World of X

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Geschenk Gottes

von Andrea Muche

Kapitel 2

„Na also“, stellte der Agent befriedigt fest, als die holperige Fahrspur schließlich in einem gekiesten Platz vor einem Farmhaus endete. Zur anderen Seite standen Obstbäume in einer großen Wiese, und über dem Anwesen wehte die weiß-rot-blaue Büffel-Flagge Wyomings.

„Du denkst, das ist es?“ fragte Scully noch immer leicht zweifelnd, als er den Motor abschaltete.

„Doch, die Beschreibung stimmt.“ Er zog den Schlüssel ab und stieg aus, während ein dunkelhaariger Mann in einer Arbeitshose aus der Tür des Farmhauses trat, ein paar Schritte hinter ihm seine ebenfalls brünette Frau, die ein fast bis zum Boden reichendes, geblümtes Kleid trug, um ihren Hals eine Kette mit einem Kreuz, die Scully sofort an ihre eigene religiöse Erziehung denken ließ. Beide waren nicht mehr ganz jung, machten aber einen offenen, sympathischen Eindruck.

„Sind Sie die angekündigten Experten vom FBI?“ fragte der Farmer.

„Ja“, sagte Mulder und ging mit Scully, die ebenfalls den Wagen verlassen hatte, auf den Mann zu. Sie zückten ihre Ausweise. „Special Agent John Martin Wayne und Special Agent Laura Cullum.“

Der Mann sah leicht belustigt drein. „John Wayne? So wie der Cowboy?“

Mulder zog ein Gesicht, während sich Scully das Lachen kaum verbeißen konnte. Sie hatte ja gleich gesagt, er solle sich einen anderen Decknamen ausdenken. Aber wenigstens war er nicht wieder auf einen derart abstrusen verfallen wie damals, als sie undercover ein Ehepaar mimten und er nicht müde würde, allen, die es hören wollten – oder auch nicht –, zu erklären, daß sich dieses Petri genau wie die Petrischale aussprach.

„Sie wollen gleich den Ort sehen, an dem es passiert ist?“ fragte der Farmer.

„Ja“, sagte Scully, obwohl sie gegen einen Schluck Kaffee vorher auch nichts einzuwenden gehabt hätte.

„Folgen Sie mir.“ Der Mann in der Latzhose setzte sich einem Feldweg entlang in Bewegung. Scully sah auf seine schweren Arbeitsstiefel und wünschte, sie hätte sich etwas land-passender angezogen.



„Scheiße“, entfuhr es Mulder wenig später, als sie an einem Gatter angekommen waren und er zu spät bemerkte, daß er mit seinen schwarzen Lederschuhen gerade in einen dicken Kuhfladen trat.

„Situation gut analysiert, Agent Wayne“, zog Scully ihn auf, während Mulder versuchte, den Dreck wenigstens halbwegs von seinen Schuhen zu streifen.

„Sie sind nicht vom Land, oder?“ fragte der Farmer, der das Mißgeschick ebenfalls bemerkt hatte. Dann öffnete er das Gatter, ließ sie hindurch und deutete auf die friedlich grasende Herde. „Dort drüben.“

„Was sind das? Fleischrinder?“

Der Farmer sah Mulder nur erneut mitleidig an. „Die hier nicht. Mutterkühe.“

„Aha.“

„Waren sie vorher schon jemals aggressiv?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht. Ich meine, gut, einen eigenen Kopf haben Kühe schon. Wenn man etwas macht, das ihnen nicht paßt, kann es durchaus sein, daß sie einen auch mal umrempeln. Oder einem einen Kuhfladen auf die Motorhaube des Autos setzen, falls man gedacht hat, sie machen die Straße schneller frei, wenn man ganz nahe an sie heranfährt und hupt. Ist meinem Nachbarn mal passiert.“

Jetzt waren sie bei den Kühen angekommen. Der Farmer, der sie alle beim Namen kannte, sprach mit ihnen, streichelte einmal links, tätschelte einmal rechts und schob für Mulder und Scully einen Weg frei, so daß sie die Stelle sehen konnten, an der die Kühe den unglücklichen Mann in die Zange genommen und zu Tode getrampelt hatten.

