World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Plejadenzauber

von Andrea Muche

Kapitel 3

Mulder runzelte die Stirn und warf einen Blick auf Charlotte, die neben ihm stand und nun an ihrer Handtasche nestelte. Wozu brauchte sie die überhaupt? Sie hatte doch auch eine große Kameratasche dabei, in der sie, wie der Agent gesehen hatte, ebenfalls ihren Block aufbewahrte. Aaron bewegte sich vorne im Scheinwerferkegel der Dia-Projektionslampe. Mulder hörte ein leises „Klick.“ In dem Moment war ihm klar, was Charlotte tat. Nun sah sie auch zu ihm hin, fing seinen wissenden Blick auf und lächelte verschwörerisch zurück. „Verpfeifen Sie mich nicht“, flüsterte sie ihm zu.

„Wo haben Sie die Ausrüstung her?“, fragte Mulder sie wenig später, als sie in einer Pause alleine in einem abgelegenen Winkel standen. „Das ist doch eine Ausrüstung für geheime Fotos wie die Polizei sie benutzt.“

Die Reporterin nickte. „Ja. Der Terrorfahnder hat sie mir geliehen. Vermutlich werden wir die Bilder von Aaron zwar ohnehin nicht drucken, weil wir sonst einen Prozeß riskieren, da er nicht eingewilligt hat, aber zumindest für mein Archiv hätte ich gerne eines.“

„Wieso ist der Terrorfahnder eigentlich hier?“

„Das habe ich nicht herausbekommen. Ich glaube allerdings, daß er das alles hier für Tarnung hält und Aaron in Verdacht hat, entweder die Sicherheitskonferenz auszuspähen oder zu versuchen, an mehr Informationen über die Kaserne hier in der Nähe zu kommen. Vielleicht plant er ja einen Terroranschlag.“



Scullys Mobiltelefon vibrierte. Sie angelte in ihrer Tasche danach und las die eingegangene Nachricht auf dem Display. „Wie ist es, Dana Katherine, soll ich heute abend mal meinen Onkel vorbeifliegen lassen?“

„Was zum...?!“ Das konnte ja wohl nur von Aaron kommen. Woher kannte der die Nummer ihres Mobiltelefons? Und ihren zweiten Vornamen? Mit diesem war sie hier im Hotel ganz bestimmt nicht registriert! – Wie leicht war er herauszufinden? Nun, es dürfte nicht ganz einfach sein; aber unmöglich wohl auch nicht, entschied sie.

Was wollte dieser verdammte Kerl von ihr? Was bezweckte er mit seinen Nachrichten? Und sollte sie Mulder von der Nachricht erzählen? Aber was bewies das schon anderes, als daß Aaron ein cleveres Kerlchen war. Was sie ohnehin wußten. Scully seufzte.



„Ist was zu erkennen?“ fragte Mulder, als er am Abend Charlotte wieder traf, die zwischenzeitlich in die Redaktion zurückgefahren war und auch den Film entwickelt hatte.

„Ich weiß es nicht genau.“ Sie zögerte. „Nein, wohl nicht. – Warten Sie, ich habe Abzüge da.“

Sie holte einen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn ihm. Der Agent zog einen Packen Fotos heraus und sah sie durch. Die meisten Bilder zeigten nur dunkle Schemen. Kein Wunder bei Geheimaufnahmen; man konnte das Objektiv nur ungefähr ausrichten, und die Lichtverhältnisse bei Aarons Auftritt waren zudem äußerst bescheiden.

„Was ist denn hier passiert?“ Mulder starrte auf ein paar Aufnahmen, auf denen just an der Stelle, an denen Aaron hätte sein müssen, nur jeweils ein heller Fleck zu sehen war, der vom oberen Rand ins Bild ragte.

