World of X

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Geschenk Gottes

von Andrea Muche

Kapitel 1

Der Junge saß ganz still und ließ die Trockenmauer im Garten seiner Mutter nicht aus den Augen. Die Sonne der ersten richtig warmen Tage lag auf den großen Steinen, aus deren Ritzen zum Teil filigrane Gräser wuchsen. Die Stelle, die der Vierjährige besonders fixierte, enthielt ein kleines Loch. Wenn man nicht genau hinsah, konnte man denken, ein millimetergroßes Steinchen liege am Eingang dieser Mini-Höhle. Aber der Junge wußte es besser.

„Nun komm schon“, bat er die Eidechse, um deren Versteck es sich hier handelte. Was wie ein winziges Steinchen von genau derselben Farbe wie die Umgebung aussah, war in Wahrheit eine der vordersten Zehen der kleinen Eidechse, die auf einen unbeobachteten Moment wartete, um ihre Höhle für ein Sonnenbad verlassen zu können. „Ich bin’s bloß. Sonst ist keiner hier.“

Während die Echse nun tatsächlich als erstes ihren Kopf aus dem Loch streckte und dann ihren gesamten, grün-bräunlichen Leib hinterherschob, um, durch ihre Farbe gut getarnt, schließlich auf dem Stein sitzen zu bleiben, stellte der Junge fest, daß das nicht ganz stimmte. Soeben war seine Mutter mit dem Fremden vor die Tür getreten. Der hagere, bärtige Mann war an der Farm eingetroffen, als sein Vater gerade eben mit dem Traktor weggefahren war. Ein Obdachloser, der um etwas Wasser und Verpflegung auf seiner Wanderschaft gebeten hatte. Die Mutter hatte gelacht und ihn ins Haus gebeten; gerade habe die Familie Kaffee und Kuchen genossen, noch stünden die Reste auf dem Tisch, er könne gerne davon haben. Eigentlich hatte der Junge sich an den Computer seines Vaters setzen wollen, das hatte der Vater ihm erlaubt, wenn er ihn nicht selbst brauchte, um die Buchführung der Farm zu erledigen, aber mit dem fremden Mann im Haus hatte er keine Lust dazu. Aus Gründen, die er nicht näher benennen konnte, mochte er den Landstreicher nicht. Er hatte das seiner Mutter zugemurmelt und war von ihr leise gescholten worden: „Und wenn es nun der Herr Jesus wäre, der an unsere Türe klopfte?“ Den Bedürftigen müsse man helfen, das sei die Pflicht für einen Christen.

Sie waren eine sehr religiöse Familie und ein Sonntag ohne Kirchgang, ein Abend ohne Nachtgebet undenkbar. Der Junge mochte den Gedanken, daß Gott alles um ihn her erschaffen habe, nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere und die Pflanzen, er konnte fühlen, daß alles miteinander zusammenhing und daß es gleichsam dahinter verborgen etwas gab, das größer war als alles, was man sehen konnte. Aber er hatte Schwierigkeiten damit, sich Gott vorzustellen. Manchmal nachts, wenn er nicht schlafen konnte, schlich er sich zum Fenster seines Zimmers und sah hinauf zu den Sternen. War Gott dort oben? Oder waren dort irgendwo andere Menschen und Gott noch viel größer, viel unfaßbarer?

Was der Pfarrer über die Tiere erzählte, mochte der Junge nicht sonderlich. Er hatte behauptet, sie hätten keine Seele, oder nur so etwas wie eine kollektive Seele. Genau so, wie sie im Leben auch keine Empfindung für ihr eigenes Selbst hätten, nicht über ihr Leben nachdenken und ihm einen höheren Sinn geben könnten. Der Junge wußte, daß das nicht stimmte. Buddy war sein bester Freund gewesen, und er hatte immer ganz genau verstanden, worüber er mit ihm sprach. Buddy hatte ihn getröstet, wenn er traurig war, er hatte seinen Befehlen gehorcht, und er hatte ihn einmal sogar vor dem Ertrinken gerettet. Der Hund war nicht so stumpfsinnig gewesen, wie der Pfarrer die Tiere darstellte – warum also sollte er im Tod seelenlos sein? Zumal der Junge immer wieder fühlte, daß Buddy noch an ihn dachte, daß er irgendwo da draußen noch da war und ihn beschützen wollte. Trotzdem vermißte er ihn schrecklich, weil er ihm nun nicht mehr unmittelbar antworten konnte, so wie bis vor kurzem, als er noch leibhaftig da gewesen und mit ihm durch Wald und Wiesen gestreift war.

