Montag, 5.Februar
10.16 Uhr
Hauptquartier der Lone Gunmen
Baltimore, Maryland
Während Byers sich an das Telefon begab, um vier möglichst baldige Flüge nach Kentucky zu buchen, erzählte Susanne den anderen beiden Männern von dem brisanten Projekt, an dem sie seit einiger Zeit mit Connor, Catalan und Manson gearbeitet hatte und auf das Byers kurz zuvor zu sprechen gekommen war.
„Es begann alles mit dem Erscheinen unseres Kollegen Doktor Michael Catalan in unserem Institut vor gut einem halben Jahr“, erzählte sie ruhig, aber bedrückt. „Michael hatte, wie auch schon zu unserer Zeit Professor Manson und ich, für die Regierung gearbeitet und diverse Stoffe entwickelt oder besser gesagt Prototypen, die von anderen Wissenschaftlern ausgearbeitet und verfeinert wurden. Die Prototypen an sich waren im Grunde nicht gefährlich, weswegen Michael auch nicht auf die Idee kam die Bestimmung dieses Stoffes zu hinterfragen.“
Langly und Frohike nickten gelegentlich, während sie sich ihre Geschichte aufmerksam anhörten.
„Eines Tages fand er heraus, was mit den weiterentwickelten und verbesserten Produkten geschehen sollte....“, sie seufzte tief, während sie mit zitternden Fingern an dem goldenen Ring an ihrem rechten Ringfinger herumspielte. Das Gegenstück, das eigentlich einstmals bestimmt gewesen war für ihren früheren Verlobten Grant Ellis, der sie auf feige und hinterhältige Weise an den Feind verraten hatte, hatte Susanne später John geschenkt. Obwohl sie Byers kaum gekannt hatte, so gut wie nichts über ihn wusste, hatte er sie unheimlich fasziniert und sich schließlich klammheimlich in ihr Herz geschlichen. Lange Zeit wusste sie ihre Gefühle für ihn nicht einzuschätzen, ja wusste sogar nicht einmal ob sie ihn je wiedersehen würde, nachdem man sie in Baltimore in ein Auto gezerrt und entführt hatte. Viele grausame Versuche hatte sie über sich ergehen lassen, von denen sie noch heute nachts oft in ihren Träumen verfolgt wurde, um dann schweißgebadet und schreiend aufzuwachen. Die Erinnerung an Byers, an seinen Mut, seine Bereitschaft ihr bedingungslos zu helfen, war oftmals ein letzter rettender Strohhalm der Hoffnung gewesen, wenn sie drohte in einem Meer aus Schmerzen und Verzweiflung zu ertrinken. Sie hatte nie daran geglaubt ihn jemals wiederzusehen. Ihre Ängste hatten sie schließlich in die Arme eines anderen Mannes getrieben, in Grants Arme, von dem sie geglaubt hatte ihm vertrauen und ihn lieben zu können. Doch auch er stellte sich als falsch heraus. Als sie Byers in Las Vegas wiedertraf, wurde es ihr schließlich ganz klar... sie hatte sich in ihn verliebt.
Zu ihrer großen Freude stellte sie letzten Abend fest, dass auch John den anderen Ring noch immer trug.
„Die Kerle, für die Michael arbeitete“, fuhr sie fort, „planten einen chemischen Kampfstoff zu entwickeln, der Menschen innerhalb weniger Stunden, im Idealfall in wenigen Minuten töten kann. Deshalb tüftelten sie beständig an Verbesserungen herum, denn zumindest als Michael noch für sie gearbeitete hatte, hat es noch keine Probe gegeben, die ihre Erwartungen erfüllt hätte.“
Frohike hielt entsetzt den Atem an. Sein Blick wanderte zu Langly, der sichtlich bestürzt auf dem Sofa herumrutschte. Seine Hände umklammerten krampfhaft das Polster des Sofas. „Wozu...“, Langly schluckte schwer, „aber wozu brauchen die nun aber diesen Stoff?“
„Chemische Kriegsführung“, erläuterte Susanne bitter. „Das sind die Waffen der Zukunft in der amerikanischen Kriegspolitik! Als Michael eines Tages bei uns auftauchte, nachdem er es geschafft hatte aus deren Klauen zu entkommen, und uns diese unglaubliche Geschichte auftischte, hatten wir Schwierigkeiten ihm zu glauben. Besonders bei Connor, der als einziger von uns nie im Dienste der Regierung gestanden hat, dauerte es eine ganze Weile, bis er Vertrauen zu Doktor Catalan fasste. Doch Catalan hatte handfeste Beweise in Form von Dokumenten über die Forschungsfortschritte mitgehen lassen. Wir verschafften ihm eine neue Identität, denn seinen richtigen Namen zu behalten, wäre blanker Wahnsinn gewesen. Aus Doktor Stacy Wesst wurde Doktor Michael Catalan und wir vier bildeten ein Team, um gemeinsam gegen diese Mistkerle vorzugehen. Wir entwickelten ein Gegenmittel gegen die ersten, bereits tödlichen jedoch noch nicht „idealen“ Stoffe, das den Tod zu unserem Bedauern allerdings nicht verhindern, sondern lediglich die nebenwirkenden Schmerzen lindern konnte. Wir waren uns natürlich dessen bewusst, dass Michaels frühere Arbeitgeber vermutlich nach ihm suchen und währenddessen ihre Forschungen trotzdem ungehindert weiter gehen würden. Doch Michael konnte sich in Sicherheit bei uns wähnen... das dachten wir zumindest, bis er dann letzten Mittwoch plötzlich verschwand und zwar zusammen mit seiner Tochter. Ich glaube nicht, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Das ist wirklich nicht Michaels Art. Wir versuchten ihn anzurufen, ohne Erfolg. Manson, der einen Zweitschlüssel zu Catalans Wohnung besaß, schaute Donnerstag vorbei. Es waren keine Spuren davon zu sehen, dass er seine Sachen und die seiner Tochter gepackt hätte. Ich fürchte, dass *die* ihn in ihre dreckigen Finger bekommen haben.“
Ein beklemmendes Schweigen trat ein. Unterbrochen wurde die unangenehme Stille von Byers, der das Wohnzimmer betrat. „Jungs, macht euch fertig! Unser Flug geht in drei Stunden.“
Montag, 5.Februar
10.33 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Nervös trommelte Brian Connor mit den Finger auf der Tischplatte herum. Sein Blick glitt hektisch durch den Raum, der im Grunde nicht allzu groß war. Aber die Tatsache, dass ein großer ovalförmiger Konferenztisch für knapp zehn Leute darin Platz fand, ließ ihn eigenartig riesig wirken. Ein breiter Aktenschrank aus massivem Holz stand unmittelbar in der Nähe, gefüllt mit Dutzenden Mappen und Büchern.
Schon seit einer guten halben Stunde saß er nun in dem Konferenzraum, trank seine mittlerweile zweite Tasse Kaffee und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Jeglicher Versuch scheiterte jedoch und so verbrachte er seine Zeit damit angespannt auf die silberfarbene Uhr zu starren, die an der ihm gegenüberliegenden Wand kontinuierlich vor sich hintickte. Ihm fiel auf, dass einen das unaufhörliche monotone Klacken des Sekundenzeigers vollkommen nervös machte, wenn man bewusst darauf achtete.
Er seufzte tief. Seine schweren Gedanken bedrückten ihn. Wenigstens etwas positives hatte dieser Tag gebracht... in seinem Telefonat mit seiner Kollegin Holly vor ein paar Minuten, in dem er sie auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte, hatte sie ihm fest versichert, dass sie bereits einen Rückflug nach Kentucky gebucht habe und am späten Nachmittag in Midway eintreffen würde.... und zwar zusammen mit vertrauenswürdiger Hilfe!
Doktor Michael Catalans Verschwinden vor nunmehr fünf Tagen und Professor Peter Mansons Selbstmord vergangenen Freitag hatten bereits unübersehbare Spuren auf Connors sonst so jung, fröhlich und unbetrübt wirkendem Gesicht hinterlassen. Tiefdunkle Schatten schienen über seinen Augen zu hängen, die umgeben waren von schweren Ringen. Auf seinen sonst so tadellos rasierten Wangen und seinem Kinn begannen die Stoppeln immer länger zu werden.
Die letzten Nächte waren so gut wie schlaflos für ihn gewesen. Besonders in der gestrigen Nacht, als das erste Morgengrauen herannahte, hatte er sich noch immer gequält von einer Seite auf die andere Seite gewälzt, letzten Endes den aussichtslosen Einschlafversuch aufgegeben und sich in die Küche begeben. Kurze Zeit später hatte seine junge Frau Deborah voller Sorge die Küche betreten, nachdem sie durch das fehlen seines wärmenden Körpers aufgewacht war. Was denn los sei, wollte sie wissen und strich ihm dabei liebevoll über das Haar. Er habe die letzten Tage einen furchtbar verbitterten, beinahe angsterfüllten Eindruck gemacht.
