World of X

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You are my angel

von Claudia Schubert

Kapitel 1

Glauben Sie an Engel? Ich habe mir diese Frage eigentlich noch nie wirklich gestellt und wahrscheinlich würden viele Menschen zu dem Entschluss kommen, dass es sie nicht gibt. Ich meine, wie oft hat man schon ein Stoßgebet gen Himmel geschickt, aber vergebens auf eine Antwort gewartet? Nie kam ein göttliches Zeichen oder ein engelhaftes Wesen und hat einem aus seinem Dilemma geholfen. Dennoch sind viele von ihrer Existenz überzeugt. Aber was ist es, das uns an diese Dinge glauben lässt? Warum glauben wir an Gott und an seinen Schutz? Ich persönlich denke, es ist Hoffnung. Eine Verankerung, an der wir versuchen Halt zu finden, wenn wir uns in einer schwierigen Lebenssituation befinden. Obwohl ich nicht oft in die Kirche gehe, weiß ich, dass uns dort gelehrt wird an diese Hoffnung zu glauben und wir somit jedes Problem lösen können. Wir denken, der Glaube an Gott und unsere eigene Stärke helfen uns. Doch was ist, wenn es tatsächlich Wesen gibt, die über uns wachen? Wenn es in Wirklichkeit die Engel sind, die uns vor Unheil beschützen? Und was ist, wenn wir diese Engel lieben lernen...








~ Jemanden zu lieben heißt als Einziger ein für alle unsichtbares Wunder zu sehen. ~





Unruhig drehte sich Dana von einer Seite auf die andere. Schon seit Stunden lag sie hier, unfähig auch nur ein Auge zuzumachen. Sie spürte, dass es bald soweit sein würde. Schon seit ein paar Tagen hatte sie dieses Gefühl, dass sich in ihrem Leben etwas verändern würde. Leben. War es das, was sie hatte? Eigentlich war sie ja nur vorübergehend hierher geschickt worden, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie hätte sich niemals so sehr an diesen momentanen Zustand gewöhnen dürfen. Aber wie sollte man das Geschehene rückgängig machen? Vor allem, wenn die Taten durch Gefühle geleitet wurden?

Wieder drehte sie sich in ihrem Bett auf die andere Seite. Der Radiowecker zeigte drei Uhr morgens an. Sie stieß einen resignierten Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Warum war nur alles so kompliziert? Es musste ihr doch möglich sein, Beruf und Emotionen auseinander zu halten. Verdammt noch mal, das hier war nur ein Job! Wenn er erledigt sein würde, bekäme sie einen neuen Fall zugeteilt und das Ganze würde von vorn losgehen. Aber diesmal war es mehr - viel mehr. Wie konnte sie nur annehmen, dass sie das alles vergessen würde, wenn die Sache beendet war?

Sie wandte ihren Kopf dem Fenster zu und dann sah sie es. Das kurze Aufblitzen eines Lichtstrahles und die darauffolgende warme Luftbrise, die mit den Vorhängen spielte. Sie setzte sich aufrecht hin und blickte in die Richtung, in der sie nun ihren Besucher vermutete. Es war still in ihrem Zimmer, doch sie konnte seine Anwesenheit spüren. Es gehörte zu ihren Fähigkeiten, wenn man es so nennen wollte. Schwer atmend starrte sie konzentriert in die dunkle Ecke. ,,Komm heraus”, sagte sie in die Stille. ,,Ich weiß, dass du da bist.”

Der Aufforderung Folge leistend kam auf einmal ein junger Mann hinter dem Vorhang hervor. Sein mittelblondes, kurzes Haar fiel ihm leicht in die Stirn. Er hatte eine schlanke Figur, die noch zusätzlich durch den langen, cremefarbenen Mantel, den er trug, betont wurde. Seine Augen strahlten Wärme und Freundlichkeit aus, trotzdem waren sie in diesem Moment vollkommen ernst. Er zögerte kurz, kam noch näher auf sie zu und blieb erst vor dem Bett stehen. Immer noch schweigend blickte er auf sie hinab.

