World of X

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Plejadenzauber

von Andrea Muche

Kapitel 1

„Heilige Mutter Gottes, halt an!“

Der Fahrer trat hart auf die Bremse. Zusammen mit dem anderen jungen Mann, der gerufen hatte, starrte er dann ein paar Sekunden lang auf das Autowrack, das sich neben der Straße um einen Baum gewickelt hatte. Rechts vorne hatte der blaue Golf den Stamm gerammt, doch beim Aufprall davongeflogene Teile lagen noch im weiten Umkreis verstreut.

Die Burschen versuchten, das Kennzeichen zu erkennen. „Ist das... Ist das Tommys Auto?“, fragte der Fahrer unsicher. Im nächsten Moment hatte er seine Gedanken soweit unter Kontrolle, daß er wußte, daß schleunigst Handeln angesagt war. Er schaltete den Motor aus, löste den Gurt, öffnete hastig die Tür und sprang aus dem Wagen. Zusammen mit seinem Beifahrer, der ebenfalls ausgestiegen war, rannte er zu dem Wrack hinüber. Der Fahrer saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad, Blut lief über seine Stirn. „Tommy! Oh, mein Gott! – Los, hilf mir mal!“

Zu zweit schafften sie es, die verzogene Tür aufzustemmen. Zum Glück hatte das Auto den Baum auf der anderen Seite getroffen. Sie konnten den Fahrer aus dem Wrack ziehen und legten ihn vorsichtig auf den hart gefrorenen Schnee. „Tommy, Tommy! Kannst du uns hören?“

„Atmet er?“

„Ich fürchte, nein. Aber er hat Puls. Ich versuche Mund-zu-Nase-Beatmung. Ruf den Rettungsdienst an, das Mobiltelefon liegt im Auto!“

Der junge Mann brachte den Bewußtlosen in die richtige Position, schloß ihm mit dem Daumen am Kinn den Mund und setzte seinen eigenen Mund über die Nase des Verunglückten. Dann spendete er ihm wieder und wieder Atem, bis sich – endlich – der Brustkorb des Verletzten wieder selbständig hob und senkte. „Okay, alles klar soweit.“ Er faßte das Unfallopfer und brachte es in die stabile Seitenlage. Der Beifahrer kam zurück.

„Der Krankenwagen ist unterwegs. Wie steht es?“

„Er atmet wieder.“

Im selben Moment begann der Verletzte zu husten und zu würgen und schlug die Augen auf.

„Tommy? Ganz vorsichtig! Du hattest einen Unfall! Nicht zu viel bewegen!“

„Ja, ich weiß“, murmelte ihr Kumpel mit schwacher Stimme. „Ich bin von der Straße abgekommen, weil dieser Arsch mir die Vorfahrt genommen hat.“

„Hast du den Wagen erkannt?“

„Wagen? Welcher Wagen denn? So schnell fährt hier noch nicht mal Max mit seinem aufgemotzten Teil. Es war eine fliegende Untertasse.“

„Eine was?!“

Die beiden Helfer sahen sich über Tommy hinweg mit hochgezogenen Augenbrauen an. In ihrem Blick stand deutlich zu lesen, daß sie befürchteten, das Urteilsvermögen ihres Freundes habe durch sein Erlebnis wohl stärker gelitten, als es zunächst schien.

„Aber Alter“, sagte der eine schließlich, „wie sollte das denn gehen? Ich meine, eine fliegende Untertasse, die nicht fliegt, sondern fährt? Und dann noch auf der Straße?“

„Woher soll ich das wissen?“ fragte Tommy. „Und sie ist auch nicht gefahren. Sie ist bloß tief geflogen. Und war schnell. Und hat mir die Vorfahrt genommen. Wenn ich dieses Arschloch kriege...!“