Doch er konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie wusste nichts von Vorfällen mit Catalan und Manson; ja selbst von dem Projekt, an dem alle drei zusammen mit der Kollegin Dr. Holly Fitzgerald schon so lange arbeiteten, hatte er ihr nur Bruchstücke erzählt. Um jeden Preis wollte er verhindern seine über alles geliebte Deborah, der er vor knapp zwei Monaten mit glücklich funkelnden Augen und dem breitesten Lächeln auf den Lippen das Ja-Wort gegeben hatte, in unnötige, gedankenlose Gefahr zu bringen. Also hatte er schuldigen Gewissens behauptet er habe sehr viel um die Ohren in der Arbeit und das belaste ihn zur Zeit... weiter nichts.
Zu allem kam nun auch noch die Geschichte, die sich gestern Abend ereignet und ihm später die schlaflose Nacht bereitet hatte. Die Bilder des Ereignisses schossen Connor erneut durch den Kopf, während er unbewusst an dem Henkel seiner Kaffeetasse zu spielen begann.
Am gestrigen Abend hatte Brian sich gegen 23 Uhr, nach reichlich Überstunden und mit dem Gefühl von nahezu erschlagender Müdigkeit, auf den Heimweg begeben. Er stieg in seinen dunkelblauen Jeep und der schwere Wagen kämpfte sich mühevoll durch den frisch gefallenen, hohen Schnee. Um ihn herum herrschte gespenstige Dunkelheit, lediglich das schwache Licht der Scheinwerfer ermöglichte ihm den Blick von einigen Metern geradeaus. Obwohl er die ungemein sichere Lage des Forschungskomplexes inmitten der fast undurchdringlichen Wälder Midways über alles zu schätzen wusste, hasste er sie an manchen Tagen doch fast ebenso sehr. Der Weg durch die Wälder war schwer befahrbar und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis man die holprige Straße verlassen hatten. Im Winter, wenn es früh finsterte und dazu noch Schnee lag, konnte es so manches Mal zu einer unheimlichen Irrfahrt werden. Connor fluchte laut, als der alte Jeep, dessen Motor bei diesen frostigen Temperaturen endlos lange zum Warmwerden brauchte, mehrmals ausging und es ihn mehrere Versuche kostete ihn erneut zu starten. Schließlich gelang es ihm das Auto einigermaßen konstant zum Fahren zu bringen und so bahnte es sich noch ein ganzes Stück durch den zugeschneiten, düsteren Wald. Plötzlich entdeckte Brian in etwa 20 Metern Entfernung etwas im Schnee, mitten auf der kleinen Straße liegend. Er ging ein wenig vom Gas und ließ den Wagen langsam vorwärts rollen. Der Blick nach außen war durch die noch immer gefrorene Frontscheibe beeinträchtigt und es war nicht zu erkennen, um was es sich handelte. Wenige Meter vor diesem „Ding“, das ihm den Weg versperrte, brachte Connor den Jeep zum stehen und stieg aus, während er den Motor laufen ließ. Das keuchende Brummen des Motors hallte in einem grässlichen Echo in den Wäldern wider. Langsam näherte er sich heran und kniete schließlich unmittelbar neben dem „Ding“ nieder. Vorsichtig tastend ließ er seine Finger darüber gleiten. Plötzlich spürte er weiches, aber kaltes Haar.
Um Gottes Willen... ein Mensch!
Das Licht der Scheinwerfer war schwach, also ertasteten Brians Finger sich ihren Weg. Ein zierlicher, kleiner Körper... vermutlich eine Frau oder ein Mädchen. Er berührte vorsichtig die Wange, ließ seine Finger zum Hals hinunter gleiten. Sie war noch warm und ein schwacher, aber konstanter Puls war zu fühlen. Offenbar lag sie zu ihrem Glück erst kurze Zeit hier.
Behutsam grub er seine Hände unter ihren regungslosen Körper, bis er ihn fest im Griff hatte und erhob sich mühsam von seinen Knien. Zunächst etwas wackelig, doch dann mit festem schnellem Schritt trug er sie zu seinem Wagen. Umständlich öffnete er die hintere Tür und legte sie auf die Rückbank. Er schaltete das Innenlicht ein und konnte nun einen Blick auf ihr Gesicht werfen.
Mit großem Entsetzen erkannte er das Mädchen wieder.
Jessie.... Michael Catalans 17jährige Tochter!
Montag, 5.Februar
10.13 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Das grelle Licht brannte schmerzend in ihren Augen, als sie sie langsam öffnete. Schützend hielt sie eine Hand davor, bis ihre Augen sich schließlich an die anfangs stechende Helligkeit gewöhnt hatten.
Vorsichtig stütze sie sich auf ihrer rechten Hand aus dem Liegen heraus auf und schaute sich etwas verwirt um. Der Raum, in dem sie sich befand, sah aus wie ein Medizinlabor oder etwas ähnliches, vollgestopft mit Computern, medizinischen Geräten, Erlenmeyer Kolben und anderen Hilfsgegenständen für Versuche und einem Haufen verschiedener Aktenordner. Der Raum war fast vollständig in weiß gehalten und ähnelte einer Zahnarztpraxis.
Sie seufzte enttäuscht. War es denn jetzt überhaupt vorbei? Schließlich hatte sie keinen Schimmer, wo sie im Moment war. Vielleicht hatten diese Kerle sie wieder in ihrer Gewalt. Das würde ihr sicheres Ende bedeuten.
Ihre Erinnerungen an den gestrigen Tag waren lückenhaft. Das einzige, woran sie sich noch einigermaßen erinnern konnte, war, wie sie orientierungslos durch die Wälder gelaufen war. Ganz zu Beginn, noch weit außerhalb der Wälder, waren sie ihr noch dicht auf den Versen gewesen, aber irgendwann musste sie die Kerle abgehängt haben und plötzlich war sie ganz allein. Es musste schon dunkel gewesen sein, als sie schließlich einen normalen Weg inmitten der dichten Baumreihen gefunden hatte. Sie wusste es nicht mehr genau. Mit dem Fund des Weges hörte ihre Erinnerung auf. Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, von wem sie hierher gebracht worden war, geschweige denn, *wo* sie nun genau war.
Langsam erhob sie sich von der Liege, auf der sie eben aufgewacht war und versuchte aufzustehen. Ihre Füße berührten vorsichtig den kalten Boden. Als sie mit beiden Beinen fest auftrat, verspürte sie wieder diesen stechenden Schmerz in ihrem linken Bein. Sie klammerte sich einen Moment am Rand der Liege fest und biss sich auf die Lippen. Der Schmerz kam ihr jetzt noch viel fürchterlicher vor, als in der letzten Nacht. Sie blickte zum ersten Mal an sich herunter und ihr fiel auf, dass man ihren rechten Arm einbandagiert hatte. Zudem war sie von jemanden in ein viel zu großes weißes Männerhemd gesteckt worden, die Ärmel auf beiden Seiten bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Als sie sich in dem Raum umsah, konnte sie ihre alte Kleidung allerdings nicht entdecken.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als sich hinter ihr mit einem Mal die Tür öffnete. Wie gelähmt blieb sie mit dem Rücken zur Tür bewegungslos stehen. Plötzlich vernahm sie eine eigenartig vertraute Stimme.
„Hey Kleine, du bist ja schon auf den Beinen!“
Ruckartig drehte sie sich herum und entdeckte zu ihrer großen Erleichterung Brian Connor im Türrahmen stehend und ihr gutmütig zulächelnd. Aufgeregt und überglücklich fiel sie in seine kräftigen Arme.
„Jessie, übernimm dich nicht!“, riet Brian ihr sanft lachend, wurde jedoch sofort wieder ernst, „Es ist wirklich ein Wunder, dass du noch lebst und erst recht, dass du jetzt bereits wieder in einem verhältnismäßig guten Zustand bist. Du sahst wirklich sehr schlimm aus gestern Nacht, als ich dich im Schnee unweit vom Institut gefunden habe. Schnittwunden und Blutergüsse am ganzen Körper, halb erfroren. Wir mussten deinen Körper über Stunden hinweg nach und nach wieder an die Wärme gewöhnen und dich an ein künstliches Beatmungsgerät anschließen, weil dein Puls sehr schwach war. Dein linker Arm ist gebrochen und dein linker Knöchel sieht auch nicht besonders gut aus. Vermutlich gestaucht oder gezerrt. Du bist die letzte Nacht knapp am sicheren Tod vorbeigeschliddert.“
„Am Tod komme ich ohnehin nicht mehr vorbei“, schluchzte sie in den weißen Kittel des Wissenschaftlers hinein.
„Wie meinst du das?“ Schockiert umgriff er mit seinen Händen Jessies Schultern und brachte sie von Angesicht zu Angesicht. Er strich dem schlanken, fast zierlichen Mädchen über das dunkelbraune Haar und blickte in ihre blaugrauen Augen. Sie waren voll von Furcht, Bestürzung und Angst.
„Das...“, schluchzte sie erneut und versuchte ihre Tränen in den Griff zu bekommen, „das erkläre ich dir noch. Aber, Brian... Ihr seid wahrscheinlich in großer Gefahr, du, Holly und Professor Manson.“
Connor nickte verstehend. „Nun gut, du kannst mir gleich alles erzählen. Aber erst einmal möchte ich, dass du etwas isst. Du musst zu Kräften kommen. Ich habe dir ein paar warme Kleidungsstücke besorgt, denn deine eigenen sind zum größten Teil ruiniert. Holly wird bald mit Unterstützung hierher kommen. Und Professor Manson... nun ja...“ Es versetzte ihm einen schmerzenden Stich in der Brust ihr von Peters Selbstmord erzählen zu müssen.