,,Sam”, flüsterte sie und sah ihm in die Augen. ,,Bist du hier, um mich abzuholen?”, fragte sie leise und er nickte. Sie verstand, ihre Aufgabe war getan.

,,Es wird Zeit für dich nach Hause zu kommen”, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu. ,,Er braucht dich nun nicht mehr.”

War das wirklich so? Und was, wenn sie ihn aber nicht mehr verlassen wollte? Sie wusste selbstverständlich, dass das unmöglich war. Es war untersagt. Aber was, wenn mittlerweile sie ihn brauchen würde? ,,Und wenn Die ihn wieder beiseite schaffen wollen?”, fragte sie besorgt.

Der Mann schüttelte den Kopf. ,,Nein, das werden sie nicht. Du hast ihn gut beschützt; die Sache ist erledigt. Du hast deine Aufgabe schon seit einiger Zeit beendet. Die letzten Monate über, war deine Anwesenheit hier eigentlich überflüssig.”

Sie überlegte einen Moment und ließ sich die Worte, die er gerade gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Gut beschützt. Okay, er lebte noch, das war nicht von der Hand zu weisen, aber dennoch gab es da genug Dinge, Schicksalsschläge, die sie nicht hatte verhindern können. Sein Vater war erschossen worden, seine Mutter hatte sich das Leben genommen. Dana hatte sich schon einige Male gefragt, ob das wirklich hatte geschehen sollen oder ob sie einfach nur nicht aufmerksam genug gewesen war. ,,Ja, aber ich konnte nicht verhindern, dass er seine Familie verliert. Bald ist Weihnachten und dann wird er das Fest der Liebe ganz allein verbringen müssen.”

Sie sah ihn bittend an, doch er ließ sich von ihrem steinerweichenden Blick nicht beirren. Nachdem er sie kurz skeptisch gemustert hatte, fuhr er mit fester Stimme fort: ,,Ich weiß, dass bald Weihnachten ist. Genau deshalb hole ich dich hier ja auch weg! Die Chance, dass er sich in dich verliebt, ist einfach zu hoch und wenn wieder so eine Sache wie in seinem Hausflur passiert, weiß ich nicht, woher ich mitten im Winter eine Biene hierher beordern soll, nur um deinen Hintern aus dem Schlamassel zu ziehen! Und das wollen wir doch beide nicht, oder?”

Er warf ihr einen strengen und wissenden Blick zu, welchem sie jedoch geschickt auswich. Er wusste genauso gut wie sie, dass es ein leichtes gewesen wäre, sich aus dieser Situation zu befreien, sie es aber nicht gewollt hatte. Es war nicht zu leugnen, dass sie über die Jahre hinweg eine kleine Schwäche für ihren Schützling entwickelt hatte. Gut, es war verboten, aber rein theoretisch gesehen wäre es doch eigentlich möglich... Sie schüttelte kurz den Kopf und verwarf den Gedanken wieder. Man würde ihr da oben zur Schnecke machen! ,,Ähm, nein... nein, das wollen wir nicht, Sam”, stotterte sie. Sie sah beschämt zur Seite, als könnte er nur allein an ihren Augen ihre Gedanken erraten. ,,Und wann genau ist es soweit? Was wird passieren?”

Er zuckte mit den Schultern. ,,Es wird wie immer sein, denke ich. Ansonsten kann ich dir nicht sagen, wann du geholt wirst. Innerhalb der nächsten zwei Wochen, nehme ich an. Du weißt ja, wie das abläuft, ich sage dir aber noch mal Bescheid .”

Sie nickte. Ja, sie wusste, wie so etwas ablief. Sie selbst hatte das schon mindestens ein Dutzend Mal durchgemacht. Meist wurde ein Unfall vorgetäuscht oder man fand eine anderweitige Lösung, um einen von seinem Schützling fortzubekommen. Bis jetzt hatte das auch immer perfekt geklappt, doch diesmal wollte sie nicht fort. Sie wollte und konnte es nicht mehr. Wahrscheinlich würde diese Sache ihre ganze spätere Arbeit beeinflussen. Himmel, was sollte sie nur tun? In diesem Moment war sie froh, dass Sam nicht ihre Gedanken lesen konnte, sonst wäre sie aufgeschmissen gewesen. Er hätte ihr sicher eine stundenlange Standpauke gehalten - vorrausgesetzt, er hätte sie nicht gleich erschlagen. Im übertragenden Sinne natürlich. ,,Ja, verstehe”, erwiderte sie leise und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. ,,Aber...” Sie stockte. ,,Ich meine, ...”