Den Jungen bedrückte auch, daß er mit seinen Eltern über solche Themen nicht wirklich sprechen konnte. Nicht, daß sie ihn nicht ernst genommen hätten; aber sie verstanden die Probleme oft einfach nicht. Er seufzte. Er liebte seine Eltern sehr, sie taten alles für ihn und nannten ihn immer wieder „Geschenk Gottes“, aber manchmal konnte er einfach nicht mit ihnen reden. Sie ließen ihn immer gewähren, verstanden aber vieles nicht, was er tat. Daß er sich selbst das Lesen beigebracht hatte und seitdem alles Gedruckte verschlang, das er in die Finger bekommen konnte, stieß im Hinblick auf die spätere Schule ja noch uneingeschränkt auf ihre Sympathie. Erst recht, weil er auch die Bibel las. Und als alles, was er zu Hause fand, für seinen Bildungshunger nicht mehr ausreichte, erlaubten sie ihm, den Computer des Vaters und das Internet zu benutzen. Doch wenn er ihnen manchmal Fragen stellte – zum Beispiel, wieso Pluto jemals zu den Planeten gezählt worden war, wenn doch im folgenden Asteroidengürtel andere Brocken umherschwirrten, die größer als er waren, aber nie einen Planetenstatus erhalten und keine Namen hätten –, dann waren sie, wie er bald merkte, völlig außer Stande, ihm zu antworten. Ganz zu schweigen davon, daß sie ihm manchmal auch ungern antworten wollten. Was immer dann passierte, wenn er kritische Fragen zur Religion stellte – oder zum Beispiel bei der in seinen Augen so harmlosen Anmerkung, daß sich christliche Religion und Evolutionstheorie doch gar nicht widersprächen, da die Evolution zwar ablaufe, wie von Darwin beschrieben, aber deswegen doch noch immer niemand erklären könne, was Leben als Leben eigentlich ursprünglich in Gang gebracht habe. Und das sei dann doch wohl – ganz logisch – Gott gewesen, oder nicht? Es sei denn, natürlich, das Leben sei wirklich von anderen Planeten zu uns gekommen, wie manche Wissenschaftler annahmen. Aber dann hätte ja das Leben dort irgendwann von Gott geschaffen worden sein müssen. Also wo war das Problem?

Er lernte, seine Eltern nicht zu oft mit solchen Fragen und Ansichten zu konfrontieren; sie meinten es ja nicht böse. Sie konnten ihm nicht antworten und wußten es nicht besser. Und machten sich im Gegenteil noch Sorgen. Er hatte mehrmals mitgehört, wie seine Eltern darüber flüsterten, ob alles in Ordnung und normal sei mit ihm, sie habe schon ganz zu Anfang manchmal ein so seltsames Gefühl gehabt, sagte seine Mutter, und sie schleiften ihn von Arzt zu Arzt. Doch die Ärzte versicherten ihnen, daß alles in Ordnung sei, redeten etwas von Hochbegabung und rieten ihnen, den Sohn einfach gewähren zu lassen, ihn den Hobbys nachgehen zu lassen, die er sich suchte, und seinen Hunger auf Wissen nicht zu bremsen.

Um sich abzulenken, verbrachte der Junge nicht nur viel Zeit mit Büchern und dem Internet, sondern auch in der Natur. Hier konnte er beobachten, Schlüsse ziehen, sich wie einer der großen Forscher verhalten. Und nebenher ein bißchen mit den Tieren plaudern.

Er streckte den Finger langsam in Richtung der Echse. Sie flüchtete nicht, sondern setzte einen ihrer Füße auf den Finger, dann lief sie ganz auf die Hand des Jungen und sah ihn mit glänzenden, kleinen Augen an. Er streichelte mit dem Zeigefinger der anderen Hand ihren Schwanz, der unversehrt und lang war. Also hatte die Eidechse ihn noch nie auf der Flucht vor einem anderen Tier abwerfen müssen. „Laß dich auch künftig lieber nicht von Minnie erwischen, hörst du?“ beschwor der Junge die Echse, bevor er sie zurück auf den Stein setzte.

Dann wurde seine Aufmerksamkeit wieder auf die Szene bei der Tür gelenkt. Noch immer sprachen der Mann und seine Mutter miteinander, doch jetzt trat der Fremde näher an sie heran. Er bedrängte sie und versuchte, ihr unter den Rock zu fassen. Mit Entsetzen sprang der Junge auf, als er hörte, wie seine Mutter einen spitzen Schrei ausstieß. „Mami!“ rief er. Das hörte auch der Fremde, sah kurz zu ihm her in den Garten – und diesen Moment nutzte die Mutter, um dem Mann eine kräftige Ohrfeige zu verpassen. „Wir sind gottesfürchtige Leute, lassen Sie sich hier nie wieder blicken“, schrie sie, „oder der Allmächtige wird Sie strafen!“

„Blöde Kuh“, hörte der Junge den Landstreicher sagen, bevor er sich schließlich, mit einem letzten Blick auf den Jungen, umwandte und sich den Weg hinunter trollte, in die Richtung, in der die Weiden der Rinder lagen.