„Also, eins verstehe ich nicht“, sagte die rothaarige Agentin Dana Scully, als sie neben ihrem FBI-Partner Fox Mulder im Leihwagen Platz genommen hatte, ihren Wollrock glattstrich und sich die Straßenkarte aus dem Handschuhfach griff, „wieso sind unsere Vorgesetzten auf die Idee gekommen, gerade uns zu dieser internationalen Sicherheitskonferenz nach Deutschland zu schicken? Wieso nicht Skinner? Oder irgendeinen der Lackaffen, die sonst immer ihr Gesicht in jede Kamera halten und den Mund sperrangelweit aufreißen, egal, ob sie eine Ahnung von dem Fall haben, über den sie reden sollen, oder nicht. Ich meine, eine Repräsentations- und Prestigegeschichte an uns zu geben... Das ist doch unlogisch, Mulder.“

Der dunkelhaarige Agent mit den unergründlichen blau-grauen Augen und einem Gesicht, das generell nur selten verriet, was er wirklich gerade dachte, sah kurz zu ihr hin und zuckte dann die Schultern, während er das Mietauto aus der Parklücke am Münchner Flughafen manövrierte. „Keine Ahnung, wieso dieser Auftritt an uns ging, Scully. Vielleicht war es den FBI-Oberen hier einfach zu kalt.“ Schon auf dem kurzen Weg vom Ankunftsterminal zum Parkhaus hatten sie gemerkt, daß Winter in Bayern offenbar eine reichlich frische Angelegenheit war. „Hoffentlich funktioniert wenigstens die Heizung.“ Er drehte den Regler voll auf. „Wohin müssen wir?“

„A92, wenn ich das hier richtig interpretiere. Müßte die nächstgelegene Autobahn sein.“

Sie fanden sie ohne Probleme. Aber das war dann auch schon der einzige Anlaß zur Freude: Die Autos bewegten sich darauf nur im Schrittempo.

„Stau“, stellte Mulder überflüssigerweise fest.

„Es scheint wohl einen Unfall gegeben zu haben.“

„Ist ja auch kein Wunder, bei diesem Mistwetter.“

Die Straße war glatt, wie Mulder an der ersten Kurve nach dem Flughafen bemerkt hatte, und nun hatte es erneut zu schneien angefangen. Die Scheibenwischer zogen im schnellen Takt ihre Spuren über das Glas, in dicken Flocken fiel der Schnee, der Himmel war düster, die Felder zu beiden Seiten der Autobahn eine grau-weiße, kalte Wüste. Zwei Meter rollen, Stillstand. Wieder rollen. Stillstand.

Scully lehnte sich in ihrem Sitz bequem zurück. „Ich schätze, das wird eine längere Anreise.“



Nach zwei Stunden standen sie noch immer auf der Autobahn. Zwischenzeitlich waren Polizei und Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene vorbeigekommen, dann der Abschleppdienst. Und es schneite und schneite. Irgendwann, endlich, passierten sie die Unfallstelle und hatten wieder freie Fahrt. Bis auf Massen von Schnee jedenfalls.

„Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht“, sagte Mulder, „aber ich brauche eine Pause.“

Sie verließen die Autobahn und steuerten ein Rasthaus an.

„Haben Sie Hunger?“

„Ja“, antwortete Scully. Dann entdeckte sie die matschigen Nudeln und das seit Stunden ständig aufgewärmte Gratin in der Selbstbedienungstheke und korrigierte sich. „Nein.“

„Also, ich brauche einen Kaffee.“

Scully entschied sich für Tee. Wirklich zufrieden war sie mit ihrer Wahl allerdings nicht. „Schmeckt wie Spülwasser“, kommentierte sie, als sie den ersten Schluck genommen hatte. Sie verzog das Gesicht. „Wie ist Ihr Kaffee?“

„Noch eine Spur schwärzer und eingekochter, und Sie könnten Brikett dazu sagen.“

„Lassen Sie uns wieder gehen.“

Langsam kamen die Berge des Bayerischen Waldes näher, und sie mußten die Autobahn verlassen. Die Straße, der sie nun folgten, wurde immer steiler, enger und kurviger. Der Schnee, der in großen Hügeln zu beiden Seiten die Fahrbahn säumte, machte die Straße noch schmaler. Und ständig kamen ihnen irgendwelche großen Fahrzeuge entgegen. Busse, Lastwagen, Schneeräumfahrzeuge. „Ich glaub’, ich werd’ verrückt“, sagte Mulder, als schließlich auch noch ein Panzer auftauchte.