Charlotte seufzte. „Lichteinfall. Die Filmpatrone scheint wohl nicht ganz dicht gewesen zu sein.“

„Also kein brauchbares Ergebnis.“

„Nein, nicht wirklich. – Irgendwie komisch ist allerdings das hier.“ Sie zog eines der Bilder, auf dem zumindest Leute zu erkennen waren, aus dem Stapel. „Sehen Sie mal, dieser Kerl da.“ Sie deutete auf einen großen, blonden Mann. „Ich glaube mich zu erinnern, daß da eigentlich Aaron stand. Und nun frage ich mich natürlich doch, ob an der Geschichte mit dem großen, blonden Alter Ego etwas dran ist... Andererseits: Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Kamera wirklich richtig ausgerichtet hatte. Vielleicht ist Aaron nur einfach nicht drauf und der Blonde einer der anderen Konferenzteilnehmer.“

„Haben Sie diesen Typen während der Konferenz denn gesehen?“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Ich auch nicht.“

„Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß er da war. Es sind einfach zu viele Zuhörer. Ich erinnere mich sicher nicht an alle.“

„Ja, da haben Sie auch wieder recht. Kann ich das Bild vielleicht trotzdem haben?“

„Sicher. Ich kann mir schließlich jederzeit wieder einen Abzug machen.“



Scully fühlte, wie ihre Zehen langsam taub wurden und fragte sich, wieso sie sich immer wieder von Mulder breitschlagen ließ, Teil seiner verrückten Unternehmungen zu sein. Was zum Teufel machten sie auf einem Berggipfel? Um Mitternacht, in eisiger Kälte? Wenn sie wenigstens im Auto hätten bleiben können. Aber nein, die Straße endete kurz vor dem Gipfel, mitten im Wald, und von dort konnte man natürlich nichts sehen. Nun ja, nicht, daß man von hier oben entschieden mehr zu Gesicht bekommen hätte...

„Mulder, was machen wir hier?“

„Nicht so ungeduldig, Scully, die Sichtungen in der vergangenen Nacht haben doch auch erst weit nach Mitternacht stattgefunden.“

„Die angeblichen Sichtungen.“

„Warum glauben Sie eigentlich immer nur Ihren eigenen Augen? Und manchmal noch nicht mal denen.“

Scully schwieg kurz. Dann fragte Sie: „Sind Sie eigentlich ein Fan von Douglas Adams?“

„Wieso?“

„Weil Sie mich manchmal an die verrückte Figur seines Arthur Dent mit seinem außerirdischen Freund Ford Prefect erinnern.“

„Meinen Sie, ich sollte jetzt also mal kurz meinen Anhalter-Daumen hochhalten?“

Scully legte den Kopf in den Nacken. „Im übrigen frage ich mich, was Sie eigentlich suchen. Wo Sie doch die Lösung bewohnen.“

„Was?“

„Ihr Apartment. Nummer 42. Ist das nicht laut ,Per Anhalter durch die Galaxis‘ die ultimative Antwort? Demnach kennen Sie die Wahrheit schon.“

„Bloß daß dafür keiner die Frage kennt. Wir sind also auf der Suche nach der richtigen Frage. Wenn Sie das glücklich macht.“

Scully seufzte. Sie schwieg eine Weile, bevor sie wieder anfing, sich zu beschweren.

„Mir ist kalt. Und Aarons Verwandten in den fliegenden Suppenschüsseln ist es wahrscheinlich auch zu kalt. Ganz abgesehen davon, daß sie sich uns Ungläubigen bestimmt nicht zeigen. Denn das ist laut Plejaden-Gesetz garantiert auch verboten.“

„Mhm.“

„Mulder? Haben Sie mir überhaupt zugehört?“

„Ist das nicht wunderschön?“ Er starrte zu dem mit Sternen wie übersäten Nachthimmel hinauf. „In der Großstadt sieht man so etwas nicht mehr. Mit all dem künstlichen Licht haben wir den Glanz der Sterne ausradiert. Aber hier draußen... Da wird einem erst wieder bewußt, wie viele das sind. Und jeder einzelne von ihnen ist eine Sonne. Um die Planeten kreisen wie um unsere. Was denken Sie, wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, daß es irgendwo da draußen anderes intelligentes Leben gibt?“

