World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Lost and found

von Viola Anna Wittek

Kapitel 1

Special Agent Fox Mulders Apartment

Washington D.C.

21. Dezember



Noch ein letztes Mal blickte sie sich in seiner Wohnung um, bevor sie all dem den Rücken kehrte.



Das Aquarium war leer. Seine Fische hatten in dem Aquarium ihrer Mutter ein neues Zuhause gefunden. Das Wasser hatte sie schon vor Tagen ausgepumpt. In der letzten Zeit hatte sie sich langsam durch seine Dinge gearbeitet. Sie hatte seinen Schreibtisch ausgeräumt, Akten und Dokumente dem FBI zurückgegeben, die er noch Zuhause hatte liegen lassen. Alles andere hatte sie entweder selbst behalten oder sie schweren Herzens weggeworfen.



Wenn sie ihre Augen schloss, wirkte seine Wohnung erneut lebendig. Das Licht im Aquarium leuchtete in einem hellen Blauton und es roch nach Popcorn, das er sich nicht selten zum Abendessen in der Mikrowelle aufgewärmt hatte. Überall lagen seine Papiere und Akten. Sein Schreibtisch, die Schränke, die Regale und sogar der Boden war damit übersäht. Sie sah Mulder und sich selbst auf der schwarzen Ledercouch sitzen, jeder mit seinem Bier in der Hand, einander amüsiert zulächelnd.



Als sie die Augen wieder öffnete, waren die Zimmer wieder leer und dunkel. Erst wenige Wochen war es her, dass sie hier gesessen waren, nachdem Mulder aus England zurückgekommen war und sie sich darüber unterhalten hatten, wie schnell sich das Leben doch verändern konnte. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr die größte Veränderung unmittelbar bevorstand.



Eine letzte Träne rann über ihre Wange und sie wischte sie flüchtig von ihrem Gesicht. Seit seiner Beerdigung waren ihr die Tränen regelrecht ausgegangen. Selbst wenn sie weinen wollte, konnte sie es nicht. Sie war zu traurig und versunken in ihre Erinnerungen, um zum Weinen fähig zu sein.



Ein letzter Blick durch die Wohnung und dann fasste sie mit Mühe allen Mut zusammen. Sie nahm die letzte Kiste mit Dingen, die ihr zu Füßen stand in ihre Arme und schloss die Tür hinter sich. Sie brauchte die Tür nicht abschließen, denn der junge Hausverwalter hatte bereits beide Schlüssel zurückbekommen; seinen und ihren Ersatzschlüssel.



Es tut mir leid, Miss Scully, hatte er vor wenigen Minuten zu ihr gesagt. Sie hatte sich zu einem müden Lächeln gezwungen und einem leidvollen Dankeschön. Nun war sie drauf und dran nicht nur seine Wohnung, sondern die Stadt zu verlassen, um ein neues Leben zu beginnen. Sie konnte nicht hier bleiben. Alles um sie herum würde sie an ihn erinnern; ihre Wohnung, ihre Arbeit, das FBI. Sie würde verrückt werden. Und so hatte sie beschlossen mit ihrem Baby ein neues Leben zu beginnen. Ihr Wunsch war es nicht Mulder aus ihrem Herzen zu streichen, als hätte es ihn niemals gegeben. Aber sie wollte den Schmerz seines Verlustes lindern, um ihn stattdessen in liebevoller Erinnerung wahren zu können.



~*~*~*~



Georgetown Memorial Hospital

16. November

Nahezu Drei Jahre Später...



„Wo bin ich?“, fragte er mit heiserer Stimme. Er räusperte sich, denn ihm fiel das Sprechen ungeheuer schwer. „Scu..? Scuhleeee?“ Seine Blicke klärten sich nur ganz langsam. Es war wie ineinander verlaufen. Die Farbkleckse vor seinen Augen liefen wieder und wieder immer neu ineinander ohne dabei jemals stehen zu bleiben. Das Licht blendete ihn und brannte in seinen Augen. Seine Hand tastete nach etwas und wurde schließlich von einer anderen gehalten.



