World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Es ist vorbei

von Andrea Muche

Kapitel 1

Das Barbecue auf dem Dachgarten des vierstöckigen Mietshauses im Londoner Stadtteil Brixton war in vollem Gange. Die Cheeseburger waren schon verputzt, die auf dem Grill brutzelnden Hühnerbeine verströmten verführerischen Duft, auf dem Tisch reihten sich Salate und Soßen aneinander, und die gesamte Hausgemeinschaft lauschte bei Bier und Wein gerade den anekdotenreichen Erzählungen, die der Globetrotter des Hauses, der rein zufällig auch wieder einmal in London war, zum besten gab. Mit dem Samstag begann das lange Bank-Holiday-Wochenende, es war warm und sogar fast windstill, und die Idee, auf dem sonst eher von den Gartenliebhabern bevölkerten Dach einmal wieder ein Barbecue zu veranstalten, äußerst naheliegend. Nur gedämpft drangen die nie abreißenden Verkehrsgeräusche aus der Coldharbour Lane nach hier oben, die heulenden Polizeisirenen, die Rap-Musik aus offenen Autofenstern, das Hupen. Ein perfekter Samstagnachmittag.

Sogar Liz hatte sich endlich noch bei der Party eingefunden. Erst spät und nach mehrmaligem guten Zureden durch Kate zwar, aber immerhin. Kate machte sich große Sorgen um ihre beste Freundin, die in eine schwere Depression zu rutschen schien. Nach einer längeren Pechsträhne hatte Liz sich in den Wahn gesteigert, mit einem Fluch beladen zu sein. Was auf die faule Ausrede ihres dämlichen Ex-Freundes zurückging, als er sich davonmachte. Alan Brady hatte Liz eingeredet, an seiner Firmenpleite sei nur sie schuld gewesen, sie habe einen unguten Geist verbreitet, negative Energie verströmt – und sich nicht genug um ihn gekümmert. Sie sei herzlos, kalt und nicht liebesfähig, hatte er ihr an den Kopf geworfen. Und er hoffe nur, daß all das Unglück, das sie über ihn gebracht habe, auch einmal sie selber treffen werde.

Damit war er aus der Tür. So hatte Liz es erzählt, und die meisten Mitbewohner im Haus hatten es ohnehin auch mit eigenen Ohren gehört, der Typ hatte schließlich laut genug gebrüllt, und die Wände in dem älteren Haus waren nicht besonders schallisoliert. Kate war eher der Ansicht, daß Liz’ dämlicher Ex noch nie etwas auf dem Kasten hatte und die Firmenpleite deswegen nur logisch war, und was die plötzliche Trennung anging, vermutete sie den Grund eher in der Managerin mit dicken Titten und dickem Bankkonto, mit der Liz’ Ex seit neuestem um die Häuser zog.

Doch Liz wollte davon nichts hören. Sie nahm sich seine Worte zu sehr zu Herzen und fiel in eine Art schwarzes Loch. Weitere Probleme folgten: Liz verlor ihre Arbeit, ihre Schwester erkrankte schwer – und ständig passierte ihr außerdem ein Mißgeschick nach dem anderen, von bloß leicht blöd bis oberpeinlich. Kate versuchte ihr klarzumachen, daß sie – verständlicherweise – einfach schlecht drauf war und außerdem vermutlich von der sich selbst erfüllenden Prophezeiung heimgesucht wurde, die auch jeder Horoskop-Gläubige kennt, aber Liz wollte davon nichts hören. Sie steigerte sich völlig in den Glauben hinein, verflucht zu sein. Das Unglück, das ihr Ex ihr gewünscht habe, verfolge sie nun wirklich beständig. Und so blieb sie mehr und mehr zu Hause, am liebsten im Bett, getreu dem Motto „wenn ich nichts tue, kann auch nichts schief gehen“ (was allerdings auch nicht so ganz stimmte, denn ausgerechnet in ihrer Wohnung gab es sodann prompt einen Wasserrohrbruch, der die Wände und Decken sämtlicher Etagen darunter in Mitleidenschaft zog).

Eigentlich hatte Liz auch den Samstag alleine zu Hause verbringen und niemanden sehen wollen, aber Kate, die sich Sorgen um sie machte, hatte ihr so lange gut zugeredet, bis sie endlich doch beim Barbecue aufgetaucht war. Es begann nicht bei ihrem Erscheinen schlagartig zu regnen, und es fiel auch nicht ein Abwasser-Eisklumpen aus einer Flugzeugtoilette vom Himmel wie jener, der beim letzten Mal ein Loch ins Dach geschlagen hatte.