Die erste warme Mainacht. Dana Scully trat im T-Shirt auf den schmalen Balkon und stützte sich auf das schmiedeeiserne Geländer. Es roch nach Sommer. Es fühlte sich an wie Sommer. Obwohl es schon nach elf und stockdunkel war, war die Kühle der Nacht noch immer nicht hereingebrochen. Auf einem Balkon irgendwo rechts unten saßen Bewohner im Gespräch, sie hatten Windlichter aufgestellt, die mit ihrem flackernden Schein tanzendes Licht auf die Ziegelfassaden warfen. Aus den geöffneten Fenstern der Hinterhof-Kneipe klang leises Klacken von Billardkugeln, der Mini-Springbrunnen im Garten des Lokals sandte sein beständiges Plitsch-Platsch nach oben, die letzten Gäste lachten. Sommerlaute. Von irgendwo links drang das dumpfe Murmeln eines Fernsehers an Scullys Ohr, ohne daß die Worte des Nachrichtensprechers zu verstehen gewesen wären. Die Verkehrsgeräusche drangen nur gedämpft bis in den Hinterhof. Jetzt jaulte irgendwo in der Ferne eine Polizeisirene auf, deren heulender Ton sich rasch entfernte. Ein Zug der nahen Bahn ratterte vorbei.

Scully blickte nach oben, zu dem Stück Himmel, das man vom Hof aus sehen konnte. Eine sternklare Nacht. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr einst die Sternbilder erklärt hatte. Ob William, ihr kleiner Sohn, nun wohl auch irgendwo stand, zum Nachthimmel aufsah und von fernen Welten zu träumen begann...? Wenn sie sein Schicksal wenigstens aus der Ferne mitverfolgen könnte, wüßte, daß es ihm gutging, was er tat, was er mochte, was er haßte... Scully mußte heftig blinzeln, als ihre Augen feucht wurden. Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch und drehte sich um.

Ihr Partner, im Beruf wie im Privatleben, öffnete die Türe und trat zu ihr auf den Balkon, zwei Weingläser in der Hand.

„Sinnierst du über das Universum und fragst dich, in welchen von all diesen Sonnensystemen andere Lebewesen zu Hause sind?“ wollte er wissen, während er ihr eines der Gläser reichte. „Mit ein bißchen alkoholischer Nachhilfe geht es manchmal besser. – Allerdings ist das mit den fremden Lebewesen traditionell eher mein Part.“

„Danke, Spooky Mulder.“ Sie nahm das Glas, lächelte leicht und blinzelte die Tränen fort.

Er trat neben sie an die Brüstung und zog sie sanft an sich. Beide nahmen sie einen Schluck Wein, und Mulder gab sich ebenfalls der Sommernachtstimmung hin. „Der erste laue Abend.“

„Ja.“ Ihre Stimme klang belegt.

Er drehte sich zu ihr, strich ihr eine rötliche Strähne aus der Stirn und hauchte sacht einen Kuß auf ihr Haar. „Vermutlich fragst du dich, wie du nur jemals mit einem durchgeknallten Typen wie mir in einem Loch wie diesem landen konntest, betraut mit Untersuchungen für die Abteilung einer Außenstelle, die so geheim ist, daß 99 Prozent unser Kollegen noch nicht einmal wissen, daß es sie gibt.“

Sie seufzte. „Ach, Mulder...!“

Dann schwieg sie kurz, nahm einen Schluck von ihrem Wein. Ihr Partner wartete. „Du weißt ganz genau, daß ich für dich und die Wahrheit überall hingehen würde!“

„Aber?“ fragte er leise.

Sie sah wieder zum Nachthimmel auf, ein Flugzeug durchquerte gerade das Sternen-Rechteck, sandte seine verschiedenfarbig blinkenden Lichter in die Dunkelheit. „Als du ein Kind warst, ist dein Dad da auch mit dir rausgegangen und hat dir die Sternbilder erklärt? Und wie lange das Licht braucht, bis es von diesen Sonnen bei uns eintrifft?“

„Mhm.“ Er nickte leise, seine Wange an ihr Haar geschmiegt.

Sie wich etwas zurück und blickte ihn jetzt an, feuchten Schimmer in ihren blauen Augen.

Er stellte sein Weinglas ab, nahm ihr zartes Gesicht in seine Hände und küßte sie ganz sanft auf den Mund. Dann lehnte er seine Stirn an ihre. „Du denkst an William“, sagte er.

Ihre Stimme zitterte leicht, als sie ihn anblickte und zu sprechen begann. „Wo mag er jetzt sein? Vielleicht ist er noch wach und sieht jetzt auch gerade zu denselben Sternen hinauf wie wir. Ob sie ihm auch jemand erklärt? Manchmal... manchmal habe ich das Gefühl, als würde ich fühlen, was er gerade fühlt, so als ob er mir eine unsichtbare Botschaft schicken würde. Als wären wir noch irgendwie verbunden. Aber dann... Dann denke ich, das ist nur, was ich mir einbilde, was ich mir wünsche. Die Wahrheit ist doch, daß wir nicht einmal wissen, ob ihm nicht vielleicht längst etwas Schlimmes zugestoßen ist. Er könnte sogar tot sein, ohne daß wir es im entferntesten ahnen.“

Mulder nahm ihr Weinglas, um es ebenfalls zur Seite zu stellen, bevor er sie in seine Arme zog. Sie hielt sich mit beiden Händen an ihm fest, bettete ihren Kopf an seine Brust und ließ den Tränen freien Lauf, die unter ihren geschlossenen Lidern hervorquollen. „Mulder, ich vermisse ihn so...! Und ich habe Angst um ihn.“

„Sch...“, versuchte er sie zu beruhigen, als wäre sie selbst noch ein Kind. „Du mußt fest daran glauben, daß es ihm gut geht, Dana. Und du mußt aufhören, dir Vorwürfe zu machen. Du hattest keine andere Wahl.“

Ihr heftiges Aufschluchzen an seiner Brust zeigte ihm, daß er recht hatte mit seiner Vermutung, was ihr vor allem zu schaffen machte, auch nach vier Jahren noch.