„Ich weiß nicht, was er getan haben könnte, um sie so zu provozieren“, sagte der Farmer und kratzte sich am Kopf. „Sie müssen alle um ihn herumgestanden haben, sehen Sie ihre Spuren am Boden?“

„Und dann hat jede einmal zugetreten, so wie bei einem Mord in einem Buch von Agatha Christie?“

„Naja, so hat es jedenfalls ausgesehen. Das Gesicht war nur noch Matsch, der Brustkorb eingedrückt. Es war ganz klar, daß der Mann nicht mehr am Leben war, als ich ihn am Morgen da gefunden habe. Und die Kühe standen locker um ihn herum und weideten ganz friedlich. So was habe ich wirklich noch nie gesehen, Sir.“

„Haben Sie den Mann gekannt? War er von hier?“

„Nein. Ein Landstreicher wohl, einer, der in Scheunen schläft und bei den Bauern um Essen bettelt.“

„Woraus schließen sie das?“

„Aus dem, was von ihm übrig war. Einen Anzug hat der nicht getragen“, sagte der Farmer und ließ seinen Blick vielsagend an den beiden Agenten hinauf und hinunter wandern. „Hatte seine ganze Habe dabei. Und außerdem war er vorher bei meiner Frau um Proviant betteln.“

„Ach, dann kannte Ihre Frau ihn ja.“

Der Mann sah Mulder leicht angewidert an und drehte sich wieder zum Gehen um. „Nein“, sagte er aus dem Mundwinkel.



„Also, noch mal von vorn“, begann Mulder, als sie sich dem Farmhaus wieder näherten. „Sie haben den Toten gefunden und die Polizei angerufen.“

„Nein, den Pfarrer.“

„Und Ihre Frau sagte dann, sie hat den Verunglückten kurz zuvor noch lebend gesehen?“

„Ja, aber fragen Sie sie doch selbst. Ich war ja nicht dabei, war gerade aufs Feld weggefahren. „Linda?!“ rief er, als er, die beiden FBI-Agenten im Schlepptau, in das Haus eintrat, das sich gleich in einen großzügigen Wohnraum öffnete.

„Wer lebt oder arbeitet denn sonst noch alles auf der Farm?“ fragte Scully.

„Wohnen tun hier nur meine Frau Linda und ich. Und unser Sohn Billy.“ Er deutete mit der Hand auf das Kind, das in einer Ecke vor dem Computer saß und etwas aufgerufen hatte, das wie eine schematische Darstellung des Sonnensystems aussah.

„Wie alt ist er?“ fragte Scully verblüfft.

„Vier. Beinahe.“

„Und interessiert sich für Astronomie?!“

„Astronomie, Biologie, Theologie, alles mögliche. Wir waren schon bei Ärzten und Psychiatern mit ihm, weil wir dachten, es stimmt was nicht. Meine Frau hatte ja schon so ein komisches Gefühl, als wir ihn bekommen haben, wissen Sie. Aber die Ärzte sagen, es ist alles in Ordnung. Nur daß er hochbegabt ist. Oft spricht er von Sachen, von denen wir noch nie gehört haben, als wäre das das Normalste von der Welt. Aber wenn er ganz gesund ist...! Das ist schließlich das Wichtigste.“

Die Farmersfrau kam von oben die Treppe heruntergelaufen. „Bin schon da, Schatz. – Möchten Sie etwas trinken und essen? Es ist sowieso gleich Abendbrotzeit.“

„Es leben also nur Sie drei auf der Farm?“ nahm Mulder den Faden wieder auf.

„Ja, und zum Arbeiten kommen noch Miller und Angus her, ab und zu jedenfalls.“

„Sind sie jetzt da?“

„Nein, erst am Montag wieder. Aber nun kommen Sie doch in die Küche.“

„Die Leiche sollten wir uns allerdings heute auch noch ansehen.“

„Oh, das wird sowieso nicht gehen. Die Fahrt ist 30 Meilen, und da arbeitet jetzt keiner mehr.“

„Naja, dann morgen.“

„Am heiligen Sonntag?! Das ist völlig unmöglich. Nein, Sie werden bis zum Montag warten müssen, fürchte ich.“

„Gibt es denn hier in der Nähe wenigstens ein Motel, in dem wir übernachten können?“