,,Keine Sorge”, unterbrach sie Sam. Er wusste ohnehin, was sie bedrückte. ,,Wir werden versuchen eine Möglichkeit zu finden, die er verstehen wird. Du wirst ihn nicht verletzen.”

Sie nickte, antwortete jedoch nicht. Wenigstens etwas. Sie hätte es nicht ertragen können zu wissen, dass er ihretwegen unglücklich war. Er würde es verstehen und sie würde es auch tun, sie tat es schon, auch wenn sie es noch nicht akzeptieren wollte. Aber das würde sie auch irgendwann, immerhin war es das einzig Richtige. Sie sah zu Sam auf, der ihr aufmunternd zulächelte. Er kam noch ein Stück näher auf sie zu und kniete sich neben das Bett. Sanft strich er über ihre Hand, nur um sie dann mit seiner eigenen zu umschließen. ,,Glaub mir, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst”, sagte er ruhig, während er leichte, kreisförmige Bewegungen mit seinem Daumen auf ihrer Hand zog. Sie reagierte nicht. ,,Du magst ihn, habe ich Recht?”

Nun blickte sie zu ihm auf, war aber immer noch nicht gewillt, ihm etwas zu sagen. Was hätte sie auf so eine Frage denn auch antworten sollen? ,Oh ja, ich habe mich bis über beide Ohren in meinen Schützling verliebt. Okay, ich weiß, das verstößt so gut wie gegen alle Regeln, die es bei uns je gab, aber, hey, that’s life!’ Er würde sich sicher sehr freuen, das zu hören!

,,Was du aber nicht weißt, ist, dass es mir vor einiger Zeit ebenso erging”, sprach Sam weiter und genoss plötzlich ihre ganze Aufmerksamkeit. Er schmunzelte. „Sie war Ärztin, eine ziemlich gute sogar. Ich wurde eigentlich nur zu ihr geschickt, weil ihr ein Patient weggestorben war und sie sich zu dieser Zeit furchtbare Selbstvorwürfe machte. Theoretisch hätte ich nach ein paar Wochen wieder gehen können, doch ich blieb.” Er unterbrach sich kurz und dachte zurück. „Wir waren uns näher gekommen, zu nah, als dass es erlaubt gewesen wäre. Du kannst dir vorstellen, wie mein Boss auf die Nachricht, dass ich auf der Erde bleiben wollte, reagiert hat.” Er lachte. „Himmlisches Gebot Nr. 1: Fange nie etwas mit deinem Schutzbefohlenen an. Ich fand diese Regel damals so hirnrissig. Wir sollten am besten wissen, dass man Gefühle nicht steuern kann. Ich musste alles hinschmeißen, um bei ihr sein zu dürfen. Meinen Job, meinen Rang, einfach alles.” Wieder stockte er und sah nachdenklich auf seine Hand, die noch immer die ihre festhielt. ,,Ich tat es. Ich ließ alles hinter mir und kam auf die Erde... Noch immer als Engel. Du weißt, uns ist es nicht möglich wie die Menschen zu sein. Wir fühlen gleich, ja, aber nur auf Erden – wir unterscheiden uns einfach. Und glaub mir, dieser Gedanke kann unerträglich werden, ich weiß, wovon ich spreche! Ich konnte ihr nie die ganze Wahrheit über mich sagen.“ Er schluckte. „Unsere Beziehung hielt gerade mal zwei Monate, dann ist sie einfach gegangen und ich stand allein da...“ Wieder machte er eine Pause und sah sie an. „Verstehst du, ich will doch nur nicht, dass dir genau das gleiche passiert. Glücklicherweise durfte ich wieder zurück nach oben kommen.”