Als er nicht da war, hatte Scully, ganz auf sich allein gestellt, die schwierigste und härteste Entscheidung ihres Lebens zu treffen, um die Gefahr für das Leben ihres gemeinsamen Sohnes abzuwenden: ihn fortzugeben. Zu fremden Menschen, die sie niemals zu Gesicht bekommen würden. Nur in einer anonymen Adoption hatte Scully eine Chance gesehen, William zu retten, ihn vor den bösen Plänen ihrer übermächtigen Feinde in Sicherheit zu bringen.

„Wenn wir wenigstens wüßten, wo er ist und daß es ihm gut geht“, weinte Scully an seiner Brust. „Auch, wenn wir ihn nicht treffen dürften...“

Er seufzte, als Dana aussprach, was er selbst auf die gleiche Weise fühlte. Doch er spielte die Stimme der Vernunft: „Du weißt, daß genau das nie eine mögliche Option war. Wenn wir in irgend einer Weise Kontakt zu ihm gehalten hätten, ließe sich sein Verbleib zurückverfolgen. Wer immer ihm nach dem Leben trachtet, würde ihn finden können, indem er unseren Spuren folgt. Du hast das einzig Mögliche, das einzig Richtige getan, Dana. Nur indem du ihn fortgegeben hast, hast du ihn in Sicherheit bringen können.“

„Wissen wir das denn überhaupt?“ fragte sie verzweifelt. „Was, wenn sie ihn längst gefunden haben? Und wir hatten keine Möglichkeit, ihn zu schützen, weil wir nicht bei ihm waren. Weil wir nicht einmal wissen, wo er überhaupt ist...“

„Scully, so darfst du nicht denken! Wenn selbst wir nicht wissen, wo er ist – wie hätten sie ihn finden sollen?“ Er versuchte, seine Stimme fest und überzeugend klingen zu lassen. „Nein, Liebling, ich bin mir sicher, daß es ihm gut geht, daß er geliebt wird und wie ein ganz normaler Junge bei netten Eltern aufwächst, genau, wie wir es ihm wünschen. Mach dich nicht verrückt mit Fragen und Schuldgefühlen.“

Seine Stimme beruhigte sie – obwohl sie nur zu gut wußte, daß er selbst ebenso von Fragen und Schuldgefühlen gequält wurde. Und zwar nicht nur, was William anging, sondern auch seiner Schwester wegen, die von Außerirdischen entführt worden war, als er noch ein Kind war. Er war dabei gewesen – und hatte nichts tun können, um seine Schwester zu retten. Wenn jemand wußte, was Schuldgefühle und unerfüllte Sehnsucht waren, so ganz gewiß Fox Mulder. Aber natürlich stimmte, was er sagte. Was sonst hätten sie für Williams Glück und Zukunft tun können? Wie ihn schützen können? Ihren wunderbaren, gemeinsamen Sohn. Mit seinen außerirdischen Gaben. Die drohten, ihm zum Verhängnis zu werden...

So sehr hatte Scully sich gewünscht, Mutter zu werden. Und als es tatsächlich geschah, war es ein Wunder. Sie hatte keine Hoffnung mehr gehabt, jemals schwanger werden zu können, nach diesen Tests, die während ihrer Entführung an ihr durchgeführt worden waren. Dann die neue Hoffnung, als Eizellen von ihr, die Mulder gefunden hatte, von ihren Ärzten als lebensfähig eingestuft wurden. Mulder, der sich als Samenspender zur Verfügung stellte. Mulder, der in ihrer Wohnung blieb, um auf sie zu warten, als sie zum Termin beim Arzt aufgebrochen war, um zu erfahren, ob die künstliche Befruchtung geklappt hatte. Sie erinnerte sich an diesen Abend, als wäre es gestern gewesen....



Mit zögerlichen, langsamen Schritten hatte sie sich der Tür zu ihrer Wohnung genähert. Schon von draußen hatte sie sanften Lampenschein gesehen. Vielleicht hatte Mulder vergessen, die kleine Tischlampe auszuschalten, als er gegangen war. Wahrscheinlicher aber war, daß er immer noch dort drinnen saß und auf sie wartete – so, wie er es gesagt hatte, obwohl sie ihm geraten hatte, nach Hause zu gehen, weil es länger dauern könne.

Es war tatsächlich spät geworden. Und die Nachrichten waren keine guten. Sie fühlte sich erschöpft, restlos ausgelaugt. Langsam schob sie den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn herum und schob die Tür auf. Im Zimmer war es bis auf den warmen, orangefarbenen Schein der kleinen Lampe dunkel. Mulder lag auf dem Sofa ausgestreckt; doch von ihrem Eintreten war er wach geworden. Er setzte sich auf, während sie den Schlüssel abzog, ihn in ihre Manteltasche gleiten ließ und die Tür zudrückte. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sah aus wie gerade aus einem Traumland gekommen. Wohin Scully sich am liebsten sofort verzogen hätte.