Doch Kate war am Abend gerade dabei, die Kerzen in den Windlichtern anzuzünden und Liz aufmunternd zuzulächeln, als es geschah: Der Wasserschlauch im Kinderplanschbecken der Nachbarn richtete sich ohne Vorwarnung auf wie eine Schlange, schickte einen dicken Wasserstrahl in Richtung Party und traf ausgerechnet Liz. Innerhalb von Sekunden war sie von oben bis unten pitschnaß.

„Verdammter Mist!“ rief Kate. „Diese blöden Handwerker!“ Die drehten zur Zeit ständig unten im Hof den Wasserhahn zu, vergaßen aber, ihn wieder zu öffnen, und die Hobby-Gärtner auf dem Dach schraubten verzweifelt ihre Schlauchdüsen in alle Richtungen. So hatte offenbar jemand übersehen, daß die Düse des Schlauches im Planschbecken offen war, und gerade eben mußte unten jemand, der Blumen gießen wollte, den Hahn wieder geöffnet haben. „Dreh doch einer mal diesen dämlichen Schlauch zu!“

Hilfreiche Hände streckten sich schon danach aus, im Handumdrehen war der Wasserschwall gestoppt. Liz war allerdings trotzdem tropfnaß. Sie sah Kate an und sagte dann nichts als: „Und? Was habe ich gesagt?“



Seufzend stapelte Kate die dreckigen Teller übereinander, leerte Aschenbecher und sammelte Gabeln ein. Irgendwie schien es ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, daß, egal wer das Barbecue eigentlich veranstaltet hatte, immer sie die letzte war, an der es hängen blieb, das ganze Geschirr und Besteck wieder nach unten zu räumen und zu spülen. Von allen anderen Partygästen war jedes Mal schlagartig nichts mehr zu sehen, sobald Kate ihnen für fünf Sekunden den Rücken zugedreht hatte, um sich noch den letzten Schluck Wein ins Glas zu schenken. Kate gähnte, während sie anfing, die Windlichter auszublasen und die Laternen zu löschen.

Dann hörte sie hinter sich die zum Dach führende Tür quietschen und drehte sich um. „Ach, erbarmt sich doch noch einer der Teller?“ fragte sie mit einem gutmütigen Lachen, unterbrach sich aber, als sie Liz erkannte. „Oh, du bist es! Warum bist du nicht eher noch mal wieder raufgekommen?“

Liz lachte freudlos. „Um euch das Barbecue endgültig zu ruinieren? Nein, danke! Was ich auch versuche – es ist alles total sinnlos. Und ich weiß das jetzt.“

„Aber Liz! Rede doch nicht so einen Unsinn.“ Kate ließ das Windlicht sinken, das sie gerade auspusten wollte. „Du hast dich da in die fixe Idee von dem Fluch hineingesteigert.“

„Ach ja? Und daß mein Leben von vorne bis hinten nur noch ein Haufen Scheiße ist, bilde ich mir das bloß ein, oder was?“

Liz klang so verbittert, daß Kate nicht wußte, was sie sagen sollte. Die beiden Frauen standen sich auf dem Dach gegenüber und schwiegen. Dann begann Liz wieder zu sprechen.

„Es ist vorbei. Aus und vorbei.“

„Nein! Was redest du denn da?!“ Da war etwas in Liz’ Ton, was Kate zutiefst beunruhigte. Dann fiel ihr etwas ein. „Liz, du solltest mal mit Marten sprechen. Vielleicht hast du ja recht, und es ist doch alles nicht so ganz erklärbar. Er kann dir dann aber möglicherweise helfen. Er war ein Studienfreund von mir, hatte Psychologie belegt...“

„Ein Seelenklempner? Nein danke, ich weiß auch so, was mir fehlt. Verrückt bin ich jedenfalls nicht.“

„Das habe ich auch nicht gemeint. Marten ist... Er hat sich nach dem Studium auf unerklärliche Phänomene spezialisiert. So könnte man es wohl ausdrücken. Und er weiß eine ganze Menge über alle möglichen seltsamen Sachen. Er ist kein Seelenklempner. Eher eine Art Fachmann für Übernatürliches. Vielleicht kann er dir helfen, vielleicht könnt ihr gemeinsam dein Problem lösen. Soll ich ihn nicht mal anrufen?“