Gedankenvoll sah sie auf die Hände in ihrem Schoß. Sie hatte nicht gewusst, dass Sam auch ein Schutzengel gewesen war. Sie kannte ihn immer nur als Vermittler. Sie seufzte, machte eine trotzige Bewegung und sah zu ihm auf. ,,Das ist so unfair”, sagte sie und ließ sich zurück in die Kissen fallen.

Er lachte. „Ja, aber du wirst nichts dagegen tun können. Es gibt nur zwei Möglichkeiten und du musst selbst entscheiden, was du tust. Aber ich bitte dich von ganzem Herzen, handle nicht unüberlegt! Auch wenn du hier bleibst, du wirst nur seelisch lieben können.”

Sie schwieg einen Moment und sah ihn an. Er hatte Recht, es war ihre Entscheidung, aber woher sollte sie wissen, welche die Richtige war? ,,Hast du jemals bereut, was du getan hast?” Ihre Stimme war leise und ihr Blick nachdenklich. Sie schien durch ihn hindurch sehen zu können, während sie auf eine Reaktion wartete.

Er musterte sie und überlegte. Er kannte die Antwort, aber er wusste nicht, ob er sie ihr sagen konnte. Er hatte seinen Entschluss nie bereut – keine einzige Sekunde. Auch wenn er alles noch einmal tun könnte, er würde nichts ändern. Es stimmte, sie hatte ihn damals verlassen, aber die Stunden, die er mit ihr verbracht hatte, waren alles wert gewesen. Er suchte Danas Blick. Er wollte ihre Entscheidung auf keinen Fall beeinflussen, aber genauso wenig wollte er sie belügen. „Ich weiß es nicht“, sagte er leise. Noch einmal sah er in ihre Augen und ihr Blick ließ ihn nach kurzem Bedenken unwillkürlich den Kopf schütteln. „Nein“ flüsterte er. „Nein, das habe ich nicht.“

Sie nickte und schloss ihre Augen. Sie kannte das Risiko, auf das sie sich einlassen würde, aber war es das nicht wert? War er es nicht wert? Andererseits, was wäre, wenn er ihre Gefühle nicht erwidern würde? Sie verwarf diesen Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Sie wollte über diese Möglichkeit nicht nachdenken, sie würde sie zu sehr verwirren. Außerdem spürte sie es an der Art, wie er sie ansah, in jedem Wort, das er zu ihr sagte. Er musste mehr für sie empfinden, die Frage war nur, wie viel mehr? Und wie sollte eine Beziehung zwischen Mensch und Engel aussehen – es war unmöglich! Sie durfte nicht lieben, das war die Realität.

„Ich muss jetzt gehen“, riss sie Sam aus ihren Gedanken. „Du weißt ja, wie du mich erreichen kannst.“ Er machte eine kurze Pause und sah auf sie herab. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre Schulter. „Hey, Kopf hoch, ich weiß, dass du die richtige Entscheidung treffen wirst.“

Dana reagierte nicht, sie war viel zu sehr in ihre eigenen Gedanken vertieft. Sam wartete nicht länger und wandte sich dem Fenster zu. Noch einmal drehte er sich zu ihr um. Er hoffte zutiefst, dass sie – egal, wie sie sich entschied – es später nicht bereuen würde. Er hatte sie eigentlich davon abbringen wollen hier zu bleiben, doch sie empfand soviel für diesen Menschen. Er atmete tief durch und schloss dann die Augen. Wieder wehte der warme Wind und binnen einer Sekunde war er verschwunden. Zurück blieb Dana. Sie saß noch immer starr auf dem Bett und sah auf einen imaginären Punkt vor ihr. Ihre Gefühle trugen einen stillen Kampf mit ihrem Verstand aus. Als Sieger ging keiner hervor und Dana ließ sich wieder zurück in die Kissen sinken. Langsam bildete sich eine Gänsehaut auf ihren Armen, sie wusste nicht, ob es an den Temperaturen in ihrem Schlafzimmer oder an ihrem momentanen Gemütszustand lag. Sie kuschelte sich noch enger in ihr Kopfkissen und zog die Bettdecke über ihren Oberkörper. Ihre Augen blieben geöffnet, sie konnte jetzt nicht mehr schlafen. In ein paar Stunden müsste sie ohnehin aufstehen und würde hoffentlich auf andere Gedanken kommen, vorausgesetzt, das war in seiner Gegenwart überhaupt möglich.