„Scully“, sagte er noch etwas schlaftrunken und stand auf. „Ich muß eingenickt sein, ich wollte auf Sie warten.“

Er sah sie abwartend an, und sie wußte, daß sie den Schmerz in ihrem Gesicht nicht verbergen konnte. Sie brauchte nichts zu sagen.

„Es hat nicht funktioniert, oder?“ sagte er, es war mehr eine Feststellung als eine Frage.

„Ich hatte mir wohl zu viel erhofft“, antwortete sie mit zitternder Stimme.

Er trat ganz auf sie zu, nahm sie in den Arm und drückte sie fest.

„Das war meine letzte Chance“, flüsterte sie an seiner Schulter und fühlte die Tränen aufsteigen.

Sie klammerte sich verzweifelt an ihn, wollte ihn einerseits in ihren Schmerz nicht mit hineinziehen und war andererseits so froh, daß er da war, daß sie an ihn geschmiegt weinen konnte, er ihren Kummer mittrug. Er wiegte sie sanft in seinen starken Armen, wie ein kleines Kind, während sie den Duft seiner Haut und seines Aftershaves wahrnahm. Es roch nach Geborgenheit.

Als sie sich dann aus seiner Umarmung löste, küßte er sie auf die Stirn und legte seine Stirn an ihre, bevor er sprach: „Wunder soll’s doch immer wieder geben.“

Sie schlang ihren rechten Arm wieder um seinen Hals, sah zu ihm auf, während er sie erneut an sich zog. Ihre Lippen trafen sich. Dann lag sie wieder an seinem Hals, ihre Wange an seine geschmiegt, und fühlte, wie er ihr über den Rücken streichelte.

Als sie dieses Mal zurücktrat, blieben ihre Arme um seinen Nacken liegen. Sie sah mit leicht geöffneten Lippen zu ihm hoch, Tränenspuren auf den Wangen. Seine Augen, die in dem diffusen Licht dunkel und unergründlich und gleichzeitig doch so sanft aussahen, ruhten fragend auf ihr. „Bleib bei mir“, bat sie mit zitternder Stimme. Er war ihr einziger Trost, ihr Halt, ihr Fels in der Brandung. Sie fühlte, daß sie jetzt nicht allein bleiben konnte, alle Kraft schien von ihr gewichen; nur allein seine Nähe war, was sie noch aufrecht hielt. „Bleib heute nacht hier.“

Er sah sie lange an, nickte fast unmerklich. Als sich ihre Lippen erneut trafen, küßte er sie ruhig und doch so intensiv, daß es ihr durch und durch ging. Sie klammerte sich an ihn, küßte ihn mit geöffneten Lippen zurück. Als sie sich endlich voneinander lösten, half er ihr, ihren Mantel abzustreifen; sie ließ ihn achtlos zu Boden fallen. Er umfaßte ihre schlanke Hüfte, sie spürte seinen Atem, seine Lippen an ihrem Hals, umfing ihrerseits seinen Nacken, schob ihm die linke Hand unter seinen blauen Pullover und das T-Shirt, das sie ihm aus der Hose zog. Sie wollte seine warme, nackte Haut unter ihren Fingern fühlen.

Er ließ kurz von ihr ab, küßte die Tränen von ihren Wangen und sah ihr innig in die Augen, bevor er sie hochhob und in ihr Schlafzimmer trug.

Er legte sie aufs Bett, zog ihr die Schuhe aus und den Pulli über den Kopf, bevor er sich seines eigenen Pullovers und des T-Shirts entledigte und sich bei ihr niederließ. Sie legte die Hand auf seine Brust und streichelte ihn, bevor sie ihn zu sich herabzog und wieder küßte. Auf einmal spürte sie ein solches Verlangen in sich, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.

Gleichzeitig meldete sich ihr Verstand und versuchte ihr zu sagen, daß sie im Begriff war, etwas durch und durch Unmögliches zu tun: Nicht nur, daß die FBI-Regeln genau so etwas zwischen Menschen, die miteinander arbeiteten, strikt verboten. Sie fühlte sich auch schuldig, so, als ob sie ihren langjährigen Partner benutzte. Gegen ihre Verzweiflung, und zu ihrem Trost. Denn wären sie unter anderen Umständen als diesen jemals hier, gemeinsam in ihrem Schlafzimmer, ihrem Bett gelandet? Ganz klar: nein. Daß sie ihn liebte, stand außer Frage. Wäre ihr sehnlichster Wunsch sonst gewesen, daß er der Vater ihres im Reagenzglas gezeugten Kindes sein solle? Doch ihre Liebe war die kameradschaftliche Liebe, die sich auf gegenseitigen Respekt, auf tiefstes Vertrauen, auf Freundschaft gründete, nicht auf Leidenschaft. Es fühlte sich falsch an, ihn jetzt in ihr Bett zu ziehen, nur um daraus Trost und Kraft zu schöpfen. Und wie sollte es dann weitergehen? Konnten sie danach weitermachen wie zuvor, oder stellte diese eine Nacht alles in Frage, ihre Arbeitsbeziehung, ihre Freundschaft, die gesamte Weise, wie sie zueinander standen? Sie wollte ihn bitten, sie einfach nur festzuhalten, das wäre als einziges fair ihm gegenüber; er sollte sich nicht verpflichtet fühlen, sie jetzt körperlich trösten zu müssen, irgend etwas zu tun, das er unter anderen Umständen nie getan hätte, und am nächsten Morgen damit leben zu müssen. „Mulder...“, setzte sie an, obgleich sie sich gleichzeitig nichts sehnlicher wünschte, als mit Haut und Haar bei ihm zu sein, mit ihm eins zu werden.