„Nein.“ Liz drehte sich von Kate weg. „Nur ich kann mein Problem lösen. Das weiß ich jetzt.“ Sie ging ein paar Schritte von ihr fort, in die Dunkelheit hinein. „Nimm es nicht persönlich, aber ich kann einfach nicht mehr“, sagte sie dann noch, bevor sie losrannte, auf die Dachkante zu, auf den Sockel stieg, sich hochzog, das erste Bein über das schwarze Gitter am Rand des Daches schwang.

Da erkannte Kate, was passierte. „Neeeeeein....!!!!!“ Sie hörte sich selbst gellend schreien, hörte das Windlicht, das sie in Händen gehalten hatte, splitternd zerbrechen, als das Glas auf dem Boden aufschlug. Sie rannte Liz ins Dunkle hinterher, die sie dann wie den übergroßen, dunklen Schatten eines Raben über dem Geländer balancieren sah. Jetzt hatte Liz auch das zweite Bein drüben, sie blickte nach unten, wie Kate schien. „Nein!!!“ rief die noch einmal. Doch im selben Moment stieß ihre Freundin sich nach hinten ab und verschwand über die Dachkante aus Kates Blickfeld.



„Mulder, nun machen Sie doch nicht so ein Gesicht.“ Scully sah ihren FBI-Partner Fox Mulder tadelnd an, der mit Leidensmiene ein paar Akten auf dem Schreibtisch hin und her schob, sichtlich unwillig, das Büro zu verlassen. Die rothaarige, burschikose Agentin packte ihre Umhängetasche. „Sie sollen die X-Akten nicht im Meer versenken, Sie sollen sie nur ein paar Tage ruhen lassen, während Sie in Urlaub gehen.“

„Wer weiß, ob die nicht in der Zeit, in der wir weg sind, jemand anders im Meer versenkt“, grummelte ihr Partner und richtete aus seinen blau-grauen Augen einen anklagenden Blick auf sie, der sie an den bockigen Augenaufschlag ihres Patenkindes im Flegelalter erinnerte. Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Mulder, seien Sie nicht kindisch. Denken Sie wirklich, die müßten uns extra in Urlaub schicken, wenn sie die X-Akten vernichten wollten?“

„Mhm.“

Sie seufzte. „Mulder, wir sind beide überarbeitet. Sie hatten seit Ewigkeiten keinen Tag Urlaub. Und daß Sie dringend welchen brauchen, sehe ich an genau dieser Reaktion. Das hier ist Ihr Arbeitsplatz, nicht Ihr Zuhause!“

„Ich fühle mich hier aber extrem zu Hause, Frau Doktor“, bockte Mulder weiter.

Dann klingelte das Telefon.

Der erste Teil der Konversation klang sehr privat, und Scully wollte sich schon mit einem lautlosen „See you“ davonmachen ohne länger zu stören, als Mulder sie mit einem kurzen Kopfschütteln und einer bittenden Geste zurückhielt. Im folgenden Gespräch ging es offensichtlich um schwarze Magie, Flüche, Auswirkungen auf die Psyche und Selbstmord. Scully sah ihn fragend an, als er aufgelegt hatte.

„Das war eine alte Londoner Freundin aus Studientagen“, erklärte Mulder ihr. „Sie fragt sich, ob sie nicht Opfer eines Fluches geworden ist. Und dabei ist sie eigentlich eine ganz lebenslustige, rational denkende Frau. Das riecht nach einer X-Akte. Lassen Sie uns nach London fliegen.“

„Dann hören Sie jetzt den Kommentar einer ebenfalls lebenslustigen, rational denkenden Frau: Die X-Akten bleiben für ein paar Tage geschlossen, wir haben es dringend nötig, einmal wieder Abstand zu bekommen – und jetzt fahre ich mein Patenkind besuchen.“

Sie wandte sich zum Gehen.

„Wollen Sie wirklich nicht mitkommen?“ fragte Mulder enttäuscht.