„Agent Mulder, können Sie mich hören?“, vernahm er eine verzehrte Stimme. Obwohl sein Verstand noch nicht wirklich arbeitete, erkannte er dennoch, dass es nicht die seiner Partnerin war. Aber sie war ihm vertraut, doch es dauerte eine ganze Weile, bis er sie zuordnen konnte.



„Skinner?“, fragte er heiser.



„Ja, Agent Mulder, ich bin’s“, versicherte der Assistant Director, als Mulder langsam begann seine müden Augen erneut aufzuschlagen. Er räusperte sich wieder und begann dann zu husten. Er war unnatürlich blass und unter seinen Augen waren tiefe, blutrot unterlaufene Ringe. Skinner konnte sich nicht helfen, Mulder sah tatsächlich aus als wäre er von den Toten wieder auferstanden.



„Wo... ist... ist... Scully?“, fragte er im Rhythmus seiner Atemzüge, die nur stoßweise kamen. Er blickte hinauf zu seinem Boss, der plötzlich so verändert auf ihn wirkte. Sein weniges Haar besaß mehrere graue Stellen und sein Gesicht war älter.



„Schlafen Sie erst mal, Mulder.“



„Wo ist Scully?“, erkundigte er sich wieder. Er ließ sich nicht vertrösten. Skinner biss sich auf die Unterlippe und schwieg einen Moment. Trotz seiner noch immer ein wenig desorientierten Lage, konnte Mulder trotzdem abschätzen, dass Skinner reden würde.



„Scully ist weg, Mulder“, versuchte er ihm beizubringen.



„Wo?“



„Sie sollten…“



„Wo?“, beharrte Mulder mit rauer Stimme.



„Sie ist vor Jahren weggezogen und hat alle Kontakte nach Washington absichtlich abgebrochen“, erklärte er seinem Agenten mit Bedauern auf seinem Gesicht.



„Wie... so?“, brachte er irgendwie hervor.



„Wir haben alle geglaubt, dass Sie tot wären, Mulder“, seufzte Skinner. „Wir haben Ihren Leichnam beerdigt. Scully ist mit Ihrem Tod nicht fertig geworden. Sie hat beschlossen, dem FBI und ihrem alten Leben den Rücken zu kehren, um irgendwo ein neues zu beginnen.“



Mulder verstand die Worte, aber nicht wirklich dessen Bedeutung. Erschöpft schloss er die Augen und der Druck seiner Hand unter Skinners ließ nach. Er war eingeschlafen, es war zu anstrengend für ihn wach zu bleiben. Skinner allerdings vermutete zu Recht, dass er gar nicht wirklich verstanden hatte, worum es in ihrer Unterhaltung eigentlich gegangen war. Aber er war verwundert, überhaupt jemals wieder Leben in den Gesichtszügen seines Agenten sehen zu dürfen.



Keiner hätte das ahnen können. Lebhaft erinnerte er sich daran, seine Leiche gefunden zu haben. Am Straßenrand einer Bundesstraße, im Gebüsch. Er war weggeworfen worden wie Abfall, weil man ihn offenbar nicht mehr brauchte. Es war schrecklich gewesen mit ansehen zu müssen, wie Dana Scully weinend neben ihrem bereits toten Partner zusammengebrochen war.



Minutenlang war sie neben ihm gekniet und hatte geweint. Immer wieder hatte sie ihm Dinge zugeflüstert und auf ihn eingeredet, denn sie wollte nicht wahrhaben, dass ihm nicht mehr zu helfen gewesen war. Skinner erinnerte sich daran, wie sie ihm schließlich unter Tränen gestand, ihn zu lieben und ihn schon immer geliebt zu haben. Und ihn für immer tief in ihrem Herzen zu halten. Es war so traurig und gleichzeitig rührend gewesen, dass selbst er geweint hatte. Und Walter Skinner hatte in seinem Leben noch nicht oft geweint.



Es war mühselig gewesen, Scully zu erklären, dass Mulder tot war. Sie hatte es nicht einsehen wollen und hatte sogar darauf bestanden seine Leiche aufzuwärmen. Ihre Autorität als Ärztin hatte es ihr rechtlich erlaubt, sich dieser psychischen Quälerei auszusetzen. Als seine Leiche auf nahezu vierzig Grad aufgewärmt war, aber sein Herz dennoch nicht zu schlagen begann, hatte sie erneut begonnen zu weinen. Erst in diesem Moment war es offensichtlich in ihren blockierten Verstand vorgedrungen, dass man ihm nicht mehr helfen konnte. Dass er tot war.



Skinner hatte sie in seine Arme geschlossen, wo sie sich ausgeheult hatte. Er hatte Dana Scully noch niemals wirklich weinen gesehen. Als man ihn entführt hatte, war sie oft den Tränen oft nahe gewesen. Aber wirklich geweint hatte sie vor seinen Augen niemals.



Als sie beschlossen hatte, wegzugehen und ein neues Leben zu beginnen, hatte er sie nach allen Kräften unterstützt. Sie wollte nicht mehr mit dem FBI in Verbindung gebracht werden. Und vor allem hatte sie nicht gewollt, dass ihr möglicherweise jemand nachstellen könnte. Sie wollte weder von paranormalen Killern, noch von irgendwelchen mordlustigen Regierungsangestellten je gefunden werden. Sie hatte einfach alle Spuren zerstören wollen, als sie verschwand und Skinner hatte ihr dabei geholfen, dass es beim Bureau den Eindruck machte, als hätte sie niemals dort gearbeitet. Sicher, in bearbeiteten Akten befanden sich noch immer ihr Name und ihre Signatur unter ihren Berichten. Aber keinerlei persönliche Daten befanden sich in den Computern und ihre Personalakte war nur ein leerer Umschlag mit ihrem Namen darauf.



Sie hatte beschlossen wieder als Ärztin zu fungieren. Etwas zu tun, an dem sie Interesse zeigte, sie aber nicht allzu sehr an Mulder erinnerte. Wenige Monate nachdem sein Tod offiziell vom FBI bekannt gegeben wurde, hatte sie der Hauptstadt den Rücken gekehrt, um eine neue Dana Scully zu werden und ein Leben zu leben, dass so normal wie nur möglich war. Und vor allem, um ein normales und ruhiges Leben zu leben, mit einer genetischen Erinnerung an ihren Partner in ihren eigenen Leib, die nach wenigen Monaten ein neues, kleines Wesen sein würde.



Skinner seufzte. Himmel, Mulder war Vater geworden! Das Mädchen musste inzwischen sicher sechs oder sieben Jahre alt sein. Von Danas Mutter hatte er erfahren, dass es ein Mädchen war, bevor auch diese vor nun sicher zwei Jahren an einem Herzinfarkt verstorben war.



Er wusste nicht, wie er Kontakt mit Scully aufnehmen sollte. Ihre Mutter war tot und sonst hatte sie keine Bekannten oder Verwandten in der Gegend. Wo ihre Brüder lebten, wusste er nicht. Schließlich hatte Scully darauf bestanden, dass jegliche persönlichen Informationen aus ihrer Akte verschwanden. Es war unmöglich mit einem von ihnen in Verbindung zu treten, um ihren jetzigen Wohnort ausfindig machen zu können.



~*~*~*~



Abraham Licoln Rehabilitationsklinik

27. Mai



Es dauerte eine ganze Weile, bis Mulder wieder auf den Beinen war. Wer auch immer ihm das angetan hatte, hatte ihm übel zugesetzt. Er hatte Mühe damit nach über sieben Jahren wieder zu laufen. Seine Muskeln hatten sich zurückgebildet. Es war schwer für ihn, Dinge zu tun, die früher selbstverständlich gewesen waren. Jeder Schritt schmerzte ihm und bis jetzt war jegliche Bewegung mühsam.



Wenn etwas nicht klappte, wie er es wollte, dann begann er einfach zu weinen. Frustriert fragte er sich, wozu er all das eigentlich tat. Er fühlte sich sinnlos und überflüssig. Doggett kam hin und wieder vorbei, um ihn ein wenig aufzumuntern. Er war ein Agent, den er auch vor seinem Verschwinden jahrelang nicht gesehen hatte. Aber zu diesem Zeitpunkt waren er und Skinner die einzigen, die sich hin und wieder um Mulder kümmerten. Und das rechnete er beiden hoch an.



