World of X

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Dunkle Schatten

von Steffi Raatz

Kapitel 1

8:30am, J. Edgar Hoover Building, Washington D. C.

Es war einer dieser Tage, an denen man das Verlangen hatte, gar nicht erst aufzustehen und einen Fuß vor die Tür zu setzen. Der Regen schien niemals aufzuhören und der Besuch bei Skinner war mal wieder äußerst anstrengend gewesen. Mulder hätte niemals geglaubt, dass er schon eine halbe Stunde nach Erscheinen, das Bedürfnis haben würde, wieder zu gehen.

"Guten Morgen!"
"Mh."
Scully hatte eindeutig gute Laune (warum auch immer?), die bei Mulder jedoch das Gegenteil bewirkte - seine schlechte Laune sank auf einen Tiefpunkt.
"Habe ich Ihnen irgendwas getan?"
"Nein!"
"Mulder?"
"Was?"
"Welche Laus ist Ihnen über die Leber gelaufen?"
"Darf man keine schlechte Laune haben?"
"Sie und schlechte Laune? Mal was ganz Neues!"
"Auf den Arm nehmen kann ich mich selber!"
Scully legte den Kopf schief und betrachtete ihren Kollegen mit einem amüsierten Lächeln:
"Stell ich mir äußerst schwierig vor."
Er konnte nicht widerstehen mitzulächeln. Seine Kollegin hatte manchmal eine Art an sich, der er nicht widerstehen konnte.
"Also, eine neue X-Akte! Wie schafft es Special-Agent Mulder sich selbst auf den Arm zu nehmen..."
Beide lachten.
"Liegt ein neuer Fall vor?"
"Ach, Scully, seit wann brennen Sie darauf, einen neuen Fall, der mysteriöse Aspekte enthält, zu untersuchen?"
"Passen Sie bloß auf, Mulder", zischte sie.



8:35am, Wellington Kindergarten, Philladelphia

"Miss Moray?"
"Ja, Lisa?"
"Ich muss mal!"
"Okay, Kinder. Ich gehe jetzt mit Lisa zur Toilette. Muss noch jemand?"
Drei Kinderhände schnellten in die Höhe.
"Gut, Andrew, Sarah, Rebecca, ihr kommt mit mir und Lisa. Ihr anderen seid eben schön brav und wartet hier ruhig auf uns."
Ein dutzend Kinder nickten eifrig und verteilten sich im Raum, um sich Spielsachen zusammenzusuchen. Valerie Moray kannte "ihre" Kinder schon seit über einem Jahr und wusste, dass sie sich auf sie verlassen konnte.
Als sie jedoch kurze Zeit darauf wieder in den Spielsaal kam, um ihre vier kleinen Begleiter von der Toilette zurückzuführen, waren ihre übrigen Schützlinge verschwunden...



12:43pm, J. Edgar Hoover Building, Washington D. C.

Gähnend räkelte sich Mulder in seinem Stuhl und betrachtete Scully beim Arbeiten. Es war wirklich faszinierend. Scully sah einfach immer adrett und gepflegt aus, er konnte tun was er wollte, entweder seine Anzüge sahen zerknittert aus, oder er selbst und da half dann nicht einmal mehr der beste Anzug, um seinem Aussehen einen gewissen Stil zu geben.
"Was möchten Sie essen, Scully?"
"Wollen Sie wieder Chinesisch bestellen?"
"Besser nicht. Wahrscheinlich würde mir der Spruch im Glückskeks, mein Ende prophezeien."
"Ihr Ende?"
"Was weiß ich, der Tag wäre danach."
"Dann lesen Sie halt Ihren Glückskeksspruch nicht."
"Ach, nein, ich könnte dann einfach nicht widerstehen."
Ein Seufzer erklang aus Scullys Richtung, doch er wusste instinktiv, dass sie diesmal keinen ihrer so typisch abschätzend-ironischen Blicke aufgelegt hatte. Sie lächelte. Er wusste es, obwohl er es nicht sehen konnte. Eine Eigenschaft in ihrer Partnerschaft, die er durchaus zu schätzen wusste.
"Wie wär’s, wenn wir beide essen gehen würden?"
"Essengehen?"
"Essengehen!"
"Richtig, essen gehen? Ich mit Ihnen? Wir beide?"
"Sicher."
"Wohin?"
"Ich kenn da einen super Imbiss..."
Scully brach in schallendes Gelächter aus. Das war ja so typisch für Mulder.



1:00pm, Frank’s Diner, Washington D. C.