Montag, 5.Februar
17.19 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Jessie machte auf Connor einen erstaunlich ruhigen und entspannten Eindruck, nachdem Doktor Holly Fitzgerald kurz zuvor zusammen mit ihrer Verstärkung auf dem Forschungskomplex eingetroffen war. Sie hatten sich alle in dem Konferenzraum neben ihrem Labor versammelt, um die neu eintreffenden darüber aufzuklären, was Catalan und seiner Tochter zugestoßen war und zu besprechen, wie nun vorzugehen sei.
Jessie versuchte mühsam sich am linken Arm zu kratzen, um den sie jetzt einen Gips tragen musste und es verging kaum eine Minute, in der dieses verdammte Ding nicht juckte wie verrückt. Sie spürte noch am ganzen Körper Schmerzen, doch eine erfrischendes Waschen in dem großen Waschraum des Forschungsgeländes und ein unheimlich köstliches Essen hatten sehr dazu beigetragen, dass sie sich wieder halbwegs wie ein normaler Mensch fühlte. Ihrem Knöchel ging es Dank einiger wohltuend kühlender Wickel wieder besser; die Schwellung hatte nachgelassen und sie konnte bereits mit mehr Druck auf den Fuß auftreten. Ihre anderen Verletzungen; die Prellungen, Schürfwunden oder Platzwunden; würden sie wohl noch eine Weile begleiten und ließen das Mädchen so aussehen, als hätte sie gerade eine üble Schlägerei hinter sich.
Was Hollys herbeigeholte Hilfe anging, war Connor im ersten Moment sehr überrascht, wenn nicht sogar skeptisch gewesen, wie drei so merkwürdige Gestalten ihnen nützen konnten. Doch als er erfuhr, dass es sich bei den drei Männern um die Herausgeber des „Lone Gunmen“ handelte, einer bekanntesten Untergrundzeitschriften, die sich mit Verschwörungen jeglicher Art befasste, hatte das die misstrauische Haltung ihnen gegenüber vollkommen verweht. Ihr gesamtes Erscheinungsbild war zwar eine zugegebenermaßen seltsame Kombination... ein Punk – Verschnitt mit langen, zotteligen blonden Haaren, schwarzgefasster Brille, verwaschener Jeans, ausgelatschten Turnschuhen und einem schwarzen Sweatshirt mit dem zerlaufenem blutigen Schriftzug „Korn“; ein kleiner Kauz, der wohl mit Mühe und Not die 1,60 erreicht hatte und für sein Alter, das wohl bei Mitte 50 liegen musste, reichlich jugendlich gekleidet war mit seiner Lederjacke und den fingerlosen schwarzen Lederhandschuhen; auch er trug eine Brille; und schließlich der dritte, der gut ein Anwalt oder aber auch ein Versicherungsvertreter hätte sein können in seinem ordentlichen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer Krawatte und seiner mindestens genauso ordentlichen Frisur.... aber wen konnte man in dieser Verschwörungswelt schon als normal bezeichnen? Irgend eine Macke hatten sie alle!
Die Stimmung in dem Raum war angespannt. Man schien die Mischung aus Nervosität und Neugier mit jedem Atemzug noch intensiver zu spüren. Auch der verkrampfte Versuch eine angenehme Atmosphäre zu schaffen mit gutem Essen, Kaffee und Tee half da nicht allzu viel. Alle Augen waren erwartungsvoll auf Jessie gerichtet, bemerkte Connor, als er einen Blick in die Runde warf. Er musterte jeden einzelnen genau. Der kleine Kauz, dieser Melvin Frohike, zupfte unruhig an seinen Handschuhen herum, während sein Blick in ein ständiges Hin und Her zwischen dem Mädchen und der Musterung seiner Hände überging. Richard Langly wirkte merkwürdigerweise sehr cool und relaxt, wie er so in seinem Stuhl hing, doch das Hibbeln seines linken Fußes verriet das Gegenteil. Am meisten jedoch verblüffte Brian der Anblick seiner Kollegin und des dritten Gunman, John Byers. Er bemerkte, wie die beiden häufig Blicke austauschten, sich scheue und kurze Lächeln schenkten und er meinte sogar ein Mal gesehen zu haben, wie Susanne kurz seine Hand gehalten hatte.
War da möglicherweise etwas im Busch zwischen den beiden? War John vielleicht die „private Angelegenheit“, die sie noch zu erledigen hatte? Connor errötete auf die Farbe einer Tomate, als Susanne ihm plötzlich direkt in die Augen blickte, denn erst jetzt fiel ihm auf, wie er die beiden unbewusst angestarrt hatte. Schnell wandte er den Kopf von ihr weg, als Jessie neben ihm auf einmal ihren Stuhl zurechtrückte und sich laut räusperte.
Nun gehörte alle Aufmerksamkeit ihr.
„Ich...“, begann sie zögerlich und versuchte die richtigen Worte zu finden, „ich bin mir unsicher, wo und wie ich überhaupt beginnen soll. Ich habe heute Vormittag Brian bereits alles darüber erzählt, was mit meinem Vater und mir geschehen ist, das war allerdings bevor ich von Professors Mansons Tod erfahren habe.“ Brian legte behutsam seine Hand auf die des Mädchens, als er merkte, wie ihre Stimme tränenerstickt zu beben begann. „Ich bin mehr als entsetzt und unheimlich betroffen von seiner Tat... Ich verstehe es nicht. Ich habe ihn immer für so einen starken Menschen gehalten.“
Einige Tränen kullerten ihre Wange hinunter. Obwohl sie die Kollegen ihres Vaters erst ein paar Monate kannte, waren sie ihr auf fast familiäre Weise ans Herz gewachsen. Ihr Vater hatte sie oft nach Hause eingeladen, wo sie nicht nur berufliche Dinge besprochen, sondern sich auch gerne mal einfach nur gemütlich zusammengesetzt und sich über dies und jenes unterhalten haben. Jessie war fast immer mit von der Partie. Da es der heiße und fest entschlossene Wunsch des Mädchens gewesen war in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und selbst auch Wissenschaftlerin zu werden, wenn auch eher im Bereich der Biologie, hatte sie sich unheimlich gerne in Gespräche mit den drei anderen Wissenschaftlern vertieft. Sie zeigten großes Interesse an Jessies Berufswunsch und erzählten ihr viel über ihre eigenen Erfahrungen mit Naturwissenschaften. Auch ihnen hatten „die Kleine“, wie sie Jessie liebevoll nannten, obwohl das Mädchen sich zumeist schmollend darüber aufregte, denn schließlich war sie mit ihren 17 Jahren bei weitem keine „Kleine“ mehr, zunehmend in ihr Herz geschlossen.
Sie atmete tief durch und gewann wieder an Fassung. „Nichtsdestotrotz dürft Ihr nicht länger hier bleiben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden *die* auch nach Euch suchen!“
„Nun gut, Jessie“, bestätigte Susanne sanft nickend. „Wir werden uns auf jeden Fall beratschlagen, was zu tun ist. Aber erzähl’ uns doch bitte erst einmal, was vorgefallen ist.“ Aufmunternd lächelte sie Jessie an. Jessie wog den Kopf nachdenklich hin und her, bemerkte schließlich, dass alle sie noch immer gespannt beobachteten und offensichtlich darauf warteten, dass sie fortfuhr. „Es ist in der Tat so, wie Ihr vermutete habt“, setzte Jessie letztendlich an. „Mein Dad und ich, wir wurden tatsächlich von *denen* festgehalten. Wir fuhren an jenem Mittwochabend gerade nach Hause, nachdem Dad mich ins Kino eingeladen hatte als Belohnung für meine guten Noten in der letzten Zeit. Es war schon vollkommen dunkel um uns herum und kein Mensch außer uns war auf der Straße unterwegs mit dem Auto... na ja, bis auf einen Wagen, der eine ganze Weile in großem Abstand hinter uns herfuhr. Mir wäre der Wagen nicht weiter aufgefallen, wenn der Fahrer nicht plötzlich sein Tempo rasant beschleunigt hätte. Mit einem Mal war das Auto neben uns und begann uns zu rammen, bis Dad die Kontrolle verlor und wir von der Straße abkamen.“ Jessie hielt einen Moment inne und blickte in die verwirrten Gesichter der Erwachsenen um sie herum.
„An den Rest erinnere ich mich kaum. Ich muss irgendwann das Bewusstsein verloren haben. Ich sehe nur noch meinen Vater vor mir, der blutend und regungslos über dem Lenkrad hing. Ich wachte in einem düsteren Gebäude, vermutlich eine verlassene alte Lagerhalle, auf dem Boden liegend auf. Um mich herum waren einige kleine medizinische Geräte aufgebaut worden, an die man mich angeschlossen hatte. Ich hörte in der Ferne Stimmen und als ich meine Umgebung wieder wahrzunehmen begann, entdeckte ich Dad durch eine halboffene Tür eines Nebenraums hindurch, wie er hitzig mit jemandem diskutierte. Er schrie sein Gegenüber an. Er hatte ganz offenbar Angst.“
Sie fuhr sich mit ihrer gesunden Hand über die Stirn. Sie wirkte jetzt mitgenommen und müde. Byers und Langly wechselten einen fragenden Blick. „Hör mal, Jessie“, sagte Byers voller Rücksicht, „wenn es dir zu viel, dann brauchst du nicht weiterzusprechen. Connor kann es uns zu Ende erzählen. Du kannst gehen und dich ausruhen.“
„Nein, nein“, versicherte das Mädchen überzeugt, „ich bin noch einigermaßen fit. Es ist nur... ich fürchte, ich kann nicht viel mehr über die Ereignisse berichten. Meine Erinnerungen an all das sind wie ausgelöscht.
