World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Whisky

von therees

Kapitel 1

Immer wieder fanden wir zurück an den kleinen rechteckigen Tisch meines Wohnzimmers auf die alte Couch, die nun schon viel zu lange dort stand und hinein in das Zeremoniell unserer Freitagabende, mit denen wir die Arbeitswochen beschlossen und ein weiteres einsames Wochenende einleiteten.

Nie sahen wir uns an den Samstagen und Sonntagen. Zulange waren sie unser Eigentum gewesen und hafteten nun unabänderlich an uns, noch nicht bereit, eine neue Form anzunehmen.

Wie lange hatte ich jeden Abend meinen Mantel allein an den Kleiderständer neben meiner Tür gehängt und war in das gelbliche Licht der eben erleuchteten Wohnung getreten. Immer war es dasselbe gewesen. Ein nie enden wollender Fluss von Mantel ausziehen, Licht in der Küche anmachen, Radio anschalten, die mitgebrachten Kochutensilien vor mir ausbreiten, Kochen und Essen. Oft war ich über meinen Bissen gesessen, hatte sie sorgfältig in meinen Mund geschoben und dabei an einer Erinnerung gekaut, die verblich und sich langsam auflöste.

In dieser saß ich an einem Tisch mit meiner Schwester und einem guten Freund aus Studientagen und wir lachten aus irgendeinem Grund. Ich sah meine Schwester, wie ihr rotes Haar ihr in die Stirn hing als sie, von diesem Lachen geschüttelt vornüber gebeugt über der Tischplatte baumelte. Ich empfand in meiner Erinnerung

eine solche Freude an dieser ihrer Belustigung, dass alleine das mich zu unhaltsamen Gekicher anregte.

Wie oft hatte ich mir diese Erinnerung angetan, an einem Stückchen Fleisch oder Gemüse nagend, ohne mir dem körperlichen Schmerz wirklich bewusst zu werden, den dieser vergangene Tag in mir auslöste. Lange nach ihrem Tod hatte ich mich gefühlt wie ein verschollenes Neugeborenes, das eigentlich gar nicht

hätte zur Welt kommen sollen. Ich habe damals nicht gewagt mir Fragen zu stellen, aber in meinen Träumen und diesen stundenlangen mich auszehrenden Aktivitäten der Erinnerung hat sich ihr Tod in meinem Leben bemerkbar gemacht.

Ich habe mir auch keine Fragen darüber gestellt, warum ich alleine lebte und was aus meiner Fähigkeit zu lieben geworden war. Tagsüber versuchte ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu lenken und jede der mir gestellten Aufgaben und Fragen durchzuexerzieren und analytisch in seine Einzelteile

zu zerlegen.

Ich war von Grund auf ein Mensch, der die Methoden der Wissenschaft anwandte, wann immer es ging. Diese Eigenschaft hatte ich mir in meinen jungen Jahren angeeignet, als verschiedene Personen versuchten, mir ihre religiöse Gesinnung aufzubürden oder mich in Meinungen hineinzuzerren, von denen ich nichts wissen wollte. Damals hat mein scharfer Verstand mich gerettet und ich bin ihm treu geblieben. Etwas das

funktioniert wiederholt man. Und so begann ich ihm einen größer und größer werdenden Raum in meinem Charakter einzuräumen und meine Fähigkeit analytisch

und kühl zu urteilen wurde zu einer meiner größten Stärken.

Irgendwann habe ich nur den Fehler gemacht dieser Gabe zuviel Platz in meinem Kopf einzuräumen. Ich kühlte innerlich ab. Die peinharte Konkurrenz innerhalb des FBI machte es mir immer schwerer Gefühle zu zeigen und so schob ich sie bald von mir, als „unbrauchbar“, „nicht zweckmäßig“ und „bestimmt für andere Bereiche“.

Nur verlor ich diese „anderen Bereiche“ mehr und mehr aus den Augen. Als ich Mulder zugeteilt wurde war ich eine abgehärtete, in gewissem Sinne stählerne Agentin.

Ich hatte mir viel anhören müssen während der Ausbildungszeit, den Anforderungen standhalten müssen und all das hatte seine Spuren hinterlassen.

Dennoch war ich damals ein Kind. Die Erfahrungen an Mulders Seite haben etwas in mir verändert. All diese Dinge die ich sehen musste... bis heute frage ich mich

ob ich sie damals unbedingt sehen wollte oder ob mir das Leben keine Wahl gelassen hatte. Jemand musste sich schließlich mit der Dunkelheit befassen, in die

ich- ohne eine klare Vorahnung davon zu haben- plötzlich hineingriff.



Als Melissa starb ging auch ein Teil von mir in eine andere Welt über. Die schwarzen Schatten auf meiner Seele waren davor nur wie schwarze Schatten auf der

Lunge eines Rauchers gewesen. Sie waren existent, doch verspürte ich sie kaum jemals.