„Es ist eine Kaserne hier in der Nähe“, las Scully aus der Karte.

Höher und höher ging es hinauf in den Bayerischen Wald, und es schneite und schneite. Zu allem Überfluß verfuhr sich Mulder noch mehrmals.

„Also, die Hinweisschilder scheinen sie hier auch nicht gerade erfunden zu haben“, beschwerte er sich.

Eine Weile später – sie waren ausnahmsweise einmal wieder auf dem richtigen Weg – fragte er: „Was wissen wir eigentlich über den Ort, an dem die Tagung stattfindet?“

Seine Partnerin griff nach ihren Unterlagen und sichtete die darin enthaltenen Prospekte. „Mhm. Ein Wintersportort. Unter anderem. Tagungshotels. Kurpark mit Eisweiher. Oh, und das lebendige Brauchtum nicht zu vergessen. Einmal im Jahr wird in Erinnerung an die Ortsgründung eine Leiche aus dem Wald geholt.“

„Was?! Das ist doch dann wohl eher totes Brauchtum...“

„Naja, keine wirkliche Leiche. Eine Figur, die so tut, als wäre sie eine Leiche.“

„Eine schauspielernde Statue? Scully!“

„Entschuldigung. Das ist der Jetlag. Also noch mal von vorn: Ein Einsiedler hat sich einst da niedergelassen. Er wurde aber irgendwann im Wald erschlagen. Die Suche nach ihm und das Finden seiner Leiche spielen die Einwohner mit einer Figur des Einsiedlers jedes Jahr nach, zur Erinnerung an die Gründung ihres Ortes.“

„Wollen Sie mich veralbern?“

„Keineswegs.“

Mulder stierte geradeaus auf die Straße, nahm mit Mühe eine enge Kurve und sagte: „Ich glaube, langsam dämmert mir doch, warum die uns für den Job hier wollten.“



„Vorsicht!“

Sie durchfuhren ein größeres Waldgebiet, und der Hirsch stand mitten auf der Straße. Mulder trat heftig auf die Bremse, der Wagen kam ins Rutschen, schlitterte quer über die Fahrbahn auf die andere Seite und rammte einen Schneehaufen. Als der Wagen stand, setzte sich der Hirsch gemächlich in Bewegung – nicht etwa vom Auto weg, sondern zu ihm hin. Er glotzte zu den erschrockenen Insassen hinunter. Erst dann schritt er langbeinig graziös in Richtung Waldrand davon.

„Ich glaube, Sie haben recht“, merkte Scully an, sobald sie sich vom Schock erholt hatten. „Es ist wohl nicht so, daß wir den Job gekriegt haben – den wollte einfach kein anderer!“



Zum Glück fuhr wenigstens der Wagen noch. Je näher sie ihrem Zielort kamen, desto häufiger tauchten neben der Straße Schilder mit den Namen von Gasthäusern und Ausflugslokalen auf. Auf den meisten stand „Warme Küche 12 bis 13 und 18 bis 20 Uhr“.

„Ich sehe Wurstbrot-Tage auf uns zukommen“, ätzte Scully.

„Ob sie wohl wenigstens ganztägig heizen?“ fragte Mulder zurück.



„Na endlich! Da vorne ist das Ortsschild.“

„Und was ist das?!“

Dana Scully starrte aus müden Augen aus dem Fenster, und die Kinnlade klappte ihr vor Überraschung nach unten. Zottelige Kreaturen mit deformierten Gesichtern sprangen auf der Straße des Ortes herum.