Irgendwann... es muss wohl gestern Abend gewesen sein... bin ich aufgewacht, in einem Auto, und Dad saß neben mir am Steuer. Wir mussten nicht weit von Midway festgehalten worden sein, denn ich erkannte die Gegend als Nicholasville wieder, wo Brian und Holly wohnen. Er hatte es irgendwie geschafft zu fliehen und mich mitzunehmen. Allerdings war er sich sicher, dass sie uns dicht auf den Fersen waren. Er beschloss mich allein fortlaufen zu lassen, damit ich mich in Sicherheit bringen könnte, und sich selbst den Kerlen zu stellen und mir so einen guten Vorsprung zu ermöglichen.“ Sie spürte plötzlich einen Kloß in ihrem Hals. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie krampfhaft versuchte zu unterdrücken. „Ich war verzweifelt, habe geschrieen, dass ich ihn nicht allein zurücklassen werde, aber er hat kein Widerwort geduldet. Als ich schließlich schon ein ganzes Stück gelaufen war, hörte ich Schüsse hinter mir. Sie waren da, ganz in meiner Nähe, aber ich bin entkommen. Aber Dad...“
In diesem Moment begann Jessie nun tatsächlich loszuweinen. Bestürzt erhoben sich Connor und Susanne von ihren Stühlen und gingen zu ihr hinüber, während die Lone Gunmen besorgte Blicke tauschten. Das Mädchen fiel der Wissenschaftlerin um den Hals, welche sie einen Moment lang einfach nur festhielt und beruhigend über den Kopf streichelte.
„Jessie“, sprach Brian ihr beinahe flüsternd zu, „geh dich ein wenig ausruhen.“ Sie halfen ihr sich von ihrem Stuhl zu erheben. Humpelnd verließ sie das Zimmer. Brian und Susanne sahen ihr besorgt hinterher.
„Es ist furchtbar“, sagte Susannes Kollege nach kurzem, einheitlichem Schweigen zu den restlichen Anwesenden zugewandt. „Aber eins hat Jessie Euch noch nicht erzählt und ich hätte es ihr beim besten Willen auch nicht zugemutet es ein zweites Mal zu erzählen....“
Er hielt inne, schüttelte einen Moment für sich den Kopf. Sein Blick war in weite Fernen abgedriftet, als er wieder zu sprechen begann.
„Ich vermute, dass es als Druckmittel auf Catalan gedacht war, um Informationen von ihm zu erhalten. Jedenfalls haben... haben diese Schweine der Kleinen den Stoff injiziert, zu dessen Herstellung Catalan selbst unwissend einen Teil beigetragen hat. Catalan hat es selbst mit ansehen müssen, wie man seiner Tochter das Zeug eingeflößt hat. Später, während ihrer Flucht, musste er ihr die bittere Wahrheit erzählen über das, was man ihr angetan hatte. Er erzählte Jessie, dass wir ein Gegenmittel hätten und versuchte sie auf diese Weise davon überzeugen, dass sie ihn selbst zurücklassen und unbedingt ihren Weg zu uns finden müsse. Scheinbar hatte er die Hoffnung, dass wir ihr helfen könnten.“
„Aber“, stammelte Frohike unsicher, „aber dieses Gegenmittel... es lindert doch nur die Schmerzen, die der Stoff verursacht. Ich meine, es kann doch nicht...“
„So ist es leider“, unterbrach Susanne ihn mitten im Wort. „Es wird ihren Tod hinauszögern, aber nicht verhindern können.“
Nachdem sie sich in dem Labor, das an den Konferenzraum anschloss, etwas ausgeruht hatte, beschloss Jessie sich in dem winzigen Waschraum, der eigens diesem Labor angehörte, zu erfrischen. Sie hatte aufgeregte Diskussionen aus dem Konferenzraum gehört, wobei sie nicht weiter darauf geachtet hatte, worüber Holly, Brian und die drei anderen Männer sprachen. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass Brian es ihnen erzählen würde.
Sie humpelte mühevoll durch den Raum in Richtung Waschraum. Behutsam schloss sie schließlich die Tür zu dem Waschraum hinter sich und ging auf die Waschbecken an der rechten Wand zu. Sie drehte den Hahn auf und während das angenehm kühle Wasser in ihre Hände floss, wagte sie einen Blick in den Spiegel über dem Becken. Sie sah tatsächlich schon besser aus als heute morgen noch, wo sie sich das erste Mal so schlimm zugerichtet im Spiegel gesehen hatte. Zwar waren ihre Wunden logischerweise kaum merkbar geheilt, aber die Erholung war ihrem Gesicht deutlich anzusehen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren fast vollständig verschwunden und die Blässe ihrer Haut war bereits einem noch schwachen rosa gewichen.
Jessie spülte ihren Mund mit dem kühlen Wasser durch, bis der fade Nachgeschmack des Essens nachgelassen hatte und spritzte sich dann einige Tropfen ins Gesicht. Es war angenehm erfrischend und belebend.
Sie riss einige Lagen Papiertücher aus dem dafür vorgesehenem Halter, als sie plötzlich einen krampfartigen Schmerz an ihrem Kopf spürte. Es wiederholte sich zwei, drei, vier Male. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und biss die Zähne schmerzerfüllt zusammen. Von einer Sekunde zur nächsten trat völlige Schwärze vor ihre Augen und sie verlor den Halt unter ihren Füßen.
Alle fünf zuckten zusammen, als sie einen dumpfen Knall hörten, der irgendwo aus dem Labor herrühren musste. Connor war der erste, der sich aus der angespannt lauschenden Starre lösen konnte, welche nur auf ein weiteres Geräusch ausgerichtet zu sein schien. "Ich gehe mal lieber nachsehen", sprach er und erhob sich von seinem Stuhl. "Jessie ist schwach auf den Beinen. Nicht, dass ihr etwas passiert ist."
Ein einheitlich zustimmendes Nicken und er verließ den Konferenzraum und durchquerte mit vorsichtigen Schritten aufmerksam das Labor.
"Jessie?", fragte Connor mit lauter Stimme. Keine Antwort.
Er näherte sich der Tür zu dem kleinen Waschraum und klopfte schließlich behutsam an. "Jessie? Ist alles in Ordnung bei dir?" Wieder bekam er keine Antwort, meinte aber von innen ein gequältes Stöhnen zu vernehmen.
Plötzlich erhallte ein schmerzerfüllter Schrei aus dem Waschraum. Ohne einen weiteren Moment zu zögern riss Brian die Türe auf und stürmte hinein.
Sofort entdeckte er Jessie am anderen Ende des kleinen Raumes.
Sie lag unterhalb des Waschbeckens auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, und wand sich auf dem Boden. Brian eilte zu dem Mädchen hinüber, nahm ihren Oberkörper in seine Arme und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Entsetzt hielt er den Atem an, als er in Jessies Gesicht blickte. Blut schoss aus Nase und Mund des Mädchens hervor. Ihre Augen waren glasig, ihr Mund zu einem lauten Schrei geöffnet, doch kam kein Ton heraus.
"Jessie?", sagte Connor verzweifelt. "Jessie, sag bitte etwas!"
Doch das Mädchen war nicht ansprechbar und reagierte weder auf Worte noch auf Berührungen. "Holly!!", schrie der Wissenschaftler aus vollster Kehle durch die halboffene Tür. "Ich brauche Eure Hilfe!"
Sekunden später stürmte seine Kollegin in den Waschraum, gefolgt von den drei Lone Gunmen, die unsicher und zurückhaltend im Türrahmen stehen blieben.
"Oh mein Gott!", entfuhr es Susanne mit entsetzter Stimme, als sie sich zu Connor und Jessie herabbeugen wollte.
"Jungs, bitte holt schnell weitere Hilfe herbei!" Susanne blickte die drei Männer flehend an, bevor sie eine handvoll Papiertücher aus dem Kasten riss, um das Blut zu stoppen. Frohike eilte sogleich aus dem Labor, um jemanden zu holen.
Jessies Körper zuckte noch einige Male in Brians Armen, bevor er zur Ruhe kam und das Mädchen in sich zusammensackte. Sie blieb regungslos und schien das Bewusstsein nun vollkommen verloren zu haben. Langly und Byers, die das ganze Szenario hilflos dastehend mitverfolgt hatten, traten einen Schritt beiseite, als ein weiterer Mitarbeiter des Instituts, bepackt mit einem großen grauen Medizinkoffer, an ihnen vorbei in den Waschraum eilte, gefolgt von ihrem Kumpel Frohike.