An dem Tag, an dem mich Mulder im Spital in den Arm nahm und ich nicht fähig war, die ungeweinten Tränen in meinen Augen in den hellblauen Stoff seines Hemdes zu weinen, an jenem Tag verdichteten sich jene Schatten und verschlungen endgültig die warmen Gefühle in mir, die ich so gerne jemandem gegeben hätte. Stattdessen verlor ich sie einfach. Ich muss seltsam gewirkt haben. Physikalisch gesehen stand ich vor den Menschen, sprach in sie hinein und berührte ihre Kleidung, wenn sie im Supermarkt vor mir in einer viel zu engen Schlange standen, aber so klischeehaft es auch klingen mag: in mir drinnen war ich ein Geist. Ein haltloses Wesen ohne wirkliche Präsenz in der Welt, verloren in sich selbst, aber auch vergehend in sich selbst. Zumindest fühlte ich mich so. Mulder war der einzige der mich wahrzunehmen schien. Wenn ich ihm abends den Rücken kehrte dann schrie etwas in mir: „Dreh dich um, lass dich in den Arm nehmen und ganz fest halten!“ Aber ich hab es nie gekonnt. Ich habe die Türe hinter mir geschlossen und das Gefühl wie eine lästige Fliege von mir gewischt. Vielleicht wusste ich nicht einmal klar von diesem Wunsch in jenen Tagen, erst heute stehen mir die Szenerien klar vor Augen und ich fühle aus der Entfernung die Sehnsucht.

So wie man erst das ganze Bild sieht, wenn man einen Schritt zurück tritt. Auch Mulder schien in einem Zustand meinem ähnlich zu verweilen. Auch er hatte Verluste erlitten und vergrub sich in der Einsamkeit. Jedoch nicht die Traurigkeit war seine Art zu überleben.

Es war Zorn, der ihn an die Verlorenen band, ein Loslassen verweigerte er mit bitterem Trotz. Er konnte seine kleine Schwester nicht gehen lassen und trotz all meiner eigenen Trauer machte ich mir damals große Sorgen um ihn. Ich wusste, dass er auf diese Weise niemals seinen Frieden finden würde, doch er musste wohl diesen Weg gehen und konnte nicht wählen, wie so viele von uns.



Nachdem die vielen Schritte meiner Geisterzeit sich zu Wochen gesammelt und schließlich zu Monaten geworden waren, erwachte ich allmählich aus meinem

versteinerten Ich. Ein Freund meiner Mutter, ein praktizierender Psychotherapeut, machte mich auf einer Familienfeier auf meinen Zustand aufmerksam und sprach mich behutsam an.

Er setzte sich mit mir in den Garten und teilte mir mit, welchen Eindruck ich bei ihm zurückgelassen hatte und das er das dringende Gefühl habe, es wäre eine gute Sache wenn ich mich einmal mit ihm treffen würde.

Er war sehr schlau, denn meine Mutter hatte ihn natürlich vorgewarnt, dass ich niemals an einer Therapie teilnehmen würde. Darum schlug er mir einfach vor, sich mit mir in einem Kaffee zu verabreden und ich willigte ein. Vom ersten Mal an, traf ich mich wöchentlich mit ihm und langsam fand ich meine zweite Hälfte, die verlorene Welt in meinem Innern wieder und lernte sie zu nutzen.

In dieser Zeit wurden mir meine Gefühle für Mulder bewusst.

Ich ging ins Büro und abends alleine nach Hause wie üblich, doch die abendlichen Stunden der Lähmung wandelten sich und ich begann mich emsig zu betätigen. Ich verrichtete die Hausarbeit bewusst, las wieder viel und das Bild meiner lachenden Schwester fand endlich seinen Frieden an seinem angestammten Platz in der Versenkung meines Unterbewusstseins, während sich lebendige Bilder in mir breit machten und ein nie gekanntes Gefühl der Erregung mich ergriff. Ich spürte plötzlich das unbändige Verlangen nach Zärtlichkeit und ich war so ergriffen davon, dass es einige Wochen dauerte, bis ich es klar realisieren und endlich annehmen konnte.