„Ja?“ fragte er ganz sanft und blickte ihr tief in die Augen.

„Vielleicht sollten wir...“ Sie hatte „das nicht tun“ sagen wollen, aber der tiefe Ernst, mit dem er sie ansah, verriet ihr, daß er ganz genau wußte, was er tat. Daß er ihre Bedenken, ihre Schuldgefühle, ihre widerstreitenden Gefühle in ihrem Gesicht lesen konnte.

„Hab keine Angst“, flüsterte er in ihr Haar, als er sie an sich zog.

Sie fühlte, wie er ihren Büstenhalter aufhakte und erschauerte, als er sie zu streicheln begann. Er küßte ihre Schulter und wanderte von da tiefer. Sie ließ es geschehen. Als er kurz darauf Scully unter die Decke schlüpfen ließ und sich zu ihr legte, zitterte sie vor Verlangen. Sie betrachtete, was von seinem Körper zu sehen war, als wäre es ein Wunder, das sie zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Was nicht der Fall war. Sie hatte ihn schon oft verarztet, ihn dabei auch unbekleidet gesehen. Aber immer nur als ihren Partner im Dienst, als jemanden, der ihre Hilfe brauchte; nie hatte sie da an sexuelle Begierde gedacht. Auch er hatte sie schon nackt zu Gesicht bekommen, als er sie in der Eiswüste aus dem verborgenen Raumschiff rettete zum Beispiel. Da hing sie allerdings bewußtlos über seiner Schulter.

Das hier war anders. Ganz anders. Ihre Körper schmiegten sich aneinander, und für einen Moment fragte sie sich, wie es jemals hatte anders sein können. Dann wieder hatte sie das Gefühl, dies hier war die eine, nicht wiederholbare, große Ausnahme, entstanden nur aus einer Extremsituation heraus, die nichts verändern würde – die sich in exakt diesem Moment aber zu hundert Prozent richtig anfühlte. Und ein Blick in Mulders Augen verriet ihr, daß er ganz genauso dachte. Eine riesige Woge des Glücks erfaßte sie, als sie sich ihm hingab. Niemals war sie einem Menschen näher gewesen. Ihre Verzweiflung, ihre Anspannung löste sich in unendlicher Dankbarkeit auf, und eine heiße Woge durchflutete sie.



Sie hatten am nächsten Morgen nicht über die Nacht gesprochen. Aber sie brauchten einander nur anzusehen und wußten, was sie für einander bedeuteten. – Und kurz darauf hatte sie ihn verloren.

Fox Mulder war fort, Mulder, der Mann, den sie selbst heute nicht beim Vornamen nannte, weil er das nicht ausstehen konnte, war von Aliens an Bord eines Raumschiffes entführt worden. Sie wußte nicht, ob sie ihn je wiedersehen würde. Aber sie entdeckte etwas anderes: Sie, eine unfruchtbare Frau, war auf einmal schwanger.

Es mußte in jener einen Nacht passiert sein. Doch es war ihr ein Rätsel, wie es hatte geschehen können. Im Laufe ihrer Schwangerschaft hatte sie sogar befürchtet, vielleicht ein Alienbaby in sich zu tragen, es kam ihr das Gerücht zu Ohren, das Implantat, das sie seit ihrer eigenen Entführung unter der Haut trug, könnte zur Auslösung einer Schwangerschaft benutzt worden sein.

Dann kam William auf die Welt. Ein gesundes, normales Baby. Auf den ersten Blick. Später hatten sich Fähigkeiten offenbart, die nicht von dieser Welt waren. Wie sich herausstellte, hatte Scullys Arzt mit Samen ungewisser Herkunft experimentiert, hatte Babys im Reagenzglas gezeugt. In der Hoffnung, einen Menschen erschaffen zu können, der zum Teil außerirdische Gene in sich trug. Nur daß bei ihr die künstliche Befruchtung fehlgeschlagen war. Und doch war sie schwanger geworden. Von einem Mann, der ein schlafendes Virus außerirdischen Ursprungs in sich trug – und ihr Kind auf natürliche Weise zu dem machen konnte, was ihr Arzt künstlich zu schaffen versucht hatte: einem Kind, das zu einem Teil außerirdisch war.