10.16 Uhr
Hauptquartier der Lone Gunmen
Baltimore, Maryland
Während Byers sich an das Telefon begab, um vier möglichst baldige Flüge nach Kentucky zu buchen, erzählte Susanne den anderen beiden Männern von dem brisanten Projekt, an dem sie seit einiger Zeit mit Connor, Catalan und Manson gearbeitet hatte und auf das Byers kurz zuvor zu sprechen gekommen war.
„Es begann alles mit dem Erscheinen unseres Kollegen Doktor Michael Catalan in unserem Institut vor gut einem halben Jahr“, erzählte sie ruhig, aber bedrückt. „Michael hatte, wie auch schon zu unserer Zeit Professor Manson und ich, für die Regierung gearbeitet und diverse Stoffe entwickelt oder besser gesagt Prototypen, die von anderen Wissenschaftlern ausgearbeitet und verfeinert wurden. Die Prototypen an sich waren im Grunde nicht gefährlich, weswegen Michael auch nicht auf die Idee kam die Bestimmung dieses Stoffes zu hinterfragen.“
Langly und Frohike nickten gelegentlich, während sie sich ihre Geschichte aufmerksam anhörten.
„Eines Tages fand er heraus, was mit den weiterentwickelten und verbesserten Produkten geschehen sollte....“, sie seufzte tief, während sie mit zitternden Fingern an dem goldenen Ring an ihrem rechten Ringfinger herumspielte. Das Gegenstück, das eigentlich einstmals bestimmt gewesen war für ihren früheren Verlobten Grant Ellis, der sie auf feige und hinterhältige Weise an den Feind verraten hatte, hatte Susanne später John geschenkt. Obwohl sie Byers kaum gekannt hatte, so gut wie nichts über ihn wusste, hatte er sie unheimlich fasziniert und sich schließlich klammheimlich in ihr Herz geschlichen. Lange Zeit wusste sie ihre Gefühle für ihn nicht einzuschätzen, ja wusste sogar nicht einmal ob sie ihn je wiedersehen würde, nachdem man sie in Baltimore in ein Auto gezerrt und entführt hatte. Viele grausame Versuche hatte sie über sich ergehen lassen, von denen sie noch heute nachts oft in ihren Träumen verfolgt wurde, um dann schweißgebadet und schreiend aufzuwachen. Die Erinnerung an Byers, an seinen Mut, seine Bereitschaft ihr bedingungslos zu helfen, war oftmals ein letzter rettender Strohhalm der Hoffnung gewesen, wenn sie drohte in einem Meer aus Schmerzen und Verzweiflung zu ertrinken. Sie hatte nie daran geglaubt ihn jemals wiederzusehen. Ihre Ängste hatten sie schließlich in die Arme eines anderen Mannes getrieben, in Grants Arme, von dem sie geglaubt hatte ihm vertrauen und ihn lieben zu können. Doch auch er stellte sich als falsch heraus. Als sie Byers in Las Vegas wiedertraf, wurde es ihr schließlich ganz klar... sie hatte sich in ihn verliebt.
Zu ihrer großen Freude stellte sie letzten Abend fest, dass auch John den anderen Ring noch immer trug.
„Die Kerle, für die Michael arbeitete“, fuhr sie fort, „planten einen chemischen Kampfstoff zu entwickeln, der Menschen innerhalb weniger Stunden, im Idealfall in wenigen Minuten töten kann. Deshalb tüftelten sie beständig an Verbesserungen herum, denn zumindest als Michael noch für sie gearbeitete hatte, hat es noch keine Probe gegeben, die ihre Erwartungen erfüllt hätte.“
Frohike hielt entsetzt den Atem an. Sein Blick wanderte zu Langly, der sichtlich bestürzt auf dem Sofa herumrutschte. Seine Hände umklammerten krampfhaft das Polster des Sofas. „Wozu...“, Langly schluckte schwer, „aber wozu brauchen die nun aber diesen Stoff?“
„Chemische Kriegsführung“, erläuterte Susanne bitter. „Das sind die Waffen der Zukunft in der amerikanischen Kriegspolitik! Als Michael eines Tages bei uns auftauchte, nachdem er es geschafft hatte aus deren Klauen zu entkommen, und uns diese unglaubliche Geschichte auftischte, hatten wir Schwierigkeiten ihm zu glauben. Besonders bei Connor, der als einziger von uns nie im Dienste der Regierung gestanden hat, dauerte es eine ganze Weile, bis er Vertrauen zu Doktor Catalan fasste. Doch Catalan hatte handfeste Beweise in Form von Dokumenten über die Forschungsfortschritte mitgehen lassen. Wir verschafften ihm eine neue Identität, denn seinen richtigen Namen zu behalten, wäre blanker Wahnsinn gewesen. Aus Doktor Stacy Wesst wurde Doktor Michael Catalan und wir vier bildeten ein Team, um gemeinsam gegen diese Mistkerle vorzugehen. Wir entwickelten ein Gegenmittel gegen die ersten, bereits tödlichen jedoch noch nicht „idealen“ Stoffe, das den Tod zu unserem Bedauern allerdings nicht verhindern, sondern lediglich die nebenwirkenden Schmerzen lindern konnte. Wir waren uns natürlich dessen bewusst, dass Michaels frühere Arbeitgeber vermutlich nach ihm suchen und währenddessen ihre Forschungen trotzdem ungehindert weiter gehen würden. Doch Michael konnte sich in Sicherheit bei uns wähnen... das dachten wir zumindest, bis er dann letzten Mittwoch plötzlich verschwand und zwar zusammen mit seiner Tochter. Ich glaube nicht, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hat. Das ist wirklich nicht Michaels Art. Wir versuchten ihn anzurufen, ohne Erfolg. Manson, der einen Zweitschlüssel zu Catalans Wohnung besaß, schaute Donnerstag vorbei. Es waren keine Spuren davon zu sehen, dass er seine Sachen und die seiner Tochter gepackt hätte. Ich fürchte, dass *die* ihn in ihre dreckigen Finger bekommen haben.“
Ein beklemmendes Schweigen trat ein. Unterbrochen wurde die unangenehme Stille von Byers, der das Wohnzimmer betrat. „Jungs, macht euch fertig! Unser Flug geht in drei Stunden.“
Montag, 5.Februar
10.33 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Nervös trommelte Brian Connor mit den Finger auf der Tischplatte herum. Sein Blick glitt hektisch durch den Raum, der im Grunde nicht allzu groß war. Aber die Tatsache, dass ein großer ovalförmiger Konferenztisch für knapp zehn Leute darin Platz fand, ließ ihn eigenartig riesig wirken. Ein breiter Aktenschrank aus massivem Holz stand unmittelbar in der Nähe, gefüllt mit Dutzenden Mappen und Büchern.
Schon seit einer guten halben Stunde saß er nun in dem Konferenzraum, trank seine mittlerweile zweite Tasse Kaffee und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Jeglicher Versuch scheiterte jedoch und so verbrachte er seine Zeit damit angespannt auf die silberfarbene Uhr zu starren, die an der ihm gegenüberliegenden Wand kontinuierlich vor sich hintickte. Ihm fiel auf, dass einen das unaufhörliche monotone Klacken des Sekundenzeigers vollkommen nervös machte, wenn man bewusst darauf achtete.
Er seufzte tief. Seine schweren Gedanken bedrückten ihn. Wenigstens etwas positives hatte dieser Tag gebracht... in seinem Telefonat mit seiner Kollegin Holly vor ein paar Minuten, in dem er sie auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte, hatte sie ihm fest versichert, dass sie bereits einen Rückflug nach Kentucky gebucht habe und am späten Nachmittag in Midway eintreffen würde.... und zwar zusammen mit vertrauenswürdiger Hilfe!
Doktor Michael Catalans Verschwinden vor nunmehr fünf Tagen und Professor Peter Mansons Selbstmord vergangenen Freitag hatten bereits unübersehbare Spuren auf Connors sonst so jung, fröhlich und unbetrübt wirkendem Gesicht hinterlassen. Tiefdunkle Schatten schienen über seinen Augen zu hängen, die umgeben waren von schweren Ringen. Auf seinen sonst so tadellos rasierten Wangen und seinem Kinn begannen die Stoppeln immer länger zu werden.
Die letzten Nächte waren so gut wie schlaflos für ihn gewesen. Besonders in der gestrigen Nacht, als das erste Morgengrauen herannahte, hatte er sich noch immer gequält von einer Seite auf die andere Seite gewälzt, letzten Endes den aussichtslosen Einschlafversuch aufgegeben und sich in die Küche begeben. Kurze Zeit später hatte seine junge Frau Deborah voller Sorge die Küche betreten, nachdem sie durch das fehlen seines wärmenden Körpers aufgewacht war. Was denn los sei, wollte sie wissen und strich ihm dabei liebevoll über das Haar. Er habe die letzten Tage einen furchtbar verbitterten, beinahe angsterfüllten Eindruck gemacht.
Doch er konnte ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie wusste nichts von Vorfällen mit Catalan und Manson; ja selbst von dem Projekt, an dem alle drei zusammen mit der Kollegin Dr. Holly Fitzgerald schon so lange arbeiteten, hatte er ihr nur Bruchstücke erzählt. Um jeden Preis wollte er verhindern seine über alles geliebte Deborah, der er vor knapp zwei Monaten mit glücklich funkelnden Augen und dem breitesten Lächeln auf den Lippen das Ja-Wort gegeben hatte, in unnötige, gedankenlose Gefahr zu bringen. Also hatte er schuldigen Gewissens behauptet er habe sehr viel um die Ohren in der Arbeit und das belaste ihn zur Zeit... weiter nichts.