Zuerst erschien es mir wie ein unwillkommener Fremdkörper, der sich in meine Welt hineinbohrte und ich wollte es mit allen Mitteln von mir drängen. Aber dann gewöhnte ich mich daran. Ich hatte so viele Tage neben Mulder gearbeitet und er war stets der einzige Mensch gewesen, zu dem ich noch Vertrauen gehegt hatte. Er war die starke Kette am Ufer des Lebens gewesen, die mich davor bewahrt hatte abzudriften und in diesem Frühling, der sich in meinem Innern ergoss wie warme Sahne, erwachte auch er zu

neuem Leben. Veränderung prägten seine so müde gewordenen Züge und eine nicht identifizierbare Kraft ging von seinem Körper aus und verlieh ihm eine sonderbare Jungenhaftigkeit. Vielleicht waren es die aufbrechenden Eisschalen in mir die dies bewirkten, vielleicht waren es nur die wärmer werdenden Tage, auf jeden Fall fragte er mich eines Abends, nachdem ich bei ihm vorbeigeschaut hatte um zu arbeiten, ob ich nicht bleiben könne, denn bald würde „Planet der Affen“ beginnen und das könnten wir uns doch gemeinsam ansehen.

Im ersten Augenblick verspürte ich einen Unwillen in mir und wollte ablehnen, doch dann blieb ich doch auf seine Couch gefesselt und seine wärmende Gegenwart

erfüllte mich mit lang vergessener Freude.

So hat es damals angefangen. Mulder gab Kommentare von sich, ließ mich lächeln und hin und wieder sogar lachen und ich saugte seine Anwesenheit in mich auf wie ein hungriger Baum das Wasser, weil ich sie dringend für meine Heilung benötigte.

Von diesem Abend an fragte er mich wöchentlich donnerstags und keinen Tag früher nach einem freitäglichen Treffen und ich willigte jedes Mal ein. Wir sprachen nie über persönliche Dinge, sondern nutzten diese Augenblicke als Auszeit, fern von den traurigen schwarzen Umständen unter denen wir uns kennen gelernt hatten und täglich arbeiteten.

Mulder war immer sehr höflich und bemühte sich sichtlich mich mit Respekt zu behandeln. Auf einer bestimmten Ebene kannten wir uns damals schon beinahe zu gut, doch es gab Bereiche die wir voneinander fern gehalten hatten ohne auch nur ein Staubkorn davon jemals Preis zu geben.

Mulder kannte mich als die Frau die ich war. Stolz und stets auf Moral bedacht, etwas unnahbar mit einem Hang zum Rationalen und einer schnellen und sensiblen Art an Dinge heranzugehen. Ich wusste, wenn sich unsere Blicke trafen, dass er diejenige sah, die ich geworden war... doch diejenige die ich von mir geschoben hatte, den Teil in mir der liebte und verzweifelt auf diese Welt vertrauen wollte, den hatte ich lange niemandem mehr zeigen können.

Deshalb lernten wir uns an jenen Abenden neu kennen auch wenn wir uns nichts Privates anvertrauten.

Ich fand einen ruhigen, verspielten Charakter unter den kernigen, verdorrten Schalen seiner vom Leben geschüttelten Persönlichkeit und zugleich fand ich eine neue Art von Frieden in seinen Reaktionen auf mein Wesen wieder. Wir heilten uns gegenseitig und ich konnte fühlen, wie sich die Trägheit in mir in eine fragile Zärtlichkeit

transformierte, wann immer wir nebeneinander saßen, miteinander scherzten und Bier tranken. Irgendwann beschlossen wir uns Freitag Abend bei mir zu treffen und es war so nett, dass wir meine Wohnung als Treffpunkt beibehielten und uns fortan auf meiner Couch die Zeit vertrieben.

Auch wenn ich noch immer sechs Abende die Woche alleine in meine Wohnung heimkehrte, so gab es doch einen, an dem mir Gesellschaft gewiss war und diese Regelmäßigkeit tat mir ebenfalls gut. Zu der Zeit als wir begannen unsere Freitagabende zu einem gemeinsamen Gut zu machen, waren wir über mehrere Monate hinweg kein einziges Mal auf Außendienst. Ich hatte Skinner nach meiner schweren Krankheit darum gebeten, mich doch einmal eine Weile in DC aufhalten zu können und er hatte zugestimmt. Mulder hatte auch nichts dagegen, den es gab viel zu tun und wir hatten eine Menge zu archivieren und Bürokram über Bürokram zu verrichten.



Auch jener Tag, an den ich mich ewig erinnern werde, war ein Freitag. Ich warf einen Blick durch das Glas meines Fensters nach draußen und wandte mich dann zu der roten Wanduhr hinter mir, um mir ein Bild davon zu machen, wie viel Zeit mir noch bis zur nächsten vollen Stunde verblieb. Mein Kopf war voller Gedanken und ich schaffte es nicht jene ruhig zu stellen, obwohl ich mich sehr gerne ein wenig entspannt und ausgeruht hätte bevor Mulder eintraf. Nach der Arbeit hatte ich mich schon etwas früher als sonst auf den Weg gemacht um noch etwas einkaufen zu gehen und das Grab meiner Schwester zu besuchen. Anschließend war ich hierher in meine Wohnung gefahren und hatte saubergemacht so gut ich konnte. Während ich den Rüssel des Staubsaugers unter meiner Couch wüten ließ, erinnerte ich mich an das letzte Wochenende und die Vorstellung in meinem Inneren ließ mich lächeln.