~*~*~*~





Gedankenverloren ging sie auf sein Büro zu. Mulder würde sicherlich schon da sein, er kam immer früher als sie. Sie hatte sich schon manchmal gefragt, ob er seine Wohnung nicht mochte, denn soweit sie es überblicken konnte, war er fast die ganze Zeit über hier. Seine Arbeit war sein Leben, kein Wunder, dass er manchen zu lästig geworden war. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog er es auch konsequent durch und in diesem Falle war sein Ziel nun einmal, die Wahrheit zu finden. Die Wahrheit, die bis jetzt immer gründlich versteckt worden war. Dana hatte ihm bei seiner Suche immer tatkräftig zur Seite gestanden, denn auch sie billigte nicht, was Die taten. Selbstverständlich durfte sie keine ihrer Kräfte einsetzen, aber Mulder und sie hatten doch einiges erreicht. Sie würde es vermissen, mit ihm auf Geisterjagt zu gehen. Auch wenn sie am Anfang seiner Arbeit kritisch gegenüber gestanden hatte. Sie hatte natürlich nicht daran gezweifelt, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab, auch wenn er das vielleicht so aufgefasst hatte. Sie hatte ebenfalls gewusst, dass es Leben auf anderen Planeten gab. Was sie aber nicht akzeptieren wollte, war, dass dieses Leben an allem schuld sein sollte! Als Engel wusste sie das besser. Kaum war ein Lichtstrahl am Himmel gewesen, dachte Mulder an ein übernatürliches Phänomen. Mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und stellte nicht mehr alles in Frage – manchmal hatte er immerhin auch Recht.

Als sie vor der Bürotür angekommen war, strich sie sich noch einmal kontrollierend über die Haare, ein kleines Ritual, welches sich innerhalb der letzten Jahre bei ihr eingebürgert hatte. Sie wusste, dass es eigentlich idiotisch war, aber in seiner Nähe wollte sie einfach gut aussehen. Nach einem letzten kritischen Blick betrat sie schließlich Mulders Büro. Sie bezeichnete es prinzipiell als sein Büro. Erstens war sie nur vorübergehend an seiner Seite und zweitens hatte sie hier noch nicht einmal einen Schreibtisch! Er saß nicht, wie sonst, vor einer Akte, sondern sah sich auf dem Projektor einige Dias an. Ein alarmierendes Läuten begann in ihrem Kopf, Projektor hieß immer neuer Fall. Sie konnte sich also schon mal auf eine lange Woche einstellen. Falls sie überhaupt noch die ganze Woche da sein würde, fiel ihr plötzlich wieder ein.

„Morgen, Mulder“, begrüßte sie ihn und stellte ihre Tasche auf seinem Tisch ab.

Er schien wirklich sehr an diesen Dias interessiert zu sein, er sah nur kurz zu ihr herüber und murmelte ein flüchtiges ,Hi’. Dann nahm er seine Brille ab und winkte sie zu sich. „Sehen Sie sich das an, Scully!“

Sie glaubte eine gewisse Spur von Aufregung in seiner Stimme zu hören. So als wäre er auf einen Hinweis gestoßen, um anschließend eine Spur zu verfolgen. Sie stellte sich direkt neben ihn und sah auf das Bild an der Wand. Kornkreise. Sie stöhnte innerlich genervt auf. Kornkreise gehörten zu den Sachen, die einen keinen Schritt weiterbrachten, das wusste sie. Er war da anscheinend anderer Meinung. Mit faszinierten Blicken studierte er die Fotographie und erzählte ihr dabei immer wieder, wie furchtbar interessant solche Erscheinungen doch wären. Sie hörte ihm nicht wirklich zu, sondern lauschte viel mehr seiner Stimme. Irgendwie würde sie seine haarsträubenden Theorien vermissen. Immer, wenn er ihr etwas verdeutlichen wollte, bekam er dieses jungenhafte Glänzen in den Augen, wie ein Kind, das gerade das ferngesteuerte Auto bekommen hat, welches es sich schon eine halbe Ewigkeit gewünscht hatte. Er hätte Lehrer werden sollen, schoss es Scully durch den Kopf. Er hatte ein Talent dafür, einem die undenkbarsten Dinge so zu erzählen, dass man sie am Ende für möglich hielt. Selbst sie hatte er oft dazu gebracht, dass sie ihm irgendwie Recht gab. Natürlich lag dies auch daran, dass sie Dinge wusste, von denen er nur träumte, aber sie konnte sich gut vorstellen, dass er sie auch so überzeugen könnte.