Die Farmersleute schüttelten den Kopf. „Nein“, sagte Linda. „Aber ich habe Ihnen oben das Besucherzimmer hergerichtet, Sie können gerne hier übernachten, wenn Sie möchten. Seien Sie unsere Gäste!“



„Ich habe den fremden Mann auch gesehen“, verkündete Billy beim Abendessen, zu dem sie alle um einen großen, blankgescheuerten Eßtisch in der Küche saßen und sich dabei über den Unglücksfall unterhielten. „Ich bin aber in den Garten gegangen, als er hereingekommen ist. Und ich habe im Garten gerade eine Echse beobachtet, als er wieder ging und Mami ihm eine runtergehauen hat.“

„Was hast du? Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.“ Der Farmer sah seine Frau überrascht an.

Sie senkte ihren Blick verlegen auf den Teller und lief ein wenig rot an. „Er wollte frech werden“, erklärte sie dann. Als sie wieder aufblickte, sah sie ihren Mann wie um Verzeihung bittend aus ihren klaren, blauen Augen an. „Billy hat aus dem Garten ganz erschreckt etwas gerufen, und da ist mir dem Mann gegenüber die Hand ausgerutscht. Ich hab gesagt, er soll nur machen, daß er fortkommt, und er ist auch gleich gegangen. – Ich wollte es dir ja erzählen, aber erst habe ich nicht dran gedacht, und dann war der Mann tot. Über die Toten soll man nicht schlecht sprechen, und es war zudem nicht wirklich etwas passiert. – Ich habe seinen plumpen Annäherungsversuch widerlich gefunden, aber daß er dann so zu Tode kommt, nein... der arme Mann.“

Der Farmer langte über den Tisch hinweg zu seiner Frau und drückte ihr beruhigend den Arm. „Ist schon gut. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Einen Wanderer zu bewirten ist schließlich christliche Pflicht.“

Billys kastanienbrauner Schopf senkte sich über den Teller, und der Junge zog leicht die Nase kraus, wie es Scully schien. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in der Klosterschule und wie die Nonnen so oft von den christlichen Pflichten und Tugenden gesprochen hatten, daß ihren Zöglingen das Thema zu den Ohren herausgekommen war. Vielleicht ging es diesem Jungen ähnlich. Sie schmunzelte.

„Seid ihr beide vom Federal Bureau of Investigation?“ platzte dann die Neugierde aus dem Kind heraus.

Mulder sah ihn verblüfft an. Nicht allzu oft wurde der Namen ihrer Dienststelle korrekt in seiner ausgeschriebenen Version verwendet, schon gar nicht von Kindern. Dann fiel ihm die Sache mit der Hochbegabung wieder ein.

„Ja, sind wir. Haben dir das deine Eltern gesagt?“

„Nein, das habe ich mir gedacht. Ihr habt ja keine Uniformen an wie die normale Polizei, und die war außerdem schon da. Was sind denn eure Spezialgebiete? Und wie heißt ihr eigentlich überhaupt?“

„Mein Name ist Martin, und das ist meine Partnerin Laura“, stellte Mulder vor. „Ich habe Psychologie studiert, vor meiner Ausbildung fürs FBI.“

„Und ich Medizin“, fügte Scully an.

„Ich kenne viele Mediziner und Psychiater“, sagte Billy dazu. „Mit denen kann man sich ziemlich gut unterhalten.“

„Ja? Worüber denn zum Beispiel?“

„Zum Beispiel darüber, wie und wo das Gehirn Sprache speichert.“ Billys Wangen glühten nun vor Begeisterung über sein neues Publikum. „Ich finde es unheimlich interessant, daß Fremdsprachen, die man später lernt, in einem anderen Teil abgelegt werden als die Muttersprache. Und daß aber bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern alle diese Sprachen im Areal der Muttersprache liegen.“

Mulder und Scully sahen sich mit offenem Mund an.

„Ja“, ging Scully dann auf Billy ein, „warum das so ist, ist noch immer ein kleines Rätsel. Es gibt aber auch Menschen, bei denen das anders ist. Man sagt, bei diesen Ausnahmen schließt sich das Sprachfenster nie, und sie können auch als Erwachsene noch fremde Sprachen akzent- und fehlerfrei lernen und sie benutzen als wäre es ihre Muttersprache. Hast du schon einmal vom Seefahrtsdichter Joseph Conrad gehört? Er war so ein Mensch.“

„Nein, das wußte ich noch nicht. Nach dem werde ich morgen mal gleich im Internet suchen.“

„Ja. Und jetzt machst du dich langsam bettfertig, junger Mann“, mahnte seine Mutter.