Bevor ich ein Abendessen vorbereiten würde, wollte ich noch einmal unter die Dusche steigen. Die stickige Luft des J. Edgar Hoover Gebäudes hatte mir zugesetzt und das dringende Bedürfnis nach heißem Wasser auf meiner Haut trieb mich ins Bad. Szenen des verflossenen Tages spülte ich in den Abguss und erleichternde Ruhe durchströmte mich. Wann hatten wir damit angefangen uns so eigenartig zu berühren und wann hatte sich in meinem Kopf ein immerwiederkehrendes Mantra dieser Szenen eingebrannt?



Eines Abends, es musste nun anderthalb Monate her sein, hatten wir beide einen dieser ganz speziellen Arbeitstage durchstanden, an denen einfach alles schief läuft und die Arbeit einen sämtliche Nervenbahnen durchzusägen droht. Als die anstrengenden Stunden endlich vorbei waren näherte sich der Abend mit seiner Stille, die mir an diesem Tag besonders anziehend erschien und ich dachte gar nicht an das Datum und das bevorstehende Wochenende. Mulder hatte nach der Arbeit allein das Bureau verlassen und keine Erwähnung von einem späteren Treffen gemacht und so war es auch mir in meiner Erschöpfung entfallen. Deshalb beschloss ich, endlich heimgekommen, es mir alleine auf der Couch bequem zu machen und noch ein wenig fernzusehen. Doch der obligate Anruf blieb wider meiner Erwartungen auch an diesem Abend nicht aus und so war ich bald in Gesellschaft. Obwohl ich mich vor Müdigkeit benommen fühlte, war ich froh über seine Gegenwart neben mir und verspürte ein zärtliches Gefühl der Sehnsucht- das mir so verhasste, doch mittlerweile wohlbekannte Gefühl, dass ich stets beschämt von mir schob sobald es auftauchte. Doch an diesem Abend empfing ich es zum ersten Mal gelassen und es machte mir keine Angst. Ich war dem Mann an meiner Seite innerlich so nah, dass ich mich ihm auch räumlich nähern musste und während wir uns noch einmal ausführlich über die Vorfälle des verbrauchten Tages unterhielten, durchbrach ich bewusst oder unbewusst den Sicherheitsabstand zwischen uns, auf den ich sonst immer so peinlich genau geachtet hatte.

Ich erinnere mich dass wir an jenem Abend irgendeinen äußerst langweiligen Thriller aus zweiter Hand verfolgten und dass die wenigen Schlucke Alkohol auf meiner Zunge meine Augen schwer machten, sodass ich den Bildern nicht mehr ganz zu folgen vermochte. Als ich Mulders leisen gleichmäßigen Atem vernahm erwachte ich ein wenig aus meiner Benommenheit und sah ihn an. Er schlief wie ein Baby mit sanft geschlossenen Lippen und seine dunklen Lider hatten sich schützend über die braunen Augen gelegt. Aus irgendeinem Grund rührte mich dieser Anblick ungemein und ich starrte gebannt auf das sich mir bietende Bild des Friedens. Sollte ich aufstehen und ihn in Ruhe hier schlafen lassen, fragte ich mich benommen von meiner eigenen Müdigkeit. Doch dann blieb ich doch neben ihm und versuchte dem Treiben auf dem Bildschirm etwas abzugewinnen. Die Wärme seines Körpers erfüllte meine Haut, obgleich er mich nicht einmal berührte und ehe ich noch eine weitere Szene des Films zu Ende gesehen hatte, entschlief auch ich.

Als sich meine Lider hoben sah ich nur das Flimmern des Fernsehers vor mir bevor mir bewusst wurde, dass ich eingeschlafen war. Die zwei Männer auf dem Bildschirm- einer Mitte dreißig mit Sonnenbrille und ein zweiter etwas jüngerer Kerl in Polizei- Montur sprachen gerade mit einer jungen Frau in einem von Menschen wimmelnden Revier. Mein Kopf ruhte auf einem warmen Kissen, dass ich im nächsten Augenblick identifiziert hatte- Mulders Oberschenkel. Erschrocken und noch immer halb in einer anderen Welt erhob ich mich und blickte schlaftrunken durch den Raum. Die Kälte des Wohnzimmers erfasste meinen Kopf, nun, nachdem ich die körperliche Wärme verlassen hatte und mich fröstelte. Mulder, noch immer auf seinem Platz sitzend sah mich lächelnd an.



„Hey. Bin vor einer Stunde aufgewacht und da hast du schon geschlafen“.
Rezensionen