„Naja... Zumindest die Wahrscheinlichkeit, daß es irgendwo noch Leben gibt, ist sehr hoch. Es wäre höchst vermessen, anzunehmen, daß wir die einzigen sind. Wie es hingegen allerdings mit der Frage nach der Intelligenz aussieht... Bedenken Sie die gesamte irdische Entwicklungsgeschichte. Selbst, wenn einer dieser unzähligen Planeten da draußen genau dieselbe Geschichte durchmachte wie unsere Erde – er könnte jetzt gerade in der Zeit der ersten Pflanzen sein. Oder in der Phase der Saurier. Oder der erste Affe probiert soeben, wie es sein könnte, sich mehr auf seine Hinterbeine zu stellen... Eine andere Möglichkeit ist auch, daß die Entwicklung auf einem erdähnlichen Planeten trotz der Ähnlichkeit komplett anders abläuft. Vielleicht gibt es dort dann Leben, vielleicht sogar intelligentes Leben – und wir sind nicht einmal in der Lage, es überhaupt als Leben zu erkennen. All das ist möglich und vorstellbar... Was ich mir hingegen nicht vorstellen kann, ist, daß dieser Aaron von den Plejaden kommt. Und schon gar nicht, um uns armen Erdlingen zu helfen. Wenn es dieses wirklich so weit fortgeschrittene und uns völlig überlegene Plejader-Völkchen gäbe, dann glaube ich ehrlich gesagt, daß die sich angesichts der Zustände auf der Erde fragen würden, ob es hier überhaupt intelligentes Leben gibt. Und es wäre ihnen vermutlich völlig schnurz-piepegal. – Mulder, mir ist kalt.“

„Ach, kommen Sie, wenigstens noch eine halbe Stunde.“ Er trat hinter sie, öffnete seinen Anorak, zog sie an sich, hüllte sie zusätzlich in seinen, soweit das ging, und legte seine Arme um sie. „Besser?“ flüsterte er über ihrem roten Haarschopf.

„Ja.“ Sie blinzelte und wußte nicht, was sie sonst sagen sollte. Seine körperliche Nähe war irgendwie... leicht verstörend. Nicht unangenehm, zumal ihr nun auch tatsächlich wärmer wurde. Aber es fühlte sich zu... intim an.

„Ich wollte immer schon mal mit Ihnen kuscheln“, bemerkte er süffisant. „Aber da Sie mich ja sogar in unserem hübschen, gemeinsamen Bett nicht lassen, sondern mich so weit von sich weg drücken, daß ich letzte Nacht fast aus dem Bett gefallen wäre...“

„Mulder!“

„Jetzt sind Sie wütend, stimmt’s?“

„Ich... ja... nein...“

„Zorn wärmt.“

„Mulder?“

„Ja?“

„Halten Sie die Klappe.“



„Was ist das?“ Es war schließlich Scully selbst, die das Schweigen brach. Sie starrte auf einen roten Schein, der mitten in der stockdunklen Nacht am Horizont aufgetaucht war. Der Schein weitete sich aus.

Mulder runzelte die Stirn. „Es sieht aus, als ob es dort irgendwo brennt.“

Kurz darauf heulte eine Sirene dreimal auf, dann waren aus der Ferne Martinshörner zu hören.

„Das war ein Feueralarm.“

„Aber das ist kein Feuer“, erkannte Scully nun.

„Nach fliegenden Untertassen sieht es aber auch nicht aus“, sagte Mulder.

„Es sind auch keine. Es ist das Nordlicht! Aurora borealis.“

„Wie bitte? Hier?!“

Scully drehte sich zu ihm um. „Es kommt nicht oft vor, zugegeben. Aber unmöglich ist es nicht. Und es wird häufig für den Widerschein eines großen Feuers gehalten.“

Sie beobachteten die Himmelserscheinung weiter. Das Rot, in das sich nun auch Violett und gar Grün mischte, schien durch die Nacht zu wabern.

„Das ist wunderschön.“

„Ja.“

Sie standen noch länger und verfolgten das Schauspiel. Endlich ebbte der Effekt ab, schließlich waren die letzten grünlich-roten Funken zu sehen, und dann herrschte wieder nur schwarze Nacht mit einem Meer von Sternen am Himmel.

Mulder seufzte. „Das war herrlich. Aber Sie haben recht: Ufos kommen wohl diese Nacht keine. Lassen Sie uns zurückfahren.“

„Vielleicht waren die Ufos, die die anderen letzte Nacht zu sehen glaubten, auch Nordlichter.“

„Nun ja. Möglich.“

Als sie das Auto erreichten, warf sich Scully regelrecht nach drinnen – nur um festzustellen, daß der Sitz fast noch widerlicher kalt war als die Luft draußen. „Los, Mulder, lassen Sie die Karre an und schalten Sie die Heizung ein, ich erfriere!“

Ihr Partner drehte den Zündschlüssel, der Wagen hustete kurz – doch nichts sonst passierte. Der zweite Versuch fiel nicht besser aus. Der Wagen jaulte im verzweifelten Versuch, anzuspringen, doch ohne Erfolg.

„Er springt nicht an“, stellte Mulder überflüssigerweise fest.