Zu allem kam nun auch noch die Geschichte, die sich gestern Abend ereignet und ihm später die schlaflose Nacht bereitet hatte. Die Bilder des Ereignisses schossen Connor erneut durch den Kopf, während er unbewusst an dem Henkel seiner Kaffeetasse zu spielen begann.
Am gestrigen Abend hatte Brian sich gegen 23 Uhr, nach reichlich Überstunden und mit dem Gefühl von nahezu erschlagender Müdigkeit, auf den Heimweg begeben. Er stieg in seinen dunkelblauen Jeep und der schwere Wagen kämpfte sich mühevoll durch den frisch gefallenen, hohen Schnee. Um ihn herum herrschte gespenstige Dunkelheit, lediglich das schwache Licht der Scheinwerfer ermöglichte ihm den Blick von einigen Metern geradeaus. Obwohl er die ungemein sichere Lage des Forschungskomplexes inmitten der fast undurchdringlichen Wälder Midways über alles zu schätzen wusste, hasste er sie an manchen Tagen doch fast ebenso sehr. Der Weg durch die Wälder war schwer befahrbar und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis man die holprige Straße verlassen hatten. Im Winter, wenn es früh finsterte und dazu noch Schnee lag, konnte es so manches Mal zu einer unheimlichen Irrfahrt werden. Connor fluchte laut, als der alte Jeep, dessen Motor bei diesen frostigen Temperaturen endlos lange zum Warmwerden brauchte, mehrmals ausging und es ihn mehrere Versuche kostete ihn erneut zu starten. Schließlich gelang es ihm das Auto einigermaßen konstant zum Fahren zu bringen und so bahnte es sich noch ein ganzes Stück durch den zugeschneiten, düsteren Wald. Plötzlich entdeckte Brian in etwa 20 Metern Entfernung etwas im Schnee, mitten auf der kleinen Straße liegend. Er ging ein wenig vom Gas und ließ den Wagen langsam vorwärts rollen. Der Blick nach außen war durch die noch immer gefrorene Frontscheibe beeinträchtigt und es war nicht zu erkennen, um was es sich handelte. Wenige Meter vor diesem „Ding“, das ihm den Weg versperrte, brachte Connor den Jeep zum stehen und stieg aus, während er den Motor laufen ließ. Das keuchende Brummen des Motors hallte in einem grässlichen Echo in den Wäldern wider. Langsam näherte er sich heran und kniete schließlich unmittelbar neben dem „Ding“ nieder. Vorsichtig tastend ließ er seine Finger darüber gleiten. Plötzlich spürte er weiches, aber kaltes Haar.
Um Gottes Willen... ein Mensch!
Das Licht der Scheinwerfer war schwach, also ertasteten Brians Finger sich ihren Weg. Ein zierlicher, kleiner Körper... vermutlich eine Frau oder ein Mädchen. Er berührte vorsichtig die Wange, ließ seine Finger zum Hals hinunter gleiten. Sie war noch warm und ein schwacher, aber konstanter Puls war zu fühlen. Offenbar lag sie zu ihrem Glück erst kurze Zeit hier.
Behutsam grub er seine Hände unter ihren regungslosen Körper, bis er ihn fest im Griff hatte und erhob sich mühsam von seinen Knien. Zunächst etwas wackelig, doch dann mit festem schnellem Schritt trug er sie zu seinem Wagen. Umständlich öffnete er die hintere Tür und legte sie auf die Rückbank. Er schaltete das Innenlicht ein und konnte nun einen Blick auf ihr Gesicht werfen.
Mit großem Entsetzen erkannte er das Mädchen wieder.
Jessie.... Michael Catalans 17jährige Tochter!
Montag, 5.Februar
10.13 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Das grelle Licht brannte schmerzend in ihren Augen, als sie sie langsam öffnete. Schützend hielt sie eine Hand davor, bis ihre Augen sich schließlich an die anfangs stechende Helligkeit gewöhnt hatten.
Vorsichtig stütze sie sich auf ihrer rechten Hand aus dem Liegen heraus auf und schaute sich etwas verwirt um. Der Raum, in dem sie sich befand, sah aus wie ein Medizinlabor oder etwas ähnliches, vollgestopft mit Computern, medizinischen Geräten, Erlenmeyer Kolben und anderen Hilfsgegenständen für Versuche und einem Haufen verschiedener Aktenordner. Der Raum war fast vollständig in weiß gehalten und ähnelte einer Zahnarztpraxis.
Sie seufzte enttäuscht. War es denn jetzt überhaupt vorbei? Schließlich hatte sie keinen Schimmer, wo sie im Moment war. Vielleicht hatten diese Kerle sie wieder in ihrer Gewalt. Das würde ihr sicheres Ende bedeuten.
Ihre Erinnerungen an den gestrigen Tag waren lückenhaft. Das einzige, woran sie sich noch einigermaßen erinnern konnte, war, wie sie orientierungslos durch die Wälder gelaufen war. Ganz zu Beginn, noch weit außerhalb der Wälder, waren sie ihr noch dicht auf den Versen gewesen, aber irgendwann musste sie die Kerle abgehängt haben und plötzlich war sie ganz allein. Es musste schon dunkel gewesen sein, als sie schließlich einen normalen Weg inmitten der dichten Baumreihen gefunden hatte. Sie wusste es nicht mehr genau. Mit dem Fund des Weges hörte ihre Erinnerung auf. Sie wusste nicht, wie sie hierher gekommen war, von wem sie hierher gebracht worden war, geschweige denn, *wo* sie nun genau war.
Langsam erhob sie sich von der Liege, auf der sie eben aufgewacht war und versuchte aufzustehen. Ihre Füße berührten vorsichtig den kalten Boden. Als sie mit beiden Beinen fest auftrat, verspürte sie wieder diesen stechenden Schmerz in ihrem linken Bein. Sie klammerte sich einen Moment am Rand der Liege fest und biss sich auf die Lippen. Der Schmerz kam ihr jetzt noch viel fürchterlicher vor, als in der letzten Nacht. Sie blickte zum ersten Mal an sich herunter und ihr fiel auf, dass man ihren rechten Arm einbandagiert hatte. Zudem war sie von jemanden in ein viel zu großes weißes Männerhemd gesteckt worden, die Ärmel auf beiden Seiten bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Als sie sich in dem Raum umsah, konnte sie ihre alte Kleidung allerdings nicht entdecken.
Sie zuckte erschrocken zusammen, als sich hinter ihr mit einem Mal die Tür öffnete. Wie gelähmt blieb sie mit dem Rücken zur Tür bewegungslos stehen. Plötzlich vernahm sie eine eigenartig vertraute Stimme.
„Hey Kleine, du bist ja schon auf den Beinen!“
Ruckartig drehte sie sich herum und entdeckte zu ihrer großen Erleichterung Brian Connor im Türrahmen stehend und ihr gutmütig zulächelnd. Aufgeregt und überglücklich fiel sie in seine kräftigen Arme.
„Jessie, übernimm dich nicht!“, riet Brian ihr sanft lachend, wurde jedoch sofort wieder ernst, „Es ist wirklich ein Wunder, dass du noch lebst und erst recht, dass du jetzt bereits wieder in einem verhältnismäßig guten Zustand bist. Du sahst wirklich sehr schlimm aus gestern Nacht, als ich dich im Schnee unweit vom Institut gefunden habe. Schnittwunden und Blutergüsse am ganzen Körper, halb erfroren. Wir mussten deinen Körper über Stunden hinweg nach und nach wieder an die Wärme gewöhnen und dich an ein künstliches Beatmungsgerät anschließen, weil dein Puls sehr schwach war. Dein linker Arm ist gebrochen und dein linker Knöchel sieht auch nicht besonders gut aus. Vermutlich gestaucht oder gezerrt. Du bist die letzte Nacht knapp am sicheren Tod vorbeigeschliddert.“
„Am Tod komme ich ohnehin nicht mehr vorbei“, schluchzte sie in den weißen Kittel des Wissenschaftlers hinein.
„Wie meinst du das?“ Schockiert umgriff er mit seinen Händen Jessies Schultern und brachte sie von Angesicht zu Angesicht. Er strich dem schlanken, fast zierlichen Mädchen über das dunkelbraune Haar und blickte in ihre blaugrauen Augen. Sie waren voll von Furcht, Bestürzung und Angst.
„Das...“, schluchzte sie erneut und versuchte ihre Tränen in den Griff zu bekommen, „das erkläre ich dir noch. Aber, Brian... Ihr seid wahrscheinlich in großer Gefahr, du, Holly und Professor Manson.“
Connor nickte verstehend. „Nun gut, du kannst mir gleich alles erzählen. Aber erst einmal möchte ich, dass du etwas isst. Du musst zu Kräften kommen. Ich habe dir ein paar warme Kleidungsstücke besorgt, denn deine eigenen sind zum größten Teil ruiniert. Holly wird bald mit Unterstützung hierher kommen. Und Professor Manson... nun ja...“ Es versetzte ihm einen schmerzenden Stich in der Brust ihr von Peters Selbstmord erzählen zu müssen.