„Darf ich noch bißchen im Wohnzimmer bleiben und Musik hören?“

„Ja, meinetwegen. Aber du ziehst vorher schon mal den Schlafanzug an, wäschst dich und putzt dir die Zähne, ja?“

„Ja, Mami.“

„Na lauf!“

Lächelnd wandte sie sich an Mulder und Scully. „Manchmal vergißt man fast, daß er trotzdem ein Kind ist, das feste Regeln und Erziehung braucht, so wie jedes andere Kind auch“, sagte Linda.

„Das muß schwer sein“, merkte Scully an. „Ein Kind zu haben, das so anders ist als andere; man fragt sich immer, ob man alles richtig macht mit ihm.“

„Oh ja.“ Linda nickte. „Haben Sie selbst Kinder?“

„Ich hatte eine Tochter, aber sie ist gestorben“, antwortete Scully leise. „Danach habe ich einen Sohn bekommen.“



„Was macht er da?“ Scully sah Billy, schon in seinem Schlafanzug, auf den ein lachender Mond gestickt war, mit etwas, das nach einer Klavierpartitur aussah, auf dem Boden liegen.

„Er hört Musik“, sagte seine Mutter. „Er sagt, er hört sie in seinem Kopf, genauso wie man Beschreibungen in einem Buch im Geist als Bilder sieht.“ Sie seufzte. „Und er kann gar nicht verstehen, daß nicht alle Menschen auf diese Art Musik hören, weil sie dann nicht auf die Interpretation eines Pianisten oder Dirigenten angewiesen sind. Ich habe versucht, ihm zu erklären, daß schließlich nicht nur Bücher lesen, sondern auch Filme ansehen schön ist. Und daß, wer nicht lesen kann, sich deswegen trotzdem immer noch an einem Film erfreuen kann.“

Scully lachte sie aufmunternd an. „Sie schlagen sich wacker.“

„Ich versuche mein Bestes.“

„Ach, verflixt noch eins“, polterte in dem Moment Lindas Mann von draußen ins Haus, in der Hand eine tote Ratte. „Schau dir das an: Gift! Miller, dieser Trottel, hat Gift gegen unser Rattenproblem ausgelegt, ohne uns etwas davon zu sagen. Jetzt weiß ich, woran Buddy gestorben ist! Gift hat er gefressen. Deswegen hatte er so viel Speichel ums Maul...“

„Sch!“ mahnte Linda mit Blick auf den nebenan lesenden Billy. „Er braucht das nicht zu hören.“ Zu Scully gewandt sagte sie: „Buddy war unser Hund. Billys Hund, eigentlich. Die beiden waren unzertrennlich. Und Billy leidet sehr darunter, daß er seinen Spielkameraden nicht mehr hat.“



Scully erwachte von Splittern und Krachen. Jedenfalls war das, was sie dachte. Oder war der Lärm vielleicht nur in einem Traum vorgekommen? Jetzt schien alles ruhig. Oder nein, nicht ganz. Eine Katze fauchte unten offenbar etwas oder jemanden an. Ein wildes Tier vielleicht. Oder auch eine andere Katze. Die Agentin dreht sich um. Mulder schlief tief und fest neben ihr. Sie erhob sich leise und ging zum Fenster hinüber. Nirgends war ein Licht, die gesamte Farm lag schlafend im Dunkel der Nacht. Aber huschte dort unten nicht etwas im Mondschein über die Wiese?

Die Katze, vermutlich. Die aggressiven Geräusche hatten aufgehört, vielleicht verfolgte die Katze das fremde Tier auf der Flucht noch ein Stück. Und was bewegte sich dort hinten unter den Bäumen? War da nicht etwas Weißes? Scully rieb sich die Augen. Nein, sie hatte sich wohl vom Mondlicht und den Schatten der Bäume täuschen lassen. Alles war ruhig. Scully begann mit ihren nackten Füßen zu frösteln und schlüpfte schnell wieder zu Mulder zurück ins Bett. Dieser murmelte Undeutliches im Schlaf, streckte den Arm nach ihr aus und kuschelte sich dann an sie.