„Na toll. Großartig. Ganz große Klasse. Und was machen wir jetzt?“

„Zu Fuß zurücklaufen?“

„Das ist doch viel zu weit. Da sind wir morgen mittag noch immer unterwegs. Und ich bin hundemüde.“

„Im Wagen können wir aber auch nicht gut bleiben. Wir haben keine Standheizung, und es fühlt sich an, als ob es von Minute zu Minute kälter wird.“

„Da muß ich Ihnen allerdings beipflichten.“

„Was, denken Sie, war das?“, grübelte Mulder. „Was hat das ausgelöst? Vielleicht hatte das Nordlicht doch etwas mit Besuchern zu tun... Wir haben doch schon mehrmals erlebt, wie dann die Elektrik eines Wagens lahmgelegt wird...“

„Während wir nun gerade erleben, wie Ihr Gehirn lahmgelegt wird. Mulder, es hat 20 Grad unter Null. Was ist da wohl die wahrscheinlichste Erklärung? Die Batterie hat den Geist aufgegeben! Und meine tut das auch gleich, fürchte ich...“

Er sah sie besorgt an und erkannte, daß sie nicht nur gescherzt hatte. „Wir müssen hier weg.“

„Ich gehe nicht den ganzen Weg in dieser Eiseskälte zu Fuß, vergessen Sie’s.“

„Kommen Sie her, Scully, zu zweit ist es wärmer.“ Er zog sie nun im Auto an sich, versuchte sie, so gut es ging, mit seinem Anorak mitzuwärmen. Doch er konnte fühlen, wie sie immer unkontrollierter zitterte.

„Wir können hier unmöglich bis morgen früh bleiben“, murmelte er in ihr Haar. „Und selbst, wenn es hell wird, heißt das ja noch lange nicht, daß es wärmer wird.“

Sie setzte sich auf einmal wieder gerade in ihrem Sitz auf. „Dieser Wagen muß doch eine Erste-Hilfe-Ausrüstung haben. Da sollte eine Wärmedecke dabei sein.“

„Sehen wir nach.“

Sie verließen den Wagen und gingen zum Kofferraum. Der harte Schnee knirschte unter ihren Schritten. Mulder klappte den Deckel auf und erspähte auch den Erste-Hilfe-Kasten. Daneben lagen ein paar Folien, die aussahen wie die Plastik-Hüllen, mit denen man Kleidung aus der Reinigung zurückbekommt.

„Was ist denn das?“ fragte Scully.

„Hat wohl jemand bei der Rückgabe des Autos vergessen.“

„Los, machen wir den Notfallkasten auf.“

Scully wollte schon danach greifen, doch Mulder hielt sie zurück. „Warten Sie, ich glaube, ich habe eine bessere Idee. Hier oben beginnt doch eine Skipiste, nicht wahr?“

„Wir haben aber rein zufällig keine Skier dabei.“

„Aber wir haben das da.“ Mulder deutete auf die Folien.

„Und was sollen wir damit? Worauf wollen Sie hinaus?“

„Sind Sie als Kind nie Schlitten gefahren?“

„Doch, natürlich. Aber was haben die Folien damit zu tun?“

„Damit fahren wir jetzt zu Tal.“ Er grabschte sich die Folien, schlug den Kofferraum zu und zog Scully hinter sich her. „Los, kommen Sie, vertrauen Sie mir.“



„Mulder, manchmal sind Sie wirklich genial.“ Ein seliges Lächeln breitete sich auf Scullys Gesicht aus, als der Hotelkomplex vor ihnen auftauchte. „Ich hätte nie gedacht, daß ich mich mal so freuen würde, diesen Betonverhau wiederzusehen.“

Er legte ihr den Arm um die Taille und zog sie kurz an sich. „Und dieses Lob aus Ihrem Munde.“

„Der Liftbetreiber wird morgen allerdings nicht ganz so glücklich sein.“

Sie hatten sich mit den Plastikfolien zur Gipfelstation des Schleppliftes aufgemacht, sich in Bobfahrer-Manier auf die Folien gesetzt – und die Spur als vom Licht ihrer Taschenlampen notdürftig beleuchtete Bahn benutzt. Die Abfahrt hatte sie ihrem Domizil im Tal in rasantem Tempo nähergebracht. Allerdings bisweilen so rasant, daß sie immer wieder ihre Hacken in den Schnee schlagen mußten, was der Liftspur nicht gerade dienlich war. Nach diesem Höllenritt zu Tal hatten sie nur noch ein kurzes Stück laufen müssen, um ihr Hotel zu erreichen.