Im nachhinein erinnerte sich Scully deutlich an das Entsetzen ihres Arztes, als sie plötzlich ohne sein Zutun schwanger geworden war. Er steckte mit den Verschwörern unter einer Decke, was sie damals freilich nicht wußte, und hatte offenbar auch bei ihr geplant, sie mit völlig fremdem Samen zu befruchten. Die Nacht mit Mulder war einem neuerlichen Versuch seinerseits zuvorgekommen. Als er aber erkannt hatte, daß sie vielleicht am Ende gerade dadurch das gewünschte Ergebnis liefern würde, war er höchst erfreut und hatte sich vor Besorgnis um sie fast überschlagen – bis sie erkannte, weswegen er so um sie besorgt war und sich ihm entzog.

Doch hatte das ihren kleinen Sohn nicht vor Nachstellungen bewahrt, kaum, daß er auf der Welt war. Und so hatte sie ihn schließlich zur Adoption freigegeben, um ihn zu retten: Wenn nicht einmal sie wußten, wo er war, konnte es auch niemand sonst herausfinden und ihm Schaden zufügen. Es war die härteste Entscheidung ihres Lebens, und Mulder war nicht da, sie hatte ihn nicht einmal kontaktieren können, da zu der Zeit sein eigenes Leben bedroht war und er sich selbst versteckt halten mußte, um sich zu retten. Er war erst zurückgekehrt, als William schon fortgegeben war. Und dann hätte sie auch Mulder fast für immer verloren... Es quälte sie noch heute, an die damaligen Geschehnisse zu denken, nach denen sie nichts mehr als einander hatten und in deren Folge sie hatten untertauchen müssen und letztlich da gelandet waren, wo sie sich jetzt befanden: als geheime X-Akten-Ermittler für eine geheime FBI-Abteilung an einem geheimen Ort, die Assistant Director Skinner, auch früher ihr Chef, leitete... Offiziell gab es keine Abteilung für die X-Akten mehr. Und von den Agenten namens Dana Scully und Fox Mulder hatte schon seit Jahren niemand mehr etwas gehört...

Scully hatte gehofft, noch einmal schwanger werden zu können. Aber Wunder wiederholten sich offenbar doch nicht. Sie war und blieb unfruchtbar. Wie es schien, hatte tatsächlich einst der Chip eine Eizelle in einem eigentlich unfruchtbaren Leib heranreifen lassen – wie er das ausgelöst hatte, blieb jedoch ein Geheimnis von Gott und der Medizin.

Und auch ihren geliebten, kleinen Jungen, Mulders und ihren Sohn, hatten sie nie wieder gesehen, die Adoption war nun schon fast vier Jahre her.

Mulder wiegte sie in seinen Armen. „Sieh mal, eine Sternschnuppe“, sagte er dann. Sie wandte den Blick zum Himmel – und da sah auch sie einen blitzenden, hellen Schein. „Noch eine.“

Miteinander standen sie und schauten in den Nachthimmel. „Hast du deinen Wunsch abgegeben?“ fragte Mulder, auf die Legende anspielend, daß in Erfüllung geht, was man gedacht hat, bevor die Sternschnuppe verglüht.

Scully nickte unter Tränen. „Ja“, sagte sie. Ihr Wunsch war seit Jahren der gleiche.



„Schatz? Kannst du bitte drangehen? Ich stehe noch unter der Dusche!“ brüllte Mulder, als er über das Rauschen des Wassers hinweg das Telefon läuten hörte.

„Ja, sofort“, rief Dana aus der Küche und trocknete hastig ihre Hände ab, bevor sie zum Telefon lief und den Hörer aufnahm. „Hallo?“

„Agent Cullum?“ hörte sie ihren Chef, Assistant Director Walter Skinner, am anderen Ende der Leitung fragen. Er benutzte in der Öffentlichkeit und auch am Telefon immer ihre jeweiligen Decknamen. Traue niemandem.

„Ja, Sir, am Apparat.“

„Sind Sie und Agent Wayne immer noch am Fall des Geisterhauses dran?“

„Ja. Allerdings sind wir an einem toten Punkt. Es ist einfach schon zu lange nichts mehr dort passiert, das man beobachten und woraus man Schlüsse ziehen könnte.“

„Okay, hören Sie zu. Brechen Sie ab und reisen Sie nach Wyoming. Wir haben dort einen Fall, von dem ich möchte, daß Sie ihn sich einmal ansehen. Es geht um Rinder, die einen Menschen getötet haben.“

„Klingt nicht sehr spannend, sondern eher nach einem landwirtschaftlichen Unfall.“

„Ja, das habe ich zunächst auch gedacht. Aber nach dem, was mir erzählt wurde, hat nicht einfach nur ein Tier einen Menschen totgetrampelt, sondern die Rinder sind – ich zitiere – planvoll vorgegangen. Als wären sie Menschen, die Pläne schmieden und in einer Gemeinschaftsaktion und obendrein ohne erkennbaren Grund, jemanden töten könnten.“

„Und wo, sagten Sie, ist das?“ hörte Mulder seine Partnerin noch fragen, als er aus dem Bad kam. Dana kritzelte gerade eine ausführliche Wegbeschreibung auf einen Block, der neben dem Telefon lag.