„Nein.“

Er stieß seinen angehaltenen Atem geräuschvoll aus. „Dann fliege ich eben allein nach London.“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich kann Ihnen ja schließlich nicht vorschreiben, wie Sie Ihren Urlaub zu verbringen haben. Wiedersehen!“



Obwohl er sie seit Jahren nicht gesehen hatte, erkannte der Agent sie sofort: Eine schmale Gestalt mit rötlich-blonden Locken, grauen Augen und einer Unmenge Sommersprossen im Gesicht: Kate. Sie stand da, als er das Ankunftsterminal des Flughafens Heathrow verließ, und wartete auf ihn. Sie wirkte allerdings zierlicher und zerbrechlicher, als er sie in Erinnerung hatte, und völlig erschöpft.

„Hallo!“ Er winkte, lief zu ihr und nahm sie in die Arme. „Schön, daß du mich sogar abholen kommst. Du hast dich kein bißchen verändert.“

Sie legte einen Arm um ihn und lachte heiser. „Hör auf, mich schon zur Begrüßung anzulügen. Schön, daß du da bist.“

„Danke, daß du mich abholen kommst.“

Sie winkte ab. „Das ist ja wohl das mindeste. Außerdem bleibt dir die ,Tube‘ trotzdem nicht erspart.“ Sie schob ihn Richtung U-Bahn-Eingang. „Seit ich meinen Job los bin, habe ich mehr Zeit, als mir lieb ist. Aber mein Auto ist letzte Woche leider endgültig zusammengebrochen.“

„Wieso hast du eigentlich keinen Job mehr? Das verstehe ich nicht. Du bist doch sehr gut in deinem Fach.“

„Ja, schon. Aber welcher Fernsehsender leistet sich heute noch die qualitativ hochwertige Beratung durch eine Historikerin? Meinen Job hat jetzt die Frau des Produktionsleiters, ihres Zeichens Hobby-Geschichtswissenschaftlerin. Die kostet keinen Penny. – Allerdings ist sie auch keinen Pfifferling wert. In der jüngsten Produktion haben sie es doch tatsächlich fertiggebracht, eine Frau zu zeigen, die ihr Korsett unter dem Hemd trägt statt darüber. So was kommt dabei raus, wenn jemand Geschichtsberater sein darf, der mit Mühe gerade mal ein Geschichtsbuch halten kann.“ Sie seufzte tief. „Bloß scheint das irgendwie keinen außer mir zu stören.“

„Vielleicht sind deine Ex-Arbeitgeber ja ein heimlicher Außenposten des FBI. Das Verhalten erinnert mich doch irgendwie stark an das Verhältnis meiner Vorgesetzten zu den X-Akten, die ich bearbeite. Mein Büro ist inzwischen nicht nur sprichwörtlich im Keller.“

„Bei mir wundert es mich aber inzwischen nicht mehr, daß es so gekommen ist. In Anbetracht des Fluchs, der von Liz auf mich übergegangen ist...“

„Liz ist deine Freundin, die vor einem Jahr vom Dach gesprungen ist?“

Kate nickte. „Ich war dabei, konnte sie aber nicht aufhalten.“

„Das muß schlimm für dich gewesen sein.“

„Ja, Marten, das war es.“ Er registrierte belustigt, daß sie ihn immer noch mit seinem alten Uni-Spitznamen anredete. Den Namen Fox hatte er immer schon gehaßt, Mulder hatten ihn seine Freunde auf der Uni aber nicht nennen wollen. Kate war schließlich auf Marten verfallen, da es wie Mulder mit M anfing, der Marder – Marten – ein ebenso kluges Tier wie der Fuchs und dazu noch verspielt war, und der Name schlampig ausgesprochen außerdem wie „Martin“ klang. „Erst habe ich deswegen auch gedacht, meine eigene Depression würde nur daher rühren. Aber dann... Es passieren mir ständig dumme Dinge. So wie Liz vorher. Damals habe ich nicht wirklich ernst genommen, was sie über den angeblichen Fluch erzählt hat. Aber jetzt... Es geschehen einfach zu viele merkwürdige Sachen. So viele Zufälle auf einmal gibt es nicht. Für mich ist es eindeutig: Weil ich dabei war, als Liz gestorben ist, und sie mir nahestand, ist der Fluch auf mich übergegangen.“

„Zufälle wie der Verlust deines Jobs oder das kaputte Auto?“

„Ja. – Klingt so, für sich betrachtet, lächerlich, nicht wahr? Aber die Menge macht’s.“

„Was passiert denn noch so alles?“

„Wart’s ab, du wirst es erleben. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, manchmal halbe Katastrophen. Manches ist nur ein wenig peinlich, anderes ist zum Haare ausraufen. Auf alle Fälle aber treibt es mich langsam in den Wahnsinn – und ich habe nicht die leiseste Ahnung, was ich dagegen machen kann.“



Das erste „Vorkommnis“, wenn man es denn so nennen wollte, ereignete sich wenig später. Der Zug hielt plötzlich auf freier Strecke an. Dann fuhr er ein paar Meter weiter und hielt wieder. An der nächsten Station hieß es, alle Fahrgäste sollten zum Zug auf der gegenüberliegenden Plattform wechseln, da dieser eher losfahren würde. Was er auch tat. Allerdings blieb kurz darauf dieser Zug ebenfalls stehen, und längere Zeit geschah nichts. An der darauffolgenden Station mußten wieder alle umsteigen. Und auch der dritte Zug hielt ständig mitten auf der Strecke an.

„Das ist doch wieder mal typisch London Transport“, maulte einer der anderen Fahrgäste.

„Ist das wirklich typisch?“ fragte Mulder alias Marten halblaut seine Studienfreundin.

Kate zuckte die Achseln. „Manchmal schon. Also ist es vielleicht ein Zufall. Möglicherweise aber auch nicht. Als ich zuletzt mit dem Eurostar rüber auf den Kontinent fuhr, hielt der Zug plötzlich ein paar Kilometer vor Lille im Nirgendwo. Nichts ging mehr. Die Klimaanlage war ausgefallen, es gab kein Licht, die Toilettenspülung funktionierte auch nicht mehr, und das alles an einem heißen Tag. Länger passierte gar nichts. Irgendwann kam eine Durchsage, sie hätten ein kleines Feuer an der Maschine gehabt, das sei jetzt aber gelöscht, keine Gefahr, und sie versuchten, die Lok wieder in Gang zu bringen. Wieder passierte länger nichts, außer, daß Essen und Getränke ausgingen, die Kleinkinder im Zug zu brüllen anfingen und die Asthmatiker erste Atemprobleme bekamen, weil die Luft im Zug immer schlechter wurde. Nächste Durchsage: Das Feuer hat die Lok wohl doch stärker beschädigt, sie lassen jetzt mit Hilfe von Lille das komplette Notfallprogramm für die Fehlersuche durchlaufen. Wieder Schweigen im Walde. Bevor die ersten Leute erstickten, kam der Train Manager auf die Idee, nun vielleicht wenigstens mal die Türen öffnen zu lassen. Sonst passierte wieder nichts weiter. Nach drei Stunden die nächste Durchsage: Okay, nichts geht mehr, es kommt jetzt eine Diesellok aus Lille und schleppt den Zug ab. Die Diesellok kam auch – nur konnte sie nicht ankoppeln, da das Feuer auch die elektronische Kupplung lahmgelegt hatte. Die Reparatur wenigstens der Kupplung dauerte weitere zwei Stunden. Irgendwann waren wir dann tatsächlich in Lille – nach sechs Stunden bei Backofentemperaturen ohne einen Schluck Wasser mitten auf der Strecke.“

„Und du denkst, das war der Fluch?“

„Woher soll ich das wissen? Leicht stutzig macht mich allerdings, daß ich bei meiner vorhergehenden Reise acht Stunden am Flughafen festsaß, weil irgend so ein Trottel eine Maschine entführt hatte. Und die Bahnfahrt vor dieser Reise endete noch innerhalb Londons, weil nach einem Orkan das gesamte Verkehrsnetz zusammengebrochen war.“