„Sie leben christlich?“ Bei der Frage am Morgen hatte Linda auf Scullys Kreuz gedeutet.

„Möchten Sie uns zur Kirche begleiten?“

Die Agentin hatte genickt, und auch Mulder war mitgekommen, da dies die Gelegenheit bot, andere Einwohner dieser einsamen Gegend kennenzulernen und einen besseren Eindruck von der Atmosphäre zu bekommen. Doch jetzt wünschte Scully fast, sie wären auf der Farm geblieben. Nicht nur, daß der Weg zur Kirche ziemlich lang war; der Priester war auch einer von jenen, die vor allem gut darin waren, einem die ewige Verdammnis, die einen erwartete, wenn man nicht mindestens jeden Sonntag in die Kirche ging, in buntesten Farben auszumalen.

Endlich war der Gottesdienst beendet. Aber es gehörte hier zum guten Ton, sich danach noch zu einer Art Brunch im Gemeindesaal zu treffen. Kaum waren Mulder und Scully mit der Farmersfamilie eingetreten, als sich der Prediger schon auf sie stürzte.

„Ist Miller wieder auf die schiefe Bahn geraten?“ fragte er das Farmersehepaar ohne Umschweife.

„Miller?“

„Henry Miller, der bei Ihnen arbeitet.“

„Ich weiß nicht viel über ihn, Reverend“, sagte der Farmer. „Er arbeitet ja auch nicht täglich bei mir.“

„Er war heute nicht in der Kirche.“

„Kann sein. Er ist mir jedenfalls auch nicht aufgefallen.“

„Es ist Ihre Christenpflicht, zu versuchen, ihn auf den rechten Weg zurückzuführen. Wie will er das Himmelreich schauen, wenn er sich nicht zum Gottesdienst sehen läßt? Sie kennen ihn. Sie müssen Einfluß auf ihn nehmen.“

„Wie sollen wir das denn machen, Reverend?“ fragte Linda nun. „Er ist ein erwachsener Mann. Wir können ihm nicht vorschreiben, daß er in die Kirche gehen soll.“

„Öfter darauf hinweisen könntet ihr ihn schon.“

„Also gut“, lenkte Lindas Mann ein, „wir werden es versuchen.“

Der Pfarrer beugte sich zu Billy hinunter. „Und wie geht es dir, mein Sohn?“

Billy umklammerte die Hand seines Vaters und versuchte, sich hinter dessen Beinen zu verstecken. Er antwortete nicht.

„Er vermißt seinen Hund Buddy sehr“, sprang sein Vater schließlich für ihn ein. „Nicht wahr, Billy?“

Der Junge nickte. „Ich bin manchmal so traurig, seit er gestorben ist.“

Der Pfarrer sah ihn entsetzt an. „Aber Billy! Wie kannst du so etwas sagen?!“

Mulder warf Scully einen Blick zu, aus dem klar hervorging, daß er nicht die leiseste Ahnung hatte, was den Gottesmann so aus der Fassung gebracht hatte. Scully rollte mit den Augen und seufzte. Ihr war nur zu klar, was nun kommen würde.

Und prompt wetterte der Priester: „Buddy war ein Tier, auch wenn du ihn gern gehabt hast. Tiere sterben nicht, sie verenden! Sie haben keine Seele, sie haben kein Bewußtsein! Sie können nicht sterben, denn das ist ein Wort, das bezeichnet, daß man sich seines Zustandes bewußt ist, daß man weiß, was kommt, und daß man im Vertrauen auf Gottes Güte den Tod annimmt! Zu diesen Empfindungen und Erkenntnissen sind Tiere nicht in der Lage! Und deswegen verenden sie, merk dir das!“

Billy war bei seinen Worten kreideweiß geworden. „Das ist nicht wahr!“ schrie er, riß sich von der Hand seines Vaters los und rannte zur Tür, heiße Tränen im Gesicht.

„Billy!“ seine Mutter wollte ihm nach, aber der Priester packte sie und ihren Mann am Arm, um ihnen nahezulegen, der Junge solle möglichst bald an Bibelstunden teilnehmen.