Mulder bremste und rollte langsam darauf zu. „Keine Sorge, das sind bloß Menschen mit Masken.“

„Ach, wirklich? Ich dachte Außerirdische ohne.“

Der dunkelhaarige Agent sah unsicher zu ihr hin. Irgendwie konnte er nie richtig damit umgehen, wenn sie spottete.

„Aber was machen die hier? Ist das auch ein Teil des lebendigen Brauchtums?“

„Moment.“ Scully ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und wandte sich mit ihrer Frage an einen Mann, der wie etliche andere Menschen am Straßenrand stand und sich das Spektakel ansah.

„Des san die Perchten und Rauhwuggerl“, lautete die Auskunft.

Die beiden Agenten sahen den Mann nur weiter fragend an.

„Also, Sie san net von da, oder? Der Auftritt hat im Fasching Tradition.“

„Im Fasching?“

„Ja, Fasching. Kennen S’ den aa net?“

„Äh... nein.“

Der Mann schüttelte ungläubig den Kopf. „Komisch. Und dabei hätt’ i schwör’n können, ihr geht’s zu einem Maskenball. Wo’s eich doch als FBI-Agenten verkleidet habt’s.“



Endlich bremste Mulder vor dem Hotelkomplex. Seine Partnerin und er schauten beide mit offenem Mund auf die Gebäude, die vor ihrem Wagen aufgetaucht waren, zu jeweils gleichen Teilen fasziniert und angewidert.

„Und das soll nun das komfortable Hotel in einem beschaulichen Bayerwalddorf sein...?“ fragte Scully gedehnt.

„Die Architekten der Siebziger haben doch wirklich vor nichts halt gemacht“, gab Mulder zurück.

„Wie viele Kubikmeter Beton sind hier wohl in die Landschaft geflossen?“

„Möglicherweise steht natürlich irgendwo noch ,Hoover-Building‘ drauf, so, wie das aussieht. – Vielleicht sollen wir uns einfach nur wie zu Hause fühlen, Scully.“

„Na, dann bin ich ja mal auf unsere Zimmer gespannt. Ob die wohl passenderweise im Keller liegen?“

Er gab sich einen Ruck und stemmte die Wagentür auf. „Lassen Sie es uns ermitteln.“



„Der Maskenball beginnt erst in drei Stunden, und Sie müssen die Einfahrt weiter unten benutzen“, erklärte ihnen die Dame am Empfang, bevor sie noch auch nur ein einziges Wort herausgebracht hatten.

„Eh, nein, das ist ein Mißverständnis. Wir sind zu der Tagung da.“

„Ach, Entschuldigung, das tut mir aber leid. Sie sehen nur gar nicht aus wie Ufologie-Anhänger, ich dachte, das sei eine Kostümierung als FBI-Agenten.“

Die beiden Amerikaner griffen mit leicht säuerlichen Mienen in ihre Taschen, zogen ihre Ausweise heraus und klappten sie auf. „Wir sind vom FBI.“

„Oh, die Sicherheits-Tagung, aber natürlich, wie dumm von mir. Demnach müßten Sie...“ – Sie blätterte in ihren Unterlagen – „...Fox Mulder und Dana Scully sein. Zimmer 420.“

„Und das zweite?“

„Welches zweite? Sie sind auf ein Doppelzimmer gebucht.“

„Dann würden wir das jetzt gerne ändern. Zwei Einzelzimmer, bitte.“

„Tut mir leid, aber das geht nicht. Wir sind vollkommen ausgebucht. Die Sicherheits-Tagung und gleichzeitig der Ufo-Kongreß...“

Scully sah Mulder an und rollte mit den Augen. „Toll. Ich wollte mich immer schon mal mit Ihnen um die Decke streiten.“

Ihr Partner hörte allerdings nicht zu. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er definitiv abgelenkt. Seinen nächsten Worten nach auch: „Was reden Sie da eigentlich immer von Ufos?“

„Oh, der Kongreß der Ufo-Gemeinde beginnt heute abