hatte sich mit jedem Kilometer, den der blaue Kombi zurücklegte verstärkt.

„Hey Scully, wie geht’s dir?“ hörte ich Mulders Stimme in heiterem Tonfall.

„Oh vielen Dank, ganz gut soweit. Bin gerade nach Hause gekommen. Und dir?“

„Bestens, danke. Du bist also eben erst nach Hause gekommen ha? Ich wollte dich nämlich darum bitten ob du für eine Stunde zu mir kommen könntest, es geht um mein Aquarium.“

„Dein Aquarium? Ich bin gleich da.“ Ich wollte gar nicht wissen warum mich Mulder aufgrund seiner kleinen Goldfischzucht in seine Wohnung bat, doch loyal und treu wie immer, schlüpfte ich in meine schwarzen Turnschuhe und verließ meine Wohnung zum zweiten Mal an diesem Tag.

Bei seiner Wohnung angekommen, öffnete er mir in samstäglichen Jeans und einem grauen T-Shirt und ließ mich ein. Sein Haar wirkte zerzaust und seine Züge zerknautscht, was die Nachwirkung vorabendlich konsumierten Alkohols verdächtig machte.

„Hey, vielen Dank dass du gekommen bist. Ich hab dich gestern Abend noch angerufen, doch leider nicht erreicht. Adrian und ich haben schließlich zu zweit bis drei Uhr früh geplaudert. Und nun habe ich ein etwas peinliches Problem mit diesem Riesengerät, dass du hier siehst.“ Ich folgte Mulders Zeigefinger und landete auch sogleich bei dem von ihm eben erwähnten Objekt, einer großen, gläsernen Wanne.

„Tut mir leid wegen gestern Mulder, ich war mit einer Freundin essen“ log ich während ich mich dem Monsteraquarium zuwandte und es von allen Seiten begutachtete.

„Ich habe mir dieses Teil bestellt, da ich nicht umhin konnte meiner Sammelsucht freien Lauf zu lassen und mir eine etwas größere Gruppe Buntbarsche zu kaufen. Ich weiß, ich weiß, in nächster Zeit werde ich einen großen Bogen um Eleonore´s Zoofachhandel machen.. aber ich konnte nicht anders. Jedenfalls hat mir Eleonore empfohlen mir anhand meiner eigentlich schon davor ziemlich großen Anzahl von Fischen ein größeres Aquarium zuzulegen, da sich die armen Tiere sonst gewaltig auf den Wecker fallen.“

Er lächelte unschuldig und ich konnte mir eine amüsierte Augenbraue nicht verkneifen. Mulder war ohne Zweifel ein Mensch mit, sagen wir, etwas individuellen Hobbys. Ich wusste das und er wusste das. Und ich fand es immer wieder erfrischend, wie entspannt er sich mit seiner Andersartigkeit arrangierte, während ich, inmitten der Golfspielenden, Reitenden, am Wochenende nach Cape Cod fliegenden FBI Norm manchmal etwas Fehl am Platz fühlte. Aber wir waren beide anders. Ansonsten hätte ich die X Akten längst hinter mir gelassen.

„Es wurde gestern hier angeliefert und ich dachte eigentlich dass es kein Problem wäre, es einfach auf das Regal zu heben und gegen das andere zu ersetzen- doch peinlicherweise ist mir eben vorhin bewusst geworden, dass ich es nicht alleine heben kann…“ Seinen Worten folgte ein weiteres Lächeln und ich konnte mich der schmerzhaften Wärme in meinem Inneren nicht entziehen. Adrian ist bald wieder in New York, dachte ich bei mir während ich gemeinsam mit Mulder, dass noch halb mit Wasser gefüllte Aquarium vom Regal hob. Mulder hatte bereits einige seiner Fische in Plastiksäcken verstaut, welche nun auf dem Sofa sowie Mulders Küchentisch platziert, der Szene etwas beinahe Absurdes verliehen. Wir machten uns gemeinsam an den Transport des zweiten Aquariums und hatten es auch bald erfolgreich gegen das vorige Modell ausgetauscht.

Mulder begutachtete unsere Arbeit sichtlich zufrieden.

„Vielen Dank Scully. Tut mir echt leid dass ich dich deswegen von deinen Freizeitbeschäftigungen abhalte.“

„Ach was“ Ich lächelte verlegen. „Ich wollte nur Joggen gehen. Du darfst mir dafür die neuesten Diättechniken zukommen lassen, damit ich meine nicht verbrannten Kalorien loswerde.“

„Du und Diät“ scherzte Mulder und tippte mit seinem Zeigefinger in meinen Bauch, was mich noch verlegener machte. Ich würde seine freundschaftlichen Berührungen niemals wirklich gewohnt ansehen.

„Wir müssen die Fische umsiedeln.“ bemerkte ich um mir meine seltsame Stimmung nicht anmerken zu lassen. Eigentlich war alles wie immer. Es fühlte sich alles wie immer an, doch die Aufruhr die Adrian Clarks Erscheinen in mir ausgelöst hatte, schien sich auf jeden Augenblick zu übertragen und ich konnte meine innere Ruhe einfach nicht wieder finden.

Ich ließ Wasser in das neue Aquarium und begann die eingepackten Fische aus ihrem Plastikgefängnis zu befreien, während Mulder das alte Aquarium leerte und reinigte. Das ganze Unterfangen machte mir einen Heidenspaß und ich fragte mich insgeheim ob mein Spott Mulders Aquarium betreffend nun zur Strafe eine Fischliebhaberin aus mir gemacht hatte. Doch im Grunde waren es nicht die Fische. Es war Mulder und seine ungewöhnlich heitere Stimmung, die wahrscheinlich auf den Restalkohol zurückzuführen war, der offensichtlich noch in seiner Blutbahn kreiste.

Und ohne es mir wirklich eingestehen zu wollen, erleichterte auch noch etwas anderes meine langsam einsetzende Entspannung. Adrian hatte sein Wort gehalten und Mulder offensichtlich nichts von den Ereignissen in New York erzählt. Oder hatte er es doch und Mulder hatte beschlossen dieses Wissen ebenfalls für sich zu behalten. Vielleicht empfand er es als belustigend oder schlichtweg interessant persönliche Details dieser Art über mich zu erfahren. Ich konnte ihn diesbezüglich einfach nicht einschätzen.

Wahrscheinlich war es nur Wunschdenken meinerseits dass es ihn berühren würde. Wahrscheinlich wusste er längst alles was zwischen mir und seinem Freund vorgefallen war. Ich stoppte meine Gedanken und ließ sie nicht mehr frei in mir wüten.

Als wir die gemeinsame Arbeit beendet hatten wusch ich mir die Hände in Mulders Küche und er trat neben mich, während wir uns über eines unserer Lieblingsthemen- Skinner- unterhielten.

Als ich nach dem Handtuch griff um mich abzutrocknen, unterbrach er seinen Satz plötzlich und sagte: „Vielen Dank Scully“. Er legte seine Hand auf meine und ich zog sie blitzschnell unter seiner Berührung zurück, während mir das Handtuch aus den Fingern glitt und am Boden landete. Peinlich berührt blickten wir uns eine Sekunde lang verwirrt in die Augen. Dann beugte ich mich nach dem Handtuch und murmelte ein „Gern geschehen, jederzeit“ in mich hinein, während ich im Kopf den schnellsten Weg in Richtung Türe vorzeichnete.

Als ich mich nach einer hastigen Verabschiedung auf dem Gang Richtung draußen befand, ließ ich die ganze Situation noch einmal Revue passieren und verstand mich selber nicht. Warum hatte ich reflexartig abweisend auf Mulders Berührung reagiert? Immer noch spürte ich seinen Blick in meinen Augen in dem ich einwandfrei hatte lesen können. Ein großes Fragezeichen hatte dort geprangt und meine plötzliche Reaktion nicht verstehen können. Ich verstand es ja selbst nicht. Doch ich musste gehen.



Immer noch verfangen in diesen Gedanken bemerkte ich, dass ich nun seit wohl schon 15 Minuten in meinen Laptop starrte ohne etwas Sinnvolles zu tun. Ich beschloss mich der unangenehmen Aufgabe des Scannens zu widmen und stand auf, im Begriff das braune Fotoalbum aufzuschlagen, als ich ein leises Klopfen an der Tür vernahm.

„Ja?“ Wer konnte das sein? Sicherlich nicht Mulder, für den Klopfen an seiner eigenen Bürotür schlicht undenkbar gewesen wäre.

Die Türe öffnete sich langsam und ich spürte wie eine Welle von Adrenalin durch meinen Körper stieß. Es war Adrian.

Er stand da, in schwarzem Hemd und schwarzen Jeans, mit einem undeutbar verschlossenen Gesicht und sah mich an.

„Darf ich eintreten?“ Er schloss die Türe hinter sich ohne meine Einladung abzuwarten.

„Was machst du denn hier.. um diese Zeit?“ fragte ich mit steigender Herzfrequenz.