"Darf ich Sie mal was wirklich persönliches Fragen, Scully?"
Erstaunt blickte sie von ihrem Essen auf. Solche Fragen gab es eigentlich nie zwischen ihnen. Was wollte Mulder wissen und warum?
"Nur zu."
"Haben Sie eigentlich einen Freund?"
"Was?"
"Na ja, ist Ihnen eigentlich klar, dass wir bereits seit vielen Jahren zusammenarbeiten - sehr eng zusammenarbeiten - und dennoch nichts voneinander wissen?"
"Mulder, ich kenne Ihre Familie, weiß über Ihre Schicksale bescheid und Sie wissen alles über meine Familie..."
"Aber was wissen Sie über mich oder ich über Sie?"
Sie geriet ins Stocken. Tatsächlich wusste sie über Mulders Vergangenheit nur wenig, wenn überhaupt etwas. Sie hatte an seinem jetzigen Leben teil - nicht nur beruflich - sie waren Freunde geworden, auf eine eigenartige Weise waren sie tatsächlich Freunde, dennoch wusste er weder über ihr Privatleben bescheid, noch hatte er seines preisgegeben. Es war vielleicht auch besser so.
"Wir wissen genug übereinander."
"Finden Sie?"
Er stützte sich auf dem Tisch ab und beugte sich vor, so dass sein Gesicht dem von Scully erheblich näher kam. Sie schreckte nicht zurück, empfand dennoch ein gewisses Unbehagen, wie sie es immer verspürte, wenn er ihr näher kam. Sie mochte Mulder wirklich, sie wusste, sie konnte sich immer auf ihn verlassen. Sie wusste allerdings auch, dass ihre Gefühle für Mulder eventuell noch ein wenig weiter gehen würden, wenn sie es zulassen würde, und das bereitete ihr sehr viel Unbehagen.
"Ach verflixt, man ist ja nicht mal mehr beim Essen sicher!"
Mulder griff fluchend in seine Manteltasche und holte sein Handy vor. Scully blickte ihn einen Augenblick erschrocken an; sie hatte das Klingeln gar nicht gehört.



6:00pm, Philadelphia

Aufmerksam betrachtete Scully die Unterlagen, während ihr Partner angestrengt die Straße im Auge behielt.
"Ich weiß wirklich nicht, was wir hier sollen. Ein paar Kinder sind verschwunden - vielleicht eine Entführung. Wo soll das eine X-Akte sein?"
"Ich weiß nicht, aber 12 verschwundene Kinder? Auf einen Schlag? Da stimmt doch was nicht, und warum sollte jemand 12 Kinder entführen?"
"Geldgier?"
"Mulder, bitte!"
"Seit wann vertreten wir eigentlich die Ansichten des Anderen? Sie glauben an ein Phänomen, ich nicht..."
"Wie mysteriös!", feixte sie und richtete ihren Blick aus dem Fenster.
Es regnete in Strömen und die Sicht war miserabel. Scully erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Fall. Mulder war plötzlich angehalten und hatte ein riesiges "X" auf die Straße gesprüht. Damals hatte sie ihn für einen paranoiden Verrückten gehalten, jetzt jedoch hielt sie ihn für jemanden mit einer faszinierenden Gabe für das Unmögliche. Er entschied aus dem Gefühl heraus - sie stellte sich den Fragen wissenschaftlich, eine explosive und dennoch effektive Partnerschaft mit einer Vertrauensbasis, die wohlmöglich über den Tod hinausgehen würde, würde sie an so etwas glauben. Hätten die Mächtigen damals gewusst, dass sie ein wirkungsvoller und hartnäckiger Teil von Mulder werden würde, hätte man sie gar nicht erst mit ihm zusammengebracht. Er hatte glauben wollen und sie war ihm gefolgt.
Sie hatte Dinge zwischen Himmel und Erde gesehen, die sie nie zu sehen gewagt hätte. Sie konnte sich zwar noch nicht dazu überwinden, ihre wissenschaftlichen Aspekte aufzugeben, aber sie war manchmal nicht weit davon entfernt.
"Wir sind da."
Sie hatten den Kindergarten erreicht. Es schien wie ein ganz normales Gebäude, dennoch verspürte sie eine eindeutige Abneigung.
"Wollen wir?"'
"Ich glaube, es ist niemand mehr hier."
"Wir könnten uns trotzdem einmal umsehen oder sind Sie Wasserscheu?"
Er erntete einen ihrer patentierten Blicke: "Gehen wir!"



8:00am, Wellington Kindergarten, Philadelphia

"Scully, Sie sehen einigermaßen aufgeweicht aus - haben Sie die Nacht im Goldfischglas verbracht? Oder war der Regen gestern Abend zuviel? - Ich hatte ja nicht geahnt, dass Sie aus Zucker sind..." Ein leicht schadenfrohes Grinsen lag auf Mulders Lippen, während er seine Partnerin begutachtete.
"Halten Sie bloß den Mund!", zischte sie und steckte ihre - tatsächlich ziemlich aufgeweichten Finger - in ihre Manteltaschen. Als sie am Vorabend gegen 11:00pm in die Wanne gestiegen war, hatte die Müdigkeit sie überrascht und erst ganze 5 Stunden später, als sie drohte sich gänzlich aufzulösen, war sie erschrocken wieder erwacht. Gut, dass Mulder nur ihre Hände sehen konnte...
Ihre Gedanken wurden wieder in eine ganz andere Richtung gelenkt, als eine attraktive Blondine auf sie zukam.
"Miss Moray?"
"Sie müssen vom FBI sein."
"Agent Fox Mulder und das ist meine Partnerin Agent Dana Scully."
Ihre Augen deuteten auf einen klaren, scharfsinnigen Verstand hin. Nichts, was Scully dazu veranlasst hätte, an dem zu zweifeln, was die Frau zu erzählen begann: "Schön, dass Sie hier sind. Ich hatte schon befürchtet, man würde meine Vermutungen als Hirngespinst abtun."
"Was ist Ihrer Ansicht nach denn passiert?"
Sie folgten Miss Moray den Gang entlang und zu dem Raum, aus dem die Kinder verschwunden waren.
"Ich kann nicht so ganz begreifen, was genau geschehen ist. Sicher ist nur, dass die Kinder verschwunden waren, als ich wieder kam. Aber trotzdem spürte und nahm ein Teil meines Verstandes sie wahr. So als ob ich Geister sehen würde..."
Scully und Mulder sahen sich an.
"Sehen Sie selbst!"
Sie öffnete die Tür und ließ die beiden den Raum betreten.
"Mulder!"
Scully machte entsetzt einen Schritt rückwärts und prallte gegen ihren Partner.
"Ich sehe es, Scully, ich sehe es!"
Sie sahen es. Dunkle Schatten tanzten an den Wänden - dunkle Schatten, die wie Kinder aussahen...



6:39pm, Manson Hotel, Philadelphia

"Kommen Sie rein, Scully!"
Vorsichtig spähte sie hinter der Tür vor. Es roch verdächtig intensiv nach Aftershave und Mulders Stimme tönte aus dem Bad.
"Störe ich Sie bei irgendwas?"
"Nein, nein..."
Er kam aus dem Bad und holte seine Lederjacke aus dem Schrank. Plötzlich wurde Scully einiges klar: "Sie gehen aus?"
"Mh."
"Mit Miss Moray, nehme ich an."
"Valerie hat mich gefragt..."
"Valerie?"
Irgendwie störte es sie, dass er mit der Kindergärtnerin ausging.
"Warum wollten Sie mich sprechen?"
Grimmig, weil er vom Thema abwich, begann sie ihre Nachforschungen darzulegen: "Wir haben ja beide diese merkwürdigen Schatten gesehen, also habe ich mal im Archiv der Zeitung nachgeforscht, ob es ähnliche Vorkommnisse in der Vergangenheit gab, die mit diesem Gebäude zusammenhingen..."
"Und?"
"1948 und 1958 verschwanden hier in der Nähe mehrere Kinder, die in einem Waisenhaus untergebracht waren..."
"Der Wellington Kindergarten!", stellte Mulder nüchtern fest.
"Damals das Hohlbrock Heim für elternlose Kinder."
"Dieses Phänomen trat alle 10 Jahre auf?"
"Nicht ganz. 1948, 1958, aber von 1965 an stand das Haus leer. Ob Obdachlose, die dort Unterschlupf suchten, verschwanden, ist leider nicht archiviert. Es wäre wahrscheinlich auch nicht aufgefallen. Das gestrige Verschwinden der Kinder war nach dem Neubezug und der Renovierung vor 4 Jahren das erste Phänomen dieser Art."
"Haben Sie schon herausfinden können, ob die verschwundenen Kinder wieder aufgetaucht sind?"
"Bisher..."
"Fox, bist du hier?" Ein blonder Schopf lugte durch die Zimmertür und hielt nach Mulder Ausschau.
"Valerie..."
Scully beobachtete das Gebärden der beiden aufmerksam - seit wann mochte er es, wenn man Fox sagte?
Als er Valerie Moray einen Kuss auf die Wange gab, spürte Scully eine intensive Abneigung gegen diese Frau, die sich in ein eigenartiges Triumphgefühl verwandelte, als er Valerie erklärte, er habe keine Zeit.
"Ich muss leider absagen, Valerie."
"Ach nein", seufzte sie und setzte einen süßen, unschuldigen Schmollmund auf, der nach Scullys Ansicht durchaus nicht unschuldig aussah.
Scully kochte innerlich.
"Tut mir leid, die Arbeit ruft."
Mulder spürte die Anspannung seiner Partnerin und wusste nicht so genau, ob er wütend oder erfreut sein sollte. Valerie Moray war eine Frau mit offensichtlichen Reizen, seine Partnerin hatte sein Herz jedoch im Sturm erobert. Ihr brillanter Verstand, ihr außergewöhnlicher Mut und ihre doch so deutliche Verletzbarkeit hatten schon seit ihrem ersten Fall eine unbeschreibliche Faszination auf ihn ausgestrahlt. Wenn da nur nicht diese ständigen Zweifel bezüglich ihrer Loyalität gewesen wären...
Valerie Moray verließ das Zimmer - Scully hätte vor Freude laut jubeln können, aber eigentlich wusste sie gar nicht so genau warum.
"So, liebste Kollegin." Er fasste ihren Arm und sah sie bedeutend an: "Dann gehen wir eben essen!"
"Essen?"
"Essen beim Italiener und dazu ein Arbeitsgespräch als Nachtisch - schließlich hatte ich für heute Abend reserviert."
"Aber Sie hätten doch ruhig mit Miss Moray essen gehen können!?"
Er lächelte verschmitzt: "Aber Ihnen hatte ich es doch schon länger versprochen..."
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