„Scully?“

Verwirrt blickte sie zu ihm auf. Sie war heute mir ihren Gedanken nicht bei der Sache. Sie hoffte nur, dass ihm ihre Unaufmerksamkeit nicht allzu sehr aufgefallen war. „Ähm, Entschuldigung... Was wollten Sie wissen?“, fragte sie verlegen und sah ihn um Verzeihung bittend an.

Er musterte sie kurz. „Ich wollte ihre Meinung bezüglich meiner Theorie hören.“

Sie warf einen schnellen Blick auf das Dia, sah dann wieder zu Mulder. „Ihre Theorie“, begann sie stockend und überlegte, wie sie sich herausreden konnte. Er sollte nicht merken, dass sie ihm nicht wirklich zugehört hatte. „Die klingt plausibel“, sagte sie vorsichtig und wartete auf seine Reaktion.

Skeptisch sah er sie an. Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. „Soll das etwa ein Scherz sein, Scully?“ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann ernster fort. „Sie scheinen etwas abwesend zu sein. Ist alles in Ordnung?“

Sie schwieg einen Moment, während sie ihn nachdenklich ansah. Es war nicht alles in Ordnung, aber was sollte sie ihm schon sagen? Letztendlich entschied sie sich für ihre Standartantwort, welche sich über die Jahre hinweg eingebürgert hatte. „Ja, sicher. Mir geht es gut, machen Sie sich keine Sorgen. Ich war nur in Gedanken.“

Sie wunderte sich manchmal, dass er ihr das immer gleich abnahm. Wenn ihr jemand andauernd sagen würde, dass es ihm gut ginge, obwohl sie das Gegenteil wusste, würde sie ihm den Kopf abreißen. Aber manchmal konnte Mulders Verhalten in dieser Hinsicht auch hilfreich sein – wie jetzt eben. Irgendwie konnte man ihm ansehen, dass er ihr nicht glaubte, aber er akzeptierte es nun mal. „Wie Sie meinen, Scully.“ Er drehte sich wieder dem Dia zu. „Na, jedenfalls habe ich für uns zwei Flüge nach England gebucht. Wir fliegen aber erst Montag. Sie können das Wochenende über also noch einmal richtig ausspannen, bevor es losgeht.“

Scully rang sich ein schwaches Lächeln ab und sah zur Seite. „Ja, das wird wohl besser sein. Ich hatte heute nicht gerade viel Schlaf.“

Mulder grinste. „Männerbesuch?“

„Mhm, ganz bestimmt“, gab Scully ironisch zurück. Mulder war manchmal wirklich hirnrissig. Er wusste genau, dass sie keinen Freund oder Ähnliches hatte. Wollte er sie ärgern oder nur versichern, dass er der einzige Mann in ihrem Leben war? Wenn es Letzteres wäre, würden sie seine Anspielungen nämlich nicht verärgern, sondern vielmehr schmeicheln. Sie stieß einen Seufzer aus und setzte sich auf den Stuhl. „Was erwarten Sie eigentlich in England zu finden?“, fragte sie erschöpft, wobei sie einen Moment die Augen schloss.

„Wie meinen Sie das?“, fragte er irritiert. Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Eigentlich stellte sie ihm diese Frage andauernd, aber heute klang sie irgendwie anders, tiefgründiger.