Scully hatte Lindas Blick aufgefangen und unmerklich genickt. Dann wandte sie sich um und lief Billy hinterher, der inzwischen schon aus dem Raum war und die Tür hinter sich zugeschlagen hatte.

Als die Agentin die Türe erreichte und hinaustrat, war Billy schon ein ganzes Stück die Straße hinunter.

„Billy!“ schrie sie und rannte ihm hinterher. „Billy, warte!“

Er wartete nicht, sondern bog von der Straße ab, rannte querfeldein. Doch tränenblind stolperte er schließlich über einen Maulwurfshügel und schlug der Länge nach hin. In einer Sekunde war Scully bei ihm. Sie ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und zog ihn hoch. Weinend stürzte sich der Junge in ihre Arme.

„Ist schon gut“, versicherte Scully, während sie ihn hin und her wiegte und ihm über sein kastanienbraunes Haar strich, das manchmal leicht rötlich schimmerte. „Der Reverend sagt, was er für richtig hält. Nimm es dir nicht so zu Herzen. Viele Menschen glauben, die Wahrheit zu kennen, aber manchmal gibt es viele verschiedene Wahrheiten. Auch ein Priester kennt sie nicht alle, er ist nicht Gott.“

„Buddy hat ganz genau gewußt, daß er stirbt“, heulte Billy in ihren Armen. „Er hat mir mitgeteilt, daß er Angst hat. Und daß er mich nicht alleine lassen will. Aber er hat gewußt, daß es zu spät ist, um noch etwas gegen seinen Tod tun zu können. Und er hat gesagt, ich soll nicht traurig sein. Aber ich bin traurig! Und wütend! Und ich möchte, daß er wiederkommt. Und der blöde Pfarrer kann meinetwegen zum Teufel gehen! Ich wünsche mir, daß er verendet!!“

„Aber Billy!“ Scully hielt ihn ein wenig von sich ab und blickte ihm in die tränennassen blauen Augen. „Das darfst du trotzdem nicht sagen. So etwas darf man nicht wünschen. Ich verstehe deinen Zorn ja, aber er weiß es einfach nicht besser! Du willst dich doch nicht auf eine Stufe mit ihm stellen, oder?“

Der Junge schluckte, er wischte sich die Tränen ab und sah Scully dann schuldbewußt an. „Ich weiß, daß es unrecht ist, so etwas zu sagen, Tante Laura. Und daß unser Herr Jesus sagt, man soll die andere Wange hinhalten. Aber das kann ich einfach nicht! Das ist doch nicht gerecht! Warum straft Gott die nicht, die Böses tun?!“

„Nun, vielleicht tut er das ja. Aber möglicherweise auf ganz andere Art, als du oder ich uns vorstellen können. Er ist so viel größer als wir. Wer sind wir, daß wir ihm sagen wollten, wie er zu handeln, was er zu tun hat? Selbst wenn uns jetzt etwas ungerecht erscheint: Vielleicht erkennen wir nur nicht, was die wahren Hintergründe sind? Oder verkennen, daß Gott eine Situation als Prüfung für uns gedacht hat. Vielleicht will er, daß du lernst, dich zu beherrschen, auch wenn du mit Dummheit konfrontiert wirst?“

„Dann findest du auch, daß der Reverend dumm ist?“

Scully seufzte. „Das war nicht ganz genau, was ich damit ausdrücken wollte, Billy. Aber... Ich glaube auch nicht, daß er recht hat mit dem, was er über Buddy erzählt.“

Mulder, der ihnen gefolgt und ein Stück hinter ihnen stehengeblieben war, sah gerührt auf die Szene, die sich ihm bot: Scully, die Seite an Seite mit einem unglücklichen, kleinen Jungen saß, ihm tröstend übers Haar strich, sich zu ihm hinbeugte, um ihm Mut zuzusprechen. Jetzt schlang der Kleine beide Arme um sie und ließ sich von ihr festhalten und wiegen. Wer es nicht wußte, hätte denken können, einer Mutter mit ihrem Kind zuzusehen. Es war eine Schande, daß es Scully verwehrt geblieben war, das Glück der Mutterschaft auszukosten. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht – und dann alles aufgegeben. Für das Wohl des Kindes. Des unschuldigen Kindes, das niemals in Gefahr geraten wäre, wenn nicht ausgerechnet er, Fox Mulder, es gezeugt hätte.