„Ich hatte noch etwas zu erledigen. Und ich hab dich vom Fenster aus am Parkplatz gesehen. Da dachte ich, ich komme.. hier mal runter. Hab euer Büro noch gar nicht begutachtet.“

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, während meine zitternden Finger das Album fest umklammerten. Intuitiv spürte ich eine unglaublich intensive Spannung die den Raum erfüllte und wusste nicht wie ich damit auch nur annähernd erwachsen umgehen sollte. Es war dasselbe Gefühl dass mich an jenem Januartag ergriffen und zusammensinken hatte lassen und das es Adrian ermöglicht hatte, meine vollkommen hilflosen Reste körperlicher Menschlichkeit zu sich auf die Couch zu ziehen. Ich fühlte mich wehrlos und machtlos zugleich und ich wusste warum er gekommen war.

In diesem Augenblick fixierte er meine Pupillen mit den seinen und kam auf mich zu.

„Wie ist die Arbeit mit Mulder? Fühlst du dich wohl?“ Er blieb nur einen Schritt vor mir stehen und wartete auf eine Antwort die nicht kam.

„Warum sagst du nichts?“ Weil ich nicht kann, wollte ich antworten. Doch ich wusste dass keine Stimme da war.

„Er legte seine Hand auf meine Finger und entwendete mir sanft das Buch bevor er meinen Körper umarmte. Ich spürte seine Hände die unbeherrscht über meinen Rücken fuhren und seinen heißen Atem an meiner Kehle. Wie versteinert und außerhalb der Szene ließ ich ihn gewähren. Er küsste meinen Hals, meine Wangen, meine Lippen und seine linke Hand glitt nach vorne auf die weiche Erhebung meiner Brust. Da gaben meine Beine nach, doch er hielt mich mit seiner Rechten und drückte meinen Körper nach hinten auf den Tisch um seine Beine zwischen meine zu schieben und mir noch näher zu sein. Ich küsste ihn, schmeckte die ferne Erinnerung mit meiner Zunge und spürte wie Tränen aus meinen Augen quollen. Das war alles zuviel, ich wollte es nicht, ich konnte es nicht. Es ging nicht. Mit aller Kraft, die meinem Körper zueigen war, schob ich ihn von mir und versuchte seine Gliedmaßen von meinen zu trennen.

„Bitte nicht, ich kann nicht. Ich kann das nicht.“ Schluchzte ich und versuchte verzweifelt seine Hände mit den meinen zu fassen zu bekommen.

„Ich will dich unbedingt, bitte mach das nicht.“ Schnaufte er und versuchte mich erneut zu umarmen. Doch da hatte ich seine zweite Hand in meiner und schob ihn endgültig von mir fort, während meine weichen Knie nun endgültig nicht mehr tragen konnten und wir beide wie zwei Marionetten einknickten.

„Ich kann nicht Adrian. Bitte lass mich.“ Ein unglaublicher Schmerz hatte sich in mir gelöst und ich konnte meinen Tränenfluss einfach nicht unter Kontrolle bringen. Ich drückte seine Hände ein letztes Mal und sah ihm mit letzter Willenskraft fest in die Augen.

„Ich liebe jemand anderen.“ Meine Worte waren ein Flüstern, doch sie taten ihre Wirkung. Er erhob sich taumelnd, machte einen Schritt von mir weg und sah mich kopfschüttelnd an.

„Oh Gott, ich bin so ein Idiot“ sagte er.

Ich sah ihn an, bemüht mich ebenfalls wieder hochzuziehen und meine Fassung wiederzuerlangen.

„Nein, dass bist du nicht. Es tut mir leid..“ Ich schaffte es nicht mehr als das zu sagen, sosehr ich auch wünschte ihm eine Erklärung für meine Abweisung nennen zu können.

„Nein, mir tut es leid.. Dana. Mir tut es wirklich leid…“ Er drehte sich um, riss am Türknauf und hatte die Türe hinter sich zugeschlagen, bevor ich einen weiteren Atemzug tun konnte. Völlig fertig, mit weichen Knien und rasendem Herzen ließ ich mich auf meinen Lederstuhl fallen und saß dort lange Zeit ohne mich wirklich zu beruhigen. Irgendwann packte ich das Album wieder in die violette Tragetasche und beschloss Mutter ein weiteres Mal zu vertrösten. Ich hatte keine Wahl. Zu schwer lagen mir die eben durchlebten Emotionen in den Knochen und ich fühlte mich hilflos und leer, wie eine wertlose Hülle.

Es war schön gewesen von ihm berührt zu werden. Ich hatte es ebenso genossen wie damals in New York- und doch löste seine Annäherung Panik und Unwillen in mir aus. Ich konnte es einfach nicht passieren lassen. Nicht hier, nicht mehr.

Ich liebe jemand anderen. Meine eigenen Worte brannten wie Salz auf meiner Zunge.
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