Wenn er zurückgezogen in seinem Zimmer der Klinik saß, in der man ihn versuchte körperlich wieder fit zu machen, damit er bald wieder seinem Beruf nachgehen konnte, dann dachte er an seine Partnerin. Nicht selten rannen Tränen über sein Gesicht. Sie hatte nichts zurückgelassen, nichts, an dem er sich festhalten konnte. Sie hatte eine gute Arbeit darin geleistet, ihre eigene Existenz auszuradieren. Nichts, aber auch gar nichts, das sie einst besessen hatte war noch da. Nur ihre Dienstmarke, die sie abgegeben hatte, bevor sie ging.



Skinner hatte sie ihm mitgebracht, als er ihn das erste Mal aufgesucht hatte. Ich dachte mir, das hier hätten Sie möglicherweise gern, hatte er gesagt, als er ihm ihre Dienstmarke in dem schwarzen Ledertäschchen übergeben hatte. Es war das einzige, das er noch von ihr hatte. Die Marke und die Narbe unterhalb seines Schlüsselbeins, wo sie ihn einst angeschossen hatte. Alles andere war seine Erinnerung. Es war als hätte sie nie existiert.



Oft starrte er stundenlang auf die Dienstmarke. Dann sah er ihre kühlen Augen, ihre rotbraunen Haare. Er wusste, dass nahezu acht Jahre seither vergangen waren. Und er fragte sich, ob sie noch genauso aussah. Ob ihre Haare noch immer rot waren. Oder hatte sie möglicherweise bereits graue Strähnen? Oder die Haare in einer anderen Farbe gefärbt? Hin und wieder begann er dabei auch zu weinen, wischte aber die Tränen von seinen Wangen. Er wusste, dass sie irgendwo dort draußen war. Irgendwo. Und er würde sie finden.



Das war das einzige, was ihn ehrgeizig machte. Sein Job und die Aliens waren ihm im Grunde völlig gleich. Die Regierung hätte in den Jahren seiner Abwesenheit unzählige neue Verschwörungen aushecken können und vermutlich auch getan. Aber auch das war ihm egal.



Er übte laufen und rennen, um wieder Agent werden zu können. Denn er wusste, dass, wenn er sich gehen ließ, er niemals die Chance bekäme Scully zu finden. Sein Hoffnung sie wiederzusehen und die Erinnerung an ihre Augen und ihr Lachen, waren die einzigen Dinge, die seinen Eifer und seinen Fleiß antrieben. Und die Ärzte waren überrascht, wie schnell sich der Agent fing und Imstande dazu sein würde, sein altes Leben wieder aufzunehmen.



Nur wurde ihm seine Tochter verschwiegen. Skinner, der eher Pessimist als Optimist war, bestand darauf. Er kannte Mulder inzwischen gut genug. Er würde nicht aufhören können daran zu denken. Und er glaubte nicht daran, dass Mulder seine Partnerin jemals finden würde. Dazu war dieses Land einfach zu groß und das obwohl er viel herumkam. Mulder würde sich selbst fertig machen. Und er musste diesen Schmerz nicht noch steigern, indem er ihm von seinem Mädchen erzählte. Und auch Doggett hatte Order, stillschweigen zu bewahren.



*~*~*~*~



Palm Springs, Florida

Genau ein Jahr später...



„Denkst du an Scully?“, fragte Doggett seinen Partner, der geistesabwesend im Wagen saß. Er ließ sich auf den Beifahrersitz sinken, schlug die Tür zu und beobachtete ihn dann aufmerksam. Mulder seufzte und blickte starr aus dem Fenster des Wagens. Er hielt seine Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger und rollte sie nachdenklich hin und her.



„Ich denke ständig an Scully“, sagte er leise und seinem Tonfall war deutlich zu entnehmen, dass er in Gedanken noch immer bei ihr war. Doggett senkte bedrückt seinen Blick auf die Akte in seinen Händen. „Jedes Mal wenn ich Washington verlasse, dann habe ich gar nichts anderes mehr im Kopf. Ich achte auf jede Frau, die an mir vorbeigeht.“



„Sobald eine rothaarige Frau an mir vorbeigeht, werde ich auch unweigerlich an Scully erinnert“, seufzte Doggett und Mulder schüttelte energisch den Kopf.



„Es ist sehr viel schlimmer als das“, gestand er. „Was wenn Sie sich die Haare gefärbt hat? Oder eine andere Frisur hat? Oder vielleicht trägt sie auch die Brille statt der Kontaktlinsen oder hat zwanzig oder dreißig Pfund zugenommen? In jeder Frau, die an mir vorbeigeht, suche ich nach Scully. Sobald ich meine Augen schließe oder blinzele, habe ich Angst, dass sie an mir vorbeigehen könnte, ohne dass ich sie bemerke.“



„Du hast alles getan, was du tun konntest, Fox“, versicherte Doggett ihm.



„Es will nur nicht in meinen Kopf rein, dass sich nicht mehr tun lässt, als das was ich getan habe“, sagte er und blickte seinen Partner an. „Ihre Schwester war schon tot bevor ich verschwand und Danas Mutter ist es nun auch. Der Trip nach Kalifornien war ein riesiger Reinfall. Ich hätte ja nicht wissen können, dass Bill Jr. bereits umgezogen ist und der Käufer seine neue Adresse nicht kennt! Und ich verfluche mich dafür, dass ich niemals wusste, wo ihr anderer Bruder lebt. Der wäre möglicherweise meine letzte Chance. Aber so?“



„Wir werden sie schon finden“, versicherte Doggett ihm und Mulder seufzte. Aber er lächelte über seinen gutgemeinten Aufmunterungsversuch. „Ich habe ihr damals versprochen, dass wir dich finden. Das Versprechen konnte ich nicht halten, obwohl wir geglaubt hatten, dich gefunden zu haben. Deshalb setze ich diesmal alles daran, es zu versuchen, in Ordnung?“



„Ich verstehe einfach nicht, dass sie nicht daran gedacht hat“, seufzte er schließlich. „Wir haben so viele dieser Art von Klonen gesehen. Genau solche wie den, den wir auch gefunden haben, als wir mein Grab öffneten. Warum hat sie daran nicht gedacht?“



Mulder ärgerte sich sichtlich. Obwohl es so erschien, ärgerte er sich nicht wirklich über Scully, weil sie nicht daran gedacht hatte. Er ärgerte sich nur darüber, dass sie irgendwo da draußen war, ihm jedoch die Hände gebunden waren. Er war so voller Drang sie zu finden ohne zu wissen, wo er eigentlich beginnen sollte zu suchen, dass es seine Nerven zum Zerreißen spannte. John wusste das. Doch er konnte nichts tun.



„Scully war zu aufgelöst gewesen, um überhaupt daran zu denken“, sagte er. „Ich war dabei, als wir deine Leiche gefunden haben. Ich habe gesehen, wie sie weinend neben dir saß und nicht einsehen wollte, dass du tot bist. Sie war der festen Überzeugung dich allein durch ihre Bemühungen wieder zum Leben erwecken zu können. Sie konnte nicht klar denken, geschweige denn an so krasse Möglichkeiten, wie die, die nun tatsächlich eintrat.“



„Ich weiß“, seufzte er. „Aber es macht mich fertig, nichts tun zu können, um sie zu finden.“ Eine Weile schwiegen beide. Mulder blickte aus seinem Fenster und spähte in jedes Auto hinein, das sie passierte, aus Angst davor, dass Scully in einem sitzen könnte, er sie aber verpasste, weil er gerade nicht Acht gab.



„Hast du mal bemerkt, wie weich ihr Haar war?“, fragte Mulder plötzlich und Doggett hob verwundert die Augenbrauen.



„Wir standen uns nicht so nahe wie ihr beide“, lächelte er.