„Na, dann bin ich ja mal gespannt, was sich als nächstes ereignet.“



Wider Erwarten kamen sie jedoch ohne weitere Probleme in Brixton an, es war noch nicht einmal die U-Bahn-Endhaltestelle gesperrt, was Kate eigentlich erwartet hatte, „wegen einer Bombendrohung, wegen eines Unfalls oder warum auch immer“. Daß sie am U-Bahn-Ausgang von einer Drogensüchtigen mit „Any change, please?“ um Münzen angebettelt wurden, war eher die Regel als die Ausnahme, wie Kate ihrem Studienfreund erklärte, genauso wie der schwarze Prediger an der Straßenecke, der mit seinen Worten Bilder der ewigen Verdammnis heraufbeschwor, wenn man sich nicht dem Wort Jesu zuwende, während ein anderer Mann in rekordverdächtigem Tempo aus dem Zugang zu den Brixton Markets geschossen kam, dem die Polizei hinterherrannte. Aber auch alle anderen Menschen auf den Straßen waren nicht gerade langsam unterwegs. Jeder hier schien es eilig zu haben, die Menschenmassen wogten in Richtung der Läden und des Marktes oder wollten dringend einen Bus erreichen oder suchten den Geldautomaten. Lärmendes Gewusel allerorten. „Ich mag das“, sagte Kate schmunzelnd, als Mulder sie darauf ansprach. „Bisweilen auf den Wecker geht es mir erst, seit ich nie mehr sicher sein kann, welche Katastrophe mir als nächstes wieder passieren wird. So gesehen ist es fast eigenartig, daß die Polizisten eben nicht auf den Flüchtenden geschossen und aus Versehen mich getroffen haben.“

„Kate...“ Er sah sie bestürzt an.

Sie zuckte die Schultern. „Naja, ist doch so.“ Dann wandte sie sich der Tür zu ihrer Linken zu. „Wir sind da.“ Sie steckte den Schlüssel ins Schloß, drehte und drückte gegen die Holztür. Nichts passierte.

„Verflucht noch eins“, schimpfte sie. „Dieses Ding wird auch immer widerspenstiger.“ Sie drehte wieder, preßte, drückte, hämmerte gegen die Tür. „Das gibt’s doch nicht. Verdammt. Aua!“

„Laß mich mal.“ Als auch ihr nächster Versuch nichts gefruchtet hatte, nahm Mulder ihr den Schlüssel aus der Hand. Er drehte sich knirschend, der Agent drückte nur ganz leicht gegen die Tür, und schon schwang sie auf. Kate sagte keinen Ton, sondern sah ihn nur konsterniert an, als er ihr den Schlüssel zurückreichte.

Sie traten in den dämmrigen Hausflur. „Fall nicht“, warnte Kate ihren Besuch. „Die Holzstufen sind ziemlich ausgetreten. Sie sollten eigentlich repariert und ein neuer Teppich verlegt werden, aber aus unerfindlichen Gründen hat die beauftragte Firma auf dem letzten Treppenabsatz aufgegeben, und wir warten nun schon seit Wochen auf das neuerliche Erscheinen.“

Im ersten Stock erreichten sie das Ende der teppichfreien Zone, Kate bog in den Flur zu ihrer Wohnung ab, stellte fest, daß der Lichtschalter nicht funktionierte – und stolperte als nächstes über eine Gestalt, die dort am Boden lag.

„He!“ beschwerte sich der Mann, der sich auf seine Jacke gebettet hatte.

„Ja: He!“ äffte Kate ihn nach. „He, das ist mein Flur. He, das ist ein neuer Teppich und kein Bett. He, schon gar nicht deins. Und: He, wie bist du überhaupt ins Haus gekommen?!“

Der Mann setzte sich auf und rieb sich die Augen. „Naja, ich dachte, ich könnte bei Nick pennen, und sein Mitbewohner hat mich reingelassen. Aber er sagte dann, ich muß auf Nick warten, und Nick ist nicht da, und ich war müde, und da dachte ich, was soll’s, leg ich mich eben hier ein bißchen aufs Ohr, stört ja keinen.“

„Doch. Mich. Raus hier.“ Kate zog den Kerl ins Licht des Treppenhauses.

Dabei stolperte er, schwankte gegen Mulder, murmelte „Sorry“, grinste dann und sah Kate an: „Geiler Typ. Deiner?“

Kate seufzte. Mulder blickte dem Mann in die Augen und sagte dann zu Kate: „Der ist völlig stoned.“

Die Historikerin rollte nur mit den Augen. „Natürlich ist der völlig stoned. Jeder, der zu Nick will, ist stoned.“

„Dann gehört das hier also noch nicht zu den ungewöhnlichen Vorkommnissen?“ fragte Mulder, bevor er Kate half, den unliebsamen Gast ins Freie zu befördern.

„Nein“, sagte Kate. „Ich meine: nicht, daß ich jeden Tag, wenn ich in meinen Flur komme, über einen Freund von Nick falle. Aber wirklich ungewöhnlich ist es nun auch wieder nicht. Das hier ist trotz allem, was sich in den letzten Jahren geändert hat, immer noch Brixton.“
Rezensionen