„Ach was“, sagte Mulder müde. „Und falls er sich aufregt, sagen wir einfach, das waren die Aliens.“



„Haben Sie das Foto woanders hingelegt, Scully?“

„Welches Foto?“

„Ein leicht unscharfes Bild eines blonden Mannes beim Ufo-Seminar. Charlotte hat es mir gestern gegeben.“

„Nein, nie gesehen.“

„Verdammt! Es war jemand hier!“

Scully fühlte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. Die Nachricht auf ihrem Mobiltelefon! Mist! Es war wohl nur ein Trick gewesen, um sie beide aus dem Zimmer zu locken, damit Aaron oder wer auch immer, sich in Ruhe umsehen konnte, um herauszufinden, auf was für einer Spur sie waren. Und hatte Mulder nicht gesagt, der Kerl hatte etwas dagegen, fotografiert zu werden?

Aber andererseits: Wieso sollte er ein Foto stehlen, auf dem er laut Mulder offensichtlich gar nicht abgebildet war?

Scully sah sich aufmerksam um, dann kontrollierte sie die Schränke. Sonstige Anzeichen für eine mögliche Durchsuchung ihres Zimmers gab es nicht. „Können Sie es eventuell auch verlegt oder verloren haben?“

„Mhm, naja... Es läßt sich nicht ausschließen.“ Mulder fuhr sich über die Haare. „Genaugenommen glaube ich auch nicht, daß es etwas bewiesen hätte, ehrlich gesagt. Vergessen Sie es, Scully.“



„Das war vielleicht eine Nacht“, sagte Charlotte, als sie ihnen am nächsten Tag begegnete.

„Ja, fanden wir auch“, merkte Scully süffisant an.

Charlotte sah fragend zwischen den beiden Agenten hin und her, überging die Bemerkung dann aber.

„Nach Mitternacht ist mein Polizei-Pieper losgegangen. Es war ein Großbrand gemeldet, die Feuerwehr ist ausgerückt. Ich habe das auch gedacht, als ich den erleuchteten Himmel sah und bin gleich in die Richtung losgefahren. Ohne allerdings je an einem Brandort anzukommen. Genau wie die Feuerwehr. Es muß uns wohl ein Nordlicht genarrt haben. Bei der Polizei sind die Telefone heißgelaufen: Die Leute meldeten alle entweder den angeblichen Brand oder dachten, sie hätten Ufos gesehen.“

„Tja, kann ich mir gar nicht vorstellen“, ätzte Scully.

„Und auf meinem Rückweg entdeckte ich dann das hier.“

Sie schob ihnen Fotoabzüge hin. Zu sehen war ein schwerer Unfall. Charlottes Stabblitz und die Lampen der Feuerwehr warfen Licht auf eine gruselige Szene. Der abgebildete Personenwagen war buchstäblich zerfetzt. Wo die Windschutzscheibe sein sollte, standen nur noch Glasspitzen, ein Teil davon war blutig. Hinter dem Lenkrad schien irgend etwas zu lehnen.

„Der Wagen ist beim Aufprall auf den Baum in zwei Hälften gerissen worden. Der nicht angeschnallte Fahrer ist durch die Windschutzscheibe geflogen. Das heißt: zum Teil.“

Die beiden Agenten sahen sie fragend an. Charlotte schloß kurz die Augen und preßte die Lippen zusammen. Sie hörte sich heiser an, als sie weitersprach. „Der Körper war noch im Wagen, der Kopf hingegen draußen, es war einfach furchtbar. Und auf alle Fälle war der Fahrer so tot, daß wir ihn nicht mehr fragen können, ob ihm auch ein Ufo die Vorfahrt genommen hat. – Der Baum ist genau der gleiche, an dem der junge Mann gelandet ist, der von seinen zwei Freunden gefunden wurde.“

„Wo genau ist diese Stelle?“

„Von hier aus abwärts, in Richtung Autobahn.“

„Mhm. Da sollte man sich vielleicht mal umsehen...“

„Aber ohne mich, Mulder. Mir reicht die eine nächtliche Ufo-Jagd. Was mich im übrigen auf die Idee bringt, daß wir uns vielleicht mal darum kümmern sollen, was mit dem Wagen wird.“