„Wir waren nur Freunde“, seufzte er. „Aber hin und wieder haben wir uns umarmt. Ihre Haare sind dann an meiner Wange gelegen und sie rochen immer nach Apfel. Es hat mich lange Zeit gekostet, um herauszufinden welches Apfelshampoo sie benutzt hat. Aber ich habe es gefunden. Und jetzt, immer wenn ich sie besonders vermisse, dann rieche ich an dem Shampoo.“



„Was Frauen Männern alles so antun können“, lachte Doggett, als er die unbestreitbar romantische Sehnsucht in seinen Worten erkannte. „Die können einen wahnsinnig machen, was?“



„Na ja, in meinem speziellen Fall war sie die einzige, die mich davon abgehalten hat, wahnsinnig zu werden“, seufzte er und ließ den Motor anspringen. „In mehrerlei Hinsicht.“ Doggett schwieg, als Mulder nach seiner Sonnenbrille im Handschuhfach vor ihm kramte. Als er sie gefunden hatte, schob er sie sich auf die Nase und fuhr aus dem Parkplatz am Straßenrand. John war erleichtert, dass man sich offenbar wieder auf professionelles Terrain begab und das Thema Scully verdrängte.



„Und wer war nun ihr behandelnder Arzt?“, fragte Mulder, als er das Radio leise andrehte.



„Eine gewisse Dr. Brooke oder Dr. Burke oder so ähnlich“ , entgegnete Doggett. „Viel konnte mir die Nachbarin des Opfers auch nicht sagen. Offenbar war Melissa Avrigne gar nicht wegen ihrer Wahnvorstellungen, oder, wenn es dir lieber ist, Visionen, in psychiatrischer Behandlung. Sie hat nur seit vier Jahren eine Hausärztin.“



„Und wo hat diese Ärztin ihre Praxis?“, erkundigte sich Mulder, als er rätselnd auf seiner Unterlippe herumkaute. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte ein Stück, denn die subtropische Hitze bekam ihm nicht gerade besonders gut und die Klimaanlage benötigte einen laufenden Motor, der eine ganze Weile abgestellt war, als Mulder im Wagen auf Doggett gewartet hatte. Er hatte gewartet, weil er natürlich daran dachte, dass Scully an ihm vorbeilaufen könnte, obwohl er wusste, wie unwahrscheinlich das war. Seinem Partner natürlich hatte er erzählt, ihm sei schlecht und dass er deshalb lieber im Wagen warten wolle.



„Hier ganz in der Nähe“, sagte Doggett. „Laut dem Ärzteverzeichnis hier, das uns Agent Michaels von der Außenstelle in Tampa gefaxt hat, gibt es nur eine Ärztin mit einem ähnlichen Namen in dieser Gegend. Eine Dr. Brooke, Ärztin für Allgemeinmedizin, in Clearwater.“



„Direkt am Strand?“, wunderte sich Mulder.



„Jap, anscheinend“, bestätigte Doggett und checkte die Adresse. „3917 Columbus Avenue.“


„Hört sich piekfein an“, spöttelte Mulder grinsend. „Ob wir da mit dreckigen Schuhen überhaupt reinkommen?“



„Dreckige Schuhe hin oder her“, lächelte dieser. „Die Dienstmarke wird schon machen.“



Mulder grinste. Eine Weile lauschten sie schweigend dem Radio. Mulder trommelte mit dem Rhythmus des Liedes auf dem Lenkrad und John blickte aus dem Fenster. Mulder faszinierte die trügerische Schönheit. Er wusste genau, wie biologisch kaputt dieser Staat war. Die argwöhnischen Menschen düngten ihre Rasen mit umweltschädlichen Mitteln und bildeten sich ein ihr Auto täglich waschen zu müssen, obwohl das Wasser aufgrund der Hitze knapp war.



Aber dennoch gefiel es ihm hier. Es war nicht so kalt und betrübend wie in Washington. Der Himmel war so blau, wie Scullys Augen, bemerkte Mulder. Er bewunderte die Palmen, die Möwen, die krächzend ihre Runden drehten. Die Sonne, Wärme und Helligkeit weckte in ihm grundlos gute Laune. Vergessen war sogar Scully für eine Weile und auch der Fall und Doggett waren in den Hintergrund gerückt. Da waren nur noch die Musik, der Verkehr, die Sonne und er selbst. Und er genoss das betörende Gefühl der Freiheit.



Als sie nahe der Strandpromenade entlang fuhren, konnte Mulder nicht anders, als seinen Blick auf das Meer zu wenden. Er hatte es seit Jahren nicht gesehen. Selbst bevor er verschwunden war, war er jahrelang nicht am Strand gewesen. Umso mehr genoss er deshalb die kleinen blaugrünen Wellen aus Salzwasser, die schäumend auf den weißbeigen Strand trafen. Er musste sich zwingen, den Blick wieder auf die Straße vor sich zu wenden, damit er seinem Vordermann nicht auffuhr.



„Du bist ein Strandkind, was Mulder?“, lächelte Doggett, als er die sehnsüchtigen Blicke seines Partners in die Richtung des Wassers bemerkte.



„Aufgewachsen in Massachusettes und jede freie Minute auf dem Baseballfeld oder am Strand zugebracht. Ich gestehe“, lachte Mulder. „Samantha und ich haben ganze Tage am Meer verbracht, vom Sonnenauf- bis zum Sonnenuntergang. Erst als meine Schwester verschwand, sass ich mehr an meinem Schreibtisch und habe es hin und wieder vorgezogen zu pauken als am Strand zu sein.“



„Streber“, grinste Doggett und Mulder nickte.



„Heute bereue ich das oft“, sagte er und hielt an der roten Ampel. „Wenn ich im Nachhinein feststelle, dass es rein gar nichts gebracht hat, dann wünsche ich mir meine Jugend zurück. Ich werde demnächst fünfundvierzig und habe das Gefühl es ist erst ein paar Jahre her, dass ich neunzehn war und meine erste richtige Freundin hatte.“



„Vielleicht ist’s aber besser so“, erwiderte Doggett und erntete einen verwunderten Blick von Mulder. Dieser zuckte mit den Schultern. „Wer weiß schon, wo du heute sonst wärst? Wenn man seine Jugend nicht ausgelassen gefeiert hat, kann man ihr später nicht so sehr nachtrauern. Erspart einem eine allzu heftige Midlife-crisis. Eigene Erfahrung.“



„Wo du Recht hast“, seufzte Mulder und trat auf das Gaspedal als die Ampel ihre Farbe wechselte und von Rot auf Grün umsprang. „Aber hin und wieder denke ich daran ans Meer zu ziehen. Wenn ich in Pension gehe, auf jeden Fall. Ich habe ja noch immer das Haus aus Martha’s Vineyard. Aber möglicherweise zieht es mich auch gegen Süden; Kalifornien, Georgia, Florida. Das Rentnerparadies. Schließlich wollen alle Verrückten nach Florida.“



„Keine schlechte Idee hier eine Arztpraxis zu eröffnen“, stellte Doggett plötzlich nachdenklich fest. „Alte Leute haben immer Wehwehchen. Das Geschäft läuft ganz sicher gut hier.“



„Columbus Avenue“, sagte Mulder, als er das kleine grünlichweiße Schild am Straßenrand entdeckte. „Welche Nummer war das noch gleich?“



„3917“, sagte Doggett und kontrollierte die Hausnummer nochmal mit der Nummer auf seinem Notizzettel. „Ja, genau 3917.“ Mulder nickte und hielt am Straßenrand. Er parkte den silbernen Ford an der Ecke zur Promenade. Doggett war bereits ausgestiegen, als Mulder noch immer auf das weite Meer spähte. „Kommst du mit oder ist dir noch immer übel, Fox?“



Mulder zögerte einen Moment, seufzte dann aber und blickte seinen Partner an. Er schüttelte verwundert den Kopf. „Ich habe das Gefühl, als zerspringe ich vor Aufregung“, sagte er leise. „Aber ich hab keine Ahnung wieso.“



„Deine Aufopferungsbereitschaft für deinen Job sollte eine Inspiration für uns alle sein“, grinste er und deutete Mulder auszusteigen. „Na komm schon, Partner!“
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