„Warum ereignen sich rätselhafte Vorgänge eigentlich so oft in der Abgeschiedenheit irgendwo am Ende der Welt?“ fragte Fox Mulder angesäuert, als er sich gerade zum fünften Mal hintereinander verfahren hatte. „Wo sind wir denn diesmal wieder falsch abgebogen?“

„Ich glaube, hier“, sagte Dana Scully, auf die Karte deutend, bevor sie wieder einen zweifelnden Blick auf die Erhebung der Berge vor ihnen warf.

Ihr Partner griff nach der Karte und grummelte: „Das nächste Mal könnte uns Skinner eigentlich einen Job anbieten, der sich mit der U-Bahn erreichen läßt, nur so zur Abwechslung.“

„Sag das lieber nicht zu laut.“ Scully schüttelte ihre Locken und drückte ihr von der langen Fahrt schmerzendes Kreuz durch. „Wenn ich da an den Fall denke, den ich mit John Doggett in der U-Bahn hatte...“

„Mhm“, machte Mulder nur. Er versuchte, sich auf der Karte zu orientieren. Außerdem war seine Freundschaft mit John Doggett nicht immer ungetrübt von Mißverständnissen, Auseinandersetzungen und Eifersucht gewesen. Und so blödsinnig es war, er wurde noch immer ungern an die Zeit erinnert, in der Scully mit Doggett zusammengearbeitet hatte. Dabei wußte er ganz genau, daß zwischen den beiden Agenten nichts als Freundschaft und bei den gemeinsamen Fällen mühsam erarbeitetes Vertrauen gewesen war; er vertraute Scully zudem völlig und hatte später auch John Doggett schätzen gelernt. Aber noch immer fühlte er sich manchmal, als habe er sie damals im Stich gelassen. Obwohl er gerade deswegen mit Skinner zu dem Ufo aufgebrochen war, um Scully nicht in Gefahr zu bringen – hatte er doch fälschlicherweise angenommen, sie sei es, hinter der die Außerirdischen her seien. Und dann hatte er eine Zeit des Leidens in der Hand der Außerirdischen verbracht, an die er sich nicht erinnern konnte. War später sogar für tot erklärt und beerdigt worden, bevor Scully erkannt hatte, daß er lebendig tot war und ihn gerettet hatte. Alles, was sich in dieser langen Zeit ereignet hatte, wußte er nur vom Hörensagen. Es frustrierte ihn, plötzlich in eine Welt zurückgekommen zu sein, in der Dinge passiert waren, die er nicht miterlebt hatte, in eine Welt, in der John Doggett seinen Platz bei den X-Akten eingenommen hatte und in der er sich deswegen so erwünscht gefühlt hatte wie eine Blase an den Zehen. Das war ungerecht, auch Scully gegenüber, das wußte er ganz genau. Schließlich hatte sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn zu finden und zu retten. Und nie würde er den Ausdruck in ihrem Gesicht vergessen, als er aus dem Koma aufgewacht war und sie an seinem Bett sitzend gefunden hatte, weinend vor Glück, daß er wieder bei ihr war – und wie er gleichzeitig in ihren besorgten Zügen alles hatte lesen können, was ihm passiert war, was er durchgemacht haben mußte. Und sie mit ihm, die sie um ihn bangte. Und trotzdem konnte er nicht über seinen Schatten springen, als wolle er allen anderen vorwerfen, daß sie in der Zeit, die er nicht mitbekommen und an die er keine Erinnerung hatte, weiter gelebt und weiter an den X-Akten gearbeitet hatten. Er war eifersüchtig auf diese Zeit, die die anderen erlebt hatten und die ihm fehlte. Dunkel erinnerte er sich, wie er Scully einmal sogar ihre Freundschaft zu Monica Reyes vorgeworfen hatte. Aber sie seien doch völlig verschieden, hatte er ihr ungläubig an den Kopf geworfen – und Scully ihn mit der Bemerkung, sie und er seien schließlich auch völlig verschieden, auf den Boden der Realität zurückgeholt. Und das war wohl wahr. Er hatte in Scully immer genau jenen praktisch veranlagten, jenen wissenschaftlichen und skeptischen Teil besonders geschätzt, der ihm selbst manchmal fast völlig fehlte. Und doch ließ sie sich auf seine gewagten Thesen ein, verschloß sich von vorneherein keiner noch so absurd erscheinenden Theorie... Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was er ohne sie wäre und ob es ihn überhaupt noch gäbe. Sie erst machte ihn zu einem ganzen Menschen, wie ihm schien.

„Es wird auch keine U-Bahn kommen, wenn du den Plan noch länger hypnotisierst“, zog sie ihn nun auf, als sie erkannte, daß seine Gedanken abgedriftet sein mußten.

Ertappt sah er sie an, seufzte und lächelte leicht. „Ich bin müde, Entschuldigung.“ Er beugte sich zu ihrem Sitz hinüber und küßte sie zärtlich auf die Wange. „Was haben wir denn sonst immer gemacht, wenn wir uns verfahren hatten?“ fragte er dann und musterte die unscheinbare Fahrspur, die weder nach rechts noch links, sondern geradeaus führte.

„Ah, nein!“ protestierte Scully. „Das ist doch noch nicht einmal eine Straße. Das sind bestenfalls Reifenspuren.“

„Na eben. Die müssen doch irgendwo hinführen“, sagte er und gab Gas.
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