Montag, 5.Februar
17.19 Uhr
Geheimes Forschungsgelände für Naturwissenschaften
Midway, Kentucky
Jessie machte auf Connor einen erstaunlich ruhigen und entspannten Eindruck, nachdem Doktor Holly Fitzgerald kurz zuvor zusammen mit ihrer Verstärkung auf dem Forschungskomplex eingetroffen war. Sie hatten sich alle in dem Konferenzraum neben ihrem Labor versammelt, um die neu eintreffenden darüber aufzuklären, was Catalan und seiner Tochter zugestoßen war und zu besprechen, wie nun vorzugehen sei.
Jessie versuchte mühsam sich am linken Arm zu kratzen, um den sie jetzt einen Gips tragen musste und es verging kaum eine Minute, in der dieses verdammte Ding nicht juckte wie verrückt. Sie spürte noch am ganzen Körper Schmerzen, doch eine erfrischendes Waschen in dem großen Waschraum des Forschungsgeländes und ein unheimlich köstliches Essen hatten sehr dazu beigetragen, dass sie sich wieder halbwegs wie ein normaler Mensch fühlte. Ihrem Knöchel ging es Dank einiger wohltuend kühlender Wickel wieder besser; die Schwellung hatte nachgelassen und sie konnte bereits mit mehr Druck auf den Fuß auftreten. Ihre anderen Verletzungen; die Prellungen, Schürfwunden oder Platzwunden; würden sie wohl noch eine Weile begleiten und ließen das Mädchen so aussehen, als hätte sie gerade eine üble Schlägerei hinter sich.
Was Hollys herbeigeholte Hilfe anging, war Connor im ersten Moment sehr überrascht, wenn nicht sogar skeptisch gewesen, wie drei so merkwürdige Gestalten ihnen nützen konnten. Doch als er erfuhr, dass es sich bei den drei Männern um die Herausgeber des „Lone Gunmen“ handelte, einer bekanntesten Untergrundzeitschriften, die sich mit Verschwörungen jeglicher Art befasste, hatte das die misstrauische Haltung ihnen gegenüber vollkommen verweht. Ihr gesamtes Erscheinungsbild war zwar eine zugegebenermaßen seltsame Kombination... ein Punk – Verschnitt mit langen, zotteligen blonden Haaren, schwarzgefasster Brille, verwaschener Jeans, ausgelatschten Turnschuhen und einem schwarzen Sweatshirt mit dem zerlaufenem blutigen Schriftzug „Korn“; ein kleiner Kauz, der wohl mit Mühe und Not die 1,60 erreicht hatte und für sein Alter, das wohl bei Mitte 50 liegen musste, reichlich jugendlich gekleidet war mit seiner Lederjacke und den fingerlosen schwarzen Lederhandschuhen; auch er trug eine Brille; und schließlich der dritte, der gut ein Anwalt oder aber auch ein Versicherungsvertreter hätte sein können in seinem ordentlichen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und dunkelblauer Krawatte und seiner mindestens genauso ordentlichen Frisur.... aber wen konnte man in dieser Verschwörungswelt schon als normal bezeichnen? Irgend eine Macke hatten sie alle!
Die Stimmung in dem Raum war angespannt. Man schien die Mischung aus Nervosität und Neugier mit jedem Atemzug noch intensiver zu spüren. Auch der verkrampfte Versuch eine angenehme Atmosphäre zu schaffen mit gutem Essen, Kaffee und Tee half da nicht allzu viel. Alle Augen waren erwartungsvoll auf Jessie gerichtet, bemerkte Connor, als er einen Blick in die Runde warf. Er musterte jeden einzelnen genau. Der kleine Kauz, dieser Melvin Frohike, zupfte unruhig an seinen Handschuhen herum, während sein Blick in ein ständiges Hin und Her zwischen dem Mädchen und der Musterung seiner Hände überging. Richard Langly wirkte merkwürdigerweise sehr cool und relaxt, wie er so in seinem Stuhl hing, doch das Hibbeln seines linken Fußes verriet das Gegenteil. Am meisten jedoch verblüffte Brian der Anblick seiner Kollegin und des dritten Gunman, John Byers. Er bemerkte, wie die beiden häufig Blicke austauschten, sich scheue und kurze Lächeln schenkten und er meinte sogar ein Mal gesehen zu haben, wie Susanne kurz seine Hand gehalten hatte.
War da möglicherweise etwas im Busch zwischen den beiden? War John vielleicht die „private Angelegenheit“, die sie noch zu erledigen hatte? Connor errötete auf die Farbe einer Tomate, als Susanne ihm plötzlich direkt in die Augen blickte, denn erst jetzt fiel ihm auf, wie er die beiden unbewusst angestarrt hatte. Schnell wandte er den Kopf von ihr weg, als Jessie neben ihm auf einmal ihren Stuhl zurechtrückte und sich laut räusperte.
Nun gehörte alle Aufmerksamkeit ihr.
„Ich...“, begann sie zögerlich und versuchte die richtigen Worte zu finden, „ich bin mir unsicher, wo und wie ich überhaupt beginnen soll. Ich habe heute Vormittag Brian bereits alles darüber erzählt, was mit meinem Vater und mir geschehen ist, das war allerdings bevor ich von Professors Mansons Tod erfahren habe.“ Brian legte behutsam seine Hand auf die des Mädchens, als er merkte, wie ihre Stimme tränenerstickt zu beben begann. „Ich bin mehr als entsetzt und unheimlich betroffen von seiner Tat... Ich verstehe es nicht. Ich habe ihn immer für so einen starken Menschen gehalten.“
Einige Tränen kullerten ihre Wange hinunter. Obwohl sie die Kollegen ihres Vaters erst ein paar Monate kannte, waren sie ihr auf fast familiäre Weise ans Herz gewachsen. Ihr Vater hatte sie oft nach Hause eingeladen, wo sie nicht nur berufliche Dinge besprochen, sondern sich auch gerne mal einfach nur gemütlich zusammengesetzt und sich über dies und jenes unterhalten haben. Jessie war fast immer mit von der Partie. Da es der heiße und fest entschlossene Wunsch des Mädchens gewesen war in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und selbst auch Wissenschaftlerin zu werden, wenn auch eher im Bereich der Biologie, hatte sie sich unheimlich gerne in Gespräche mit den drei anderen Wissenschaftlern vertieft. Sie zeigten großes Interesse an Jessies Berufswunsch und erzählten ihr viel über ihre eigenen Erfahrungen mit Naturwissenschaften. Auch ihnen hatten „die Kleine“, wie sie Jessie liebevoll nannten, obwohl das Mädchen sich zumeist schmollend darüber aufregte, denn schließlich war sie mit ihren 17 Jahren bei weitem keine „Kleine“ mehr, zunehmend in ihr Herz geschlossen.
Sie atmete tief durch und gewann wieder an Fassung. „Nichtsdestotrotz dürft Ihr nicht länger hier bleiben. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden *die* auch nach Euch suchen!“
„Nun gut, Jessie“, bestätigte Susanne sanft nickend. „Wir werden uns auf jeden Fall beratschlagen, was zu tun ist. Aber erzähl’ uns doch bitte erst einmal, was vorgefallen ist.“ Aufmunternd lächelte sie Jessie an. Jessie wog den Kopf nachdenklich hin und her, bemerkte schließlich, dass alle sie noch immer gespannt beobachteten und offensichtlich darauf warteten, dass sie fortfuhr. „Es ist in der Tat so, wie Ihr vermutete habt“, setzte Jessie letztendlich an. „Mein Dad und ich, wir wurden tatsächlich von *denen* festgehalten. Wir fuhren an jenem Mittwochabend gerade nach Hause, nachdem Dad mich ins Kino eingeladen hatte als Belohnung für meine guten Noten in der letzten Zeit. Es war schon vollkommen dunkel um uns herum und kein Mensch außer uns war auf der Straße unterwegs mit dem Auto... na ja, bis auf einen Wagen, der eine ganze Weile in großem Abstand hinter uns herfuhr. Mir wäre der Wagen nicht weiter aufgefallen, wenn der Fahrer nicht plötzlich sein Tempo rasant beschleunigt hätte. Mit einem Mal war das Auto neben uns und begann uns zu rammen, bis Dad die Kontrolle verlor und wir von der Straße abkamen.“ Jessie hielt einen Moment inne und blickte in die verwirrten Gesichter der Erwachsenen um sie herum.
„An den Rest erinnere ich mich kaum. Ich muss irgendwann das Bewusstsein verloren haben. Ich sehe nur noch meinen Vater vor mir, der blutend und regungslos über dem Lenkrad hing. Ich wachte in einem düsteren Gebäude, vermutlich eine verlassene alte Lagerhalle, auf dem Boden liegend auf. Um mich herum waren einige kleine medizinische Geräte aufgebaut worden, an die man mich angeschlossen hatte. Ich hörte in der Ferne Stimmen und als ich meine Umgebung wieder wahrzunehmen begann, entdeckte ich Dad durch eine halboffene Tür eines Nebenraums hindurch, wie er hitzig mit jemandem diskutierte. Er schrie sein Gegenüber an. Er hatte ganz offenbar Angst.“
Sie fuhr sich mit ihrer gesunden Hand über die Stirn. Sie wirkte jetzt mitgenommen und müde. Byers und Langly wechselten einen fragenden Blick. „Hör mal, Jessie“, sagte Byers voller Rücksicht, „wenn es dir zu viel, dann brauchst du nicht weiterzusprechen. Connor kann es uns zu Ende erzählen. Du kannst gehen und dich ausruhen.“
„Nein, nein“, versicherte das Mädchen überzeugt, „ich bin noch einigermaßen fit. Es ist nur... ich fürchte, ich kann nicht viel mehr über die Ereignisse berichten. Meine Erinnerungen an all das sind wie ausgelöscht.