Mulder seufzte. Wenigstens hatten sie noch einander. „Und was hast du jetzt davon?“ hatte er Scully einst resigniert gefragt, in einem Motelzimmer in Roswell. Doch die Wahrheit war, daß sie füreinander bestimmt gewesen waren, vom ersten Tag an, an dem sie sich trafen. Sie hatten es nur beide sehr lange nicht wahrhaben wollen.



„Ja, was ist denn das?!“ Der Farmer sprang aus dem Jeep, kaum, daß er ihn zum Halten gebracht hatte, und lief auf einen der Obstbäume vor dem Haus zu. „Henriette! Wie kommst du denn hierher?! Ich denke, du stehst in deinem Pferch!“ Bei Henriette handelte es sich ganz offensichtlich um das Schaf, das friedlich weidend unter dem Baum stand.

Während Linda und Billy aus dem Wagen kletterten und sich ebenfalls zum Vater und Henriette gesellten, ließen sich Mulder und Scully, die mit ihnen im Wagen gefahren waren, etwas Zeit.

„Dir ist es hier ein bißchen viel mit der Religion, oder?“ fragte Scully ihren Partner vorsichtig.

Mulder machte eine abwehrende Geste. „Ach, nein. Die Leute scheinen ganz in Ordnung zu sein. Nur dieser Pfarrer... Er agiert wie ein Tyrann, der alles besser weiß. In meiner Vorstellung ist Religion eigentlich etwas, das die Menschen aufbauen und ihnen dabei helfen soll, ihr Leben zu meistern und in gute Bahnen zu lenken. Und nicht dieses Erbsenzählen von wegen Wer-war-heute-aber-nicht-in-der-Kirche.“

„Da gebe ich dir recht. Aber leider ist es sehr oft anders. Und die Religion wird als Machtinstrument mißbraucht.“

„Ja, und schwuppdiwupp haben wir heilige Kriege, auf deren beiden Seiten jeder glaubt, Gottes Willen zu tun.“

„Glaubst du, die Religion hat etwas mit dem zu tun, was hier geschehen ist?“

„Hm. Ich wüßte nicht, wie. Aber ich bin gespannt auf...“ Er unterbrach sich und sah auf eine Stelle hinter dem Farmhaus.

„Was ist?“ Scully folgte seinem Blick. In einiger Entfernung hinter dem Haus kreisten ziemlich große, schwarze Vögel. „Saatkrähen?“

„Was zieht die dort an?“

Sie liefen los. Die Vögel kreisten über einer bestimmten Stelle und sahen fast so gespenstisch aus wie die Schwärme im alten Hitchcock-Klassiker. Immer wieder gingen welche nieder und hockten auf etwas, das dort am Boden lag. Erst als die Menschen näherkamen, machten sie ihnen widerwillig Platz.

„Oh mein Gott!“

Der Mann lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Sein Kopf ruhte in merkwürdigem Winkel direkt neben einem großen, scharfkantigen Stein. Seine Augen waren nicht nur blicklos – sie waren so gut wie nicht mehr vorhanden: Die Vögel hatten die weiche Masse zu einem Gutteil bereits herausgepickt.

„Noch ein Unfall“, sagte Scully. „Merkwürdiger Zufall.“

„Zu merkwürdig für meinen Geschmack.“

„Er kann gestürzt und unglücklich auf dem Felsen aufgeschlagen sein. Aber diese Spuren hier...“ Sie deutete auf Kratzspuren im Gesicht. „Ich bin mir nicht sicher, ob das alles von den Vögeln stammt.“

„Fingernägel?“

„Keine Ahnung. Sonntag hin oder her: Ich würde sagen, die Gerichtsmedizin bekommt Arbeit.“



Die „Gerichtsmedizin“ entpuppte sich als Anbau an die Polizeistation, der einmal eine Garage gewesen war. Und es war am Sonntag in der Tat niemand greifbar, der eine Autopsie hätte durchführen können – und obendrein handelte es sich bei demjenigen, der normalerweise als Pathologe arbeitete, um niemand anderen als den örtlichen Beerdigungsunternehmer, in dessen Räumlichkeiten der Autopsieraum noch bis vor kurzem untergebracht war.

„Kein Problem“, sagte Scully mit ergebenem Lächeln und zog sich die Handschuhe über.