„Wieso? Was haben Sie denn damit gemacht?“

„Außerirdische haben unsere Elektrik lahmgelegt.“

„Quatsch, die Batterie hat die Kälte einfach nicht ausgehalten – am Berggipfel, wo Agent Mulder unbedingt mitten in der Nacht nach Ufos Ausschau halten wollte.“

„Diese Temperaturen sind einer Autobatterie in der Tat nicht gerade förderlich. In einer kalten Nacht im Freien verliert sie die Hälfte ihrer Leistung. Ich bin auch schon mal mitten in der Pampa liegengeblieben. Schuld war ich allerdings selber, weil ich für ein Astrofoto die Mitführautomatik des Stativs über den Zigarettenanzünder gespeist habe. Das hat die Batterie nicht mehr gepackt. Aber gerade im Winter ist der Himmel leider besonders klar, und die Sterne leuchten wunderschön...“

„Sehen Sie, Scully? Das hab’ ich auch gesagt...!“

Charlotte runzelte die Stirn. „Wo, haben Sie gleich noch mal gesagt, waren Sie?“

„Auf dem Gipfel, auf dem die längste Skipiste losgeht.“

„Und um welche Uhrzeit?“

Sie sagten es ihr.

„Haben Sie da eigentlich auch irgendwelche ungewöhnliche Beobachtungen gemacht? Ich meine, vom Nordlicht abgesehen.“

„Nein“, sagte Scully, „überhaupt nichts. Außer, daß ich jetzt weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem ein paar Gliedmaßen abfrieren. Wieso fragen Sie?“

„Weil ich noch eine andere Meldung in punkto Ufo reinbekommen habe. Es war darin von zwei weißen Lichtern die Rede, die so aussahen, als ob sie in irrem Tempo den Skihang herunterrasen würden. Ungefähr da, wo der Schlepplift hinaufführt. Ich frage mich langsam, ob die Außerirdischen nach der unkontrollierten Raserei auf der Straße nun auch noch die Freuden einer Skiabfahrt entdeckt haben, oder was.“

Scully warf ihrem Partner einen belustigten Blick zu, der so dreinsah wie früher ihr Bruder, wenn er etwas ausgefressen hatte. „Also, zumindest diesbezüglich kann ich Sie beruhigen“, sagte sie dann, „das waren nur Spooky Mulder und eine etwas unfreiwillige Begleitung!“



„Mulder! Packen Sie Ihre Sachen! Für uns ist die Konferenz beendet.“ Die rothaarige FBI-Agentin lief ihrem Partner gestikulierend entgegen, der gerade mit Hilfe eines Mechanikers den Wagen wieder flott gemacht und vom Berg zurückgebracht hatte. „Skinner hat angerufen. Er braucht in einem anderen Fall dringend unsere Hilfe. Wir sollen sofort zurückkommen. – Nicht, daß mir diese dämliche Sicherheitskonferenz wirklich fehlen würde... Das war reine Zeitverschwendung.“

Mulder seufzte. „Genau wie Aaron. Ich glaube, Sie haben recht: Er ist ganz einfach ein Betrüger, der mit seiner Masche der Verunsicherung den Leuten das Geld aus der Tasche zieht. Nur diese Stelle, die Unfälle magisch anzieht, hätte mich schon noch interessiert...“

„Tja. Das wird dann wohl eines der vielen Rätsel sein, die ungelöst bleiben. Kommen Sie, lassen Sie uns packen.“

„Und ich dachte, ich könnte noch mal eine Nacht mit Ihnen im Doppelbett kuscheln.“

„Und mir wieder was vorschnarchen, nachdem Sie mich auf einer Plastiktüte den Berg hinuntergejagt haben? Danke, Mulder, mein Bedarf ist gedeckt, glaube ich!“



„Stop! Halten Sie an! Heilige Mutter Gottes, was war das denn für einer?!“

Mulder hatte zeitgleich mit Scullys Ruf voll auf die Bremse getreten und den Wagen zum Stehen gebracht, diesmal, ohne in einer Schneewehe zu landen.

„So ein Vollidiot. Wir sind auf der Vorfahrtsstraße, und der rast einfach ungebremst da drüber...! Und das im Dunkeln.“

„Es ist ja noch mal gut gegangen.“

Der Agent blickte nun leicht verwirrt durch die Windschutzscheibe. „Ist das nicht...?“

„Keine Sorge, wir sind noch auf dem richtigen Weg“, versicherte ihm seine Partnerin.