Irgendwann... es muss wohl gestern Abend gewesen sein... bin ich aufgewacht, in einem Auto, und Dad saß neben mir am Steuer. Wir mussten nicht weit von Midway festgehalten worden sein, denn ich erkannte die Gegend als Nicholasville wieder, wo Brian und Holly wohnen. Er hatte es irgendwie geschafft zu fliehen und mich mitzunehmen. Allerdings war er sich sicher, dass sie uns dicht auf den Fersen waren. Er beschloss mich allein fortlaufen zu lassen, damit ich mich in Sicherheit bringen könnte, und sich selbst den Kerlen zu stellen und mir so einen guten Vorsprung zu ermöglichen.“ Sie spürte plötzlich einen Kloß in ihrem Hals. Tränen schossen ihr in die Augen, die sie krampfhaft versuchte zu unterdrücken. „Ich war verzweifelt, habe geschrieen, dass ich ihn nicht allein zurücklassen werde, aber er hat kein Widerwort geduldet. Als ich schließlich schon ein ganzes Stück gelaufen war, hörte ich Schüsse hinter mir. Sie waren da, ganz in meiner Nähe, aber ich bin entkommen. Aber Dad...“
In diesem Moment begann Jessie nun tatsächlich loszuweinen. Bestürzt erhoben sich Connor und Susanne von ihren Stühlen und gingen zu ihr hinüber, während die Lone Gunmen besorgte Blicke tauschten. Das Mädchen fiel der Wissenschaftlerin um den Hals, welche sie einen Moment lang einfach nur festhielt und beruhigend über den Kopf streichelte.
„Jessie“, sprach Brian ihr beinahe flüsternd zu, „geh dich ein wenig ausruhen.“ Sie halfen ihr sich von ihrem Stuhl zu erheben. Humpelnd verließ sie das Zimmer. Brian und Susanne sahen ihr besorgt hinterher.
„Es ist furchtbar“, sagte Susannes Kollege nach kurzem, einheitlichem Schweigen zu den restlichen Anwesenden zugewandt. „Aber eins hat Jessie Euch noch nicht erzählt und ich hätte es ihr beim besten Willen auch nicht zugemutet es ein zweites Mal zu erzählen....“
Er hielt inne, schüttelte einen Moment für sich den Kopf. Sein Blick war in weite Fernen abgedriftet, als er wieder zu sprechen begann.
„Ich vermute, dass es als Druckmittel auf Catalan gedacht war, um Informationen von ihm zu erhalten. Jedenfalls haben... haben diese Schweine der Kleinen den Stoff injiziert, zu dessen Herstellung Catalan selbst unwissend einen Teil beigetragen hat. Catalan hat es selbst mit ansehen müssen, wie man seiner Tochter das Zeug eingeflößt hat. Später, während ihrer Flucht, musste er ihr die bittere Wahrheit erzählen über das, was man ihr angetan hatte. Er erzählte Jessie, dass wir ein Gegenmittel hätten und versuchte sie auf diese Weise davon überzeugen, dass sie ihn selbst zurücklassen und unbedingt ihren Weg zu uns finden müsse. Scheinbar hatte er die Hoffnung, dass wir ihr helfen könnten.“
„Aber“, stammelte Frohike unsicher, „aber dieses Gegenmittel... es lindert doch nur die Schmerzen, die der Stoff verursacht. Ich meine, es kann doch nicht...“
„So ist es leider“, unterbrach Susanne ihn mitten im Wort. „Es wird ihren Tod hinauszögern, aber nicht verhindern können.“
Nachdem sie sich in dem Labor, das an den Konferenzraum anschloss, etwas ausgeruht hatte, beschloss Jessie sich in dem winzigen Waschraum, der eigens diesem Labor angehörte, zu erfrischen. Sie hatte aufgeregte Diskussionen aus dem Konferenzraum gehört, wobei sie nicht weiter darauf geachtet hatte, worüber Holly, Brian und die drei anderen Männer sprachen. Sie war sich aber ziemlich sicher, dass Brian es ihnen erzählen würde.
Sie humpelte mühevoll durch den Raum in Richtung Waschraum. Behutsam schloss sie schließlich die Tür zu dem Waschraum hinter sich und ging auf die Waschbecken an der rechten Wand zu. Sie drehte den Hahn auf und während das angenehm kühle Wasser in ihre Hände floss, wagte sie einen Blick in den Spiegel über dem Becken. Sie sah tatsächlich schon besser aus als heute morgen noch, wo sie sich das erste Mal so schlimm zugerichtet im Spiegel gesehen hatte. Zwar waren ihre Wunden logischerweise kaum merkbar geheilt, aber die Erholung war ihrem Gesicht deutlich anzusehen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren fast vollständig verschwunden und die Blässe ihrer Haut war bereits einem noch schwachen rosa gewichen.
Jessie spülte ihren Mund mit dem kühlen Wasser durch, bis der fade Nachgeschmack des Essens nachgelassen hatte und spritzte sich dann einige Tropfen ins Gesicht. Es war angenehm erfrischend und belebend.
Sie riss einige Lagen Papiertücher aus dem dafür vorgesehenem Halter, als sie plötzlich einen krampfartigen Schmerz an ihrem Kopf spürte. Es wiederholte sich zwei, drei, vier Male. Sie fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und biss die Zähne schmerzerfüllt zusammen. Von einer Sekunde zur nächsten trat völlige Schwärze vor ihre Augen und sie verlor den Halt unter ihren Füßen.
Alle fünf zuckten zusammen, als sie einen dumpfen Knall hörten, der irgendwo aus dem Labor herrühren musste. Connor war der erste, der sich aus der angespannt lauschenden Starre lösen konnte, welche nur auf ein weiteres Geräusch ausgerichtet zu sein schien. "Ich gehe mal lieber nachsehen", sprach er und erhob sich von seinem Stuhl. "Jessie ist schwach auf den Beinen. Nicht, dass ihr etwas passiert ist."
Ein einheitlich zustimmendes Nicken und er verließ den Konferenzraum und durchquerte mit vorsichtigen Schritten aufmerksam das Labor.
"Jessie?", fragte Connor mit lauter Stimme. Keine Antwort.
Er näherte sich der Tür zu dem kleinen Waschraum und klopfte schließlich behutsam an. "Jessie? Ist alles in Ordnung bei dir?" Wieder bekam er keine Antwort, meinte aber von innen ein gequältes Stöhnen zu vernehmen.
Plötzlich erhallte ein schmerzerfüllter Schrei aus dem Waschraum. Ohne einen weiteren Moment zu zögern riss Brian die Türe auf und stürmte hinein.
Sofort entdeckte er Jessie am anderen Ende des kleinen Raumes.
Sie lag unterhalb des Waschbeckens auf der Seite, mit dem Rücken zu ihm, und wand sich auf dem Boden. Brian eilte zu dem Mädchen hinüber, nahm ihren Oberkörper in seine Arme und drehte sie vorsichtig auf den Rücken. Entsetzt hielt er den Atem an, als er in Jessies Gesicht blickte. Blut schoss aus Nase und Mund des Mädchens hervor. Ihre Augen waren glasig, ihr Mund zu einem lauten Schrei geöffnet, doch kam kein Ton heraus.
"Jessie?", sagte Connor verzweifelt. "Jessie, sag bitte etwas!"
Doch das Mädchen war nicht ansprechbar und reagierte weder auf Worte noch auf Berührungen. "Holly!!", schrie der Wissenschaftler aus vollster Kehle durch die halboffene Tür. "Ich brauche Eure Hilfe!"
Sekunden später stürmte seine Kollegin in den Waschraum, gefolgt von den drei Lone Gunmen, die unsicher und zurückhaltend im Türrahmen stehen blieben.
"Oh mein Gott!", entfuhr es Susanne mit entsetzter Stimme, als sie sich zu Connor und Jessie herabbeugen wollte.
"Jungs, bitte holt schnell weitere Hilfe herbei!" Susanne blickte die drei Männer flehend an, bevor sie eine handvoll Papiertücher aus dem Kasten riss, um das Blut zu stoppen. Frohike eilte sogleich aus dem Labor, um jemanden zu holen.
Jessies Körper zuckte noch einige Male in Brians Armen, bevor er zur Ruhe kam und das Mädchen in sich zusammensackte. Sie blieb regungslos und schien das Bewusstsein nun vollkommen verloren zu haben. Langly und Byers, die das ganze Szenario hilflos dastehend mitverfolgt hatten, traten einen Schritt beiseite, als ein weiterer Mitarbeiter des Instituts, bepackt mit einem großen grauen Medizinkoffer, an ihnen vorbei in den Waschraum eilte, gefolgt von ihrem Kumpel Frohike.
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