Mulder, der noch mit den diensthabenden Beamten geredet hatte, trat ein, um zuzusehen.

„Das hier ist also Henry Alvin Miller?“ fragte seine Partnerin.

„Ja, der vom Pfarrer so schmerzlich vermißte. Gott sei seiner Seele gnädig. Unser Gastgeber sagt, der Fundort ist nicht ungewöhnlich, da dort ein Pfad als ideale Abkürzung zur Nachbarsfarm verläuft, die Millers Tante gehört, und er hat sie am Wochenende oft besucht, so auch dieses. Er war offenbar in der Nacht auf dem Rückweg, als passiert ist, was immer ihm passiert ist.“

Scully machte sich an die Arbeit und konnte Mulder schon bald mehr sagen. „Todesursache: Genickbruch. Es hat ihn eindeutig das Leben gekostet, als er auf den Stein am Boden aufschlug.“

„Kann er mit dem Stein auch erschlagen worden sein?“

„Den Spuren nach nicht. Allerdings sind ihm vor seinem Tod Schläge oder Stöße zugefügt worden, in der unteren Körperhälfte.“ Sie deutete auf die Hämatome, die dies anzeigten.

„Wovon? Ein Kind?“ Einen Moment lang mußte er, ob er wollte oder nicht, an Billy denken.

„Hat der Junge eigentlich gewußt, daß Miller für den Tod seines Hundes verantwortlich war?“

„Du kannst doch nicht ernsthaft annehmen, daß er sich nachts aus dem Haus schleicht, um einen Erwachsenen anzugreifen. Im übrigen hat er es nicht gewußt. Das heißt... Billy war im Wohnzimmer, als sein Vater gestern mit der toten Ratte ins Haus kam und davon gesprochen hat, daß der Hund am von Miller ausgelegten Gift gestorben ist. Aber ich glaube nicht, daß er das mitbekommen hat. – Es sieht für mich übrigens eher so aus, als sei Miller von einem Tier gerempelt worden. Was wiederum nicht überraschend ist, schließlich arbeitet er mit Tieren.“

„Mhm. Tiere. Schon wieder.“

„Und verschiedene Arten. Die Spuren im Gesicht: Sie stammen von den Krallen einer Katze.“

„Kann sie ihn dort draußen angegriffen und damit bewirkt haben, daß er stürzte?“

„Möglich.“

„Was sind diese Spuren hier?“ Mulder deutete auf etwas, das aussah wie Einstiche im Bereich der Unterarme.

„Das waren die Vögel. Post mortem.“

„Aha.“

„Mulder? Was ist? Du siehst aus, als wolltest du etwas sagen.“

„Nur so ein Gedanke. Als ich noch ein Kind war, hatten wir mal ein Schaf. Es war an einem Pflock festgebunden. Und ich habe es gehaßt, den Pflock versetzen zu müssen, weil mich das Tier dabei jedes Mal angegriffen und umgerempelt hat. Was ich mich gerade frage: Wie groß ist eigentlich Henriette?“

„Henriette? Aber dann hätte sie letzte Nacht frei herumlaufen...“ Scully verstummte. „Vielleicht ist sie letzte Nacht frei herumgelaufen.“ Sie erinnerte sich nun auch daran, wie sie glaubte, von einem Krachen und Splittern wach geworden zu sein: Henriette, die soeben ihr Gatter sprengte? Der helle Fleck unter den Bäumen könnte natürlich in der Tat ein Schaf gewesen sein. Und eine Katze war in die gleiche Richtung gelaufen. Schaf und Katze...

Scully sah Mulder irritiert an. „Was ist das? Eine Verschwörung der Tiere? Ein Schaf und eine Katze, die gemeinsam einen Farmarbeiter angreifen und so zu Fall bringen, daß er sich das Genick bricht?“

„Denk an die Kühe.“

Scully rümpfte die Nase und sah hinüber zu dem anderen Tisch, auf dem der Landstreicher unter einem Tuch ruhte und noch darauf wartete, daß sie sich an ihm zu schaffen machte.

„Mulder?“ fragte sie dann. „Hat das eventuell auch Zeit bis morgen? Ich glaube nicht, daß er uns weglaufen wird. Und die Fahrt zurück zur Farm dauert sowieso noch ewig.“
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