Scully überlegte kurz, so als wüsste sie nicht genau, wie sie es ausdrücken sollte. „Ich meine“, begann sie schließlich. „Sie jagen jedem kleinen Licht am Himmel nach - oder jetzt eben diesen Kornkreisen. Werden Sie dieser endlosen Suche nicht langsam müde? Ihr Ziel war es, den Verbleib ihrer Schwester zu klären und das ist Ihnen gelungen. Irgendwann muss doch auch Schluss sein.“

Sie schwieg und sah ihn ernst an. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn mit dieser Tatsache konfrontierte, aber bis jetzt hatte er immer mit einem seiner Sprüche gekontert. Nicht aber jetzt. Er blickte sie genauso geduldig an wie sie ihn. „Ich tue das nicht als Hobby, Scully“, sagte er dann. „Ich tue das, um die Wahrheit aufzudecken und um zu verhindern, dass Die weiterhin ihre dunklen Machenschaften ungestraft ausführen können. Ich möchte verhindern, dass anderen Frauen das Gleiche angetan wird wie Ihnen. Es stimmt, vielleicht sind diese Kornkreise nicht der Schlüssel zu all meinen Fragen, aber sie sind ein Anfang.“

Scully nickte. Sie wusste, was er meinte, und sie kannte seine Motive, dennoch würde sie sich im Moment nichts sehnlicher wünschen, als dass er aufhören würde sich in Gefahr zu bringen. Besonders nun, da sie bald nicht mehr an seiner Seite sein würde. Sie machte sich nichts vor, es war ihr unmöglich zu bleiben. Es würde nur Ärger bringen, weder ihre eigenen Leute noch das FBI würden diese Beziehung billigen. Sie tat sich und ihm einen großen Gefallen, indem sie ging. „Ein Mann gegen eine ganze Verschwörung“, murmelte sie leise vor sich hin.

„Ein Mann, der den Anfang darstellt“, gab er kurzentschlossen zurück und sah ihr in die Augen. Er fühlte, dass sie ihn verstand, das tat sie immer.

Sie sah nicht auf, nickte nur abwesend. „Ich weiß“, murmelte sie. „Ich will nur nicht, dass Ihnen etwas zustößt.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern, so dass Mulder kaum verstand, was sie sagte. Sie stützte den Kopf auf ihrer Hand ab und sah auf den Schreibtisch.

Mulders Blick blieb auf ihr haften. Sie war heute irgendwie anders. „Scully, was ist mit Ihnen? Sie können mir nicht sagen, dass nichts ist, ich sehe doch, dass Sie was haben. So sind Sie sonst nie.“

Er stellte sich vor sie und wartete auf eine Antwort. Ihr Verhalten verwunderte ihn wirklich und beunruhigte ihn auch in gewisser Weise. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor sie aufsah. „Ich bin okay, wirklich“, beteuerte sie.

„Sind Sie sicher?“, fragte er noch einmal nach.

Sie lächelte. „Ja, ich sagte doch, dass mir lediglich der Schlaf fehlt.“ Das war noch nicht einmal gelogen, denn diese Nacht war sie wirklich nicht zu sonderlich viel Schlaf gekommen. Auch nachdem Sam verschwunden war, hatte sie kein Augen mehr zubekommen, zu viele Gedanken waren in ihrem Kopf herumgespukt.

„Vielleicht sollten Sie nach Hause fahren und sich hinlegen“, bot Mulder fürsorglich an. Es würde niemandem etwas bringen, wenn Sie sich durch den Tag quälte. Vor Montag kämen sie von hier ohnehin nicht weg, also würde er diesen Tag auch ohne sie überstehen – zumindest was die Büroarbeit anging.

„Nein, nein, schon gut. Ich werde nur mal schnell an die frische Luft gehen, dann bin ich wieder topfit.“ Ohne weitere Kommentare stand sie auf und schnappte sich ihre Tasche. Sie musste raus aus diesem Büro – und wenn es nur für ein paar Minuten war. Dieser Raum stimmte sie zu grüblerisch. Sie schenkte Mulder noch ein flüchtiges Lächeln. „Ich bin gleich wieder da.“

„Soll ich mitkommen?“

Sie war schon fast zur Tür hinaus, als sie sich noch einmal umdrehte. „Nein, nein, das ist wirklich nicht nötig, aber danke.“ Mit diesen Worten war sie verschwunden und ließ Mulder allein zurück.
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