Er schüttelte den Kopf. „Das meine ich nicht. Aber sehen Sie doch mal: der Baum da!“

Der Baum, der neben der Straße stand, trug im Scheinwerferkegel deutlich sichtbare Abschürfungen an der Rinde. Der Schnee war ringsum auch zertrampelt, und irgendwelche Splitterteile lagen herum.

„Sie haben recht. Das ist der bewußte Baum.“

„Und uns hat jetzt hier auch gerade jemand die Vorfahrt genommen.“

„Ja. Aber es sah trotzdem aus wie ein Auto, nicht wie eine fliegende Untertasse.“

„Da haben Sie recht.“

„Kommen Sie, lassen Sie uns weiterfahren. Wie gesagt: ein ungelöstes Rätsel mehr...“



So viel Mühe ihnen die Anfahrt bereitet hatte, so problemlos näherten sie sich nun dem Münchner Flughafen. Es hatte nicht mehr neu geschneit, die Fahrspuren der Autobahn waren frei, es gab keine Unfälle und keine Staus. Da Mulder fuhr, hatte Scully, die von der vorhergehenden Nacht noch reichlich müde war, die Gelegenheit zu einem Nickerchen genutzt. Genaugenommen kam ihr diese gesamte Bayerwald-Episode fast nur wie ein einziger Jetlag vor. Benommen öffnete sie nun die Augen, sah aus dem Beifahrer-Fenster hinaus in die Nacht – und wollte dem Bild nicht trauen, das sie erblickte: Ein hell leuchtender Ball flog in gleicher Geschwindigkeit neben ihrem Wagen her!

Scully zog scharf die Luft ein. „Mulder! Sehen Sie, da!“

Sie blickte wieder nach draußen. Das Leuchten des fliegenden Objekts verformte sich nun. Es... nahm irgendwie Gestalt an! „Was ist das?!“ Im selben Moment stieg Scully die Zornesröte ins Gesicht: Jetzt konnte man die Darstellung klar erkennen – und zwar handelte es sich um einen Kerl, der hämisch grinste und ihr dann seinen blanken Hintern zeigte! „Also, das ist doch...!“

„Was ist, Scully? Ich kann gerade nicht... warten Sie. Jetzt. Was?“

Seine Partnerin hatte sich kurz ihm zugewandt und drehte sich nun deutend wieder zur rechten Seite hin: „Da ist... nein, jetzt kann ich nicht mehr... es ist weg.“ Enttäuschung lag in ihrer Stimme. „Entschuldigung, Mulder, ich bin wohl zu müde. Jetzt hätte doch tatsächlich ich gedacht, ich sehe gerade ein Ufo neben uns herfliegen.“

„Wir sind fast am Flughafen. Sie haben bestimmt nur die Positionslichter einer Maschine am Nachthimmel entdeckt. Sehen Sie, da kommt schon wieder eine!“

Scully sah nach rechts, wo die weißen, grünen und roten Lichter eines Fliegers aus der Nacht auftauchten.

„Ja, wahrscheinlich“, sagte sie lahm.

Mulder langte nach rechts und legte ihr seine Hand auf die Schulter. „Und das beste: Gleich sind wir selbst an Bord so eines Afo, eines amerikanischen Flugobjektes, und Sie können weiterträumen.“

„Mhm.“ Im selben Moment fühlte sie, wie sich irgend jemand ihrer Gedanken bemächtigte. Es formte sich darin ein Wort: „Ätsch!“

Kam das von Aaron? Per Telepathie? Und wieso waren sie eigentlich so Knall auf Fall abberufen worden? Irgend etwas war doch hier wohl faul?? Aber warum witterte Agent Mulder da nun kein Komplott mehr? Er, der sonst paranoid war wie die Nacht finster. Inzwischen jedoch schien er überzeugt zu sein, daß Aaron ein ganz gewöhnlicher Schwindler war – während sie sich langsam fragte, ob es wahr sein könnte... Oder litt sie wirklich einfach noch immer unter Jetlag?

„Haben Sie was gesagt?“, fragte Mulder, als er dem Pfeil zum Flughafen folgte.

„Nein, wieso?“

„Ich dachte, ich hätte Sie gerade etwas murmeln hören. Es hätte aber sowieso keinen Sinn ergeben, es klang nur wie ,ätsch‘ oder so ähnlich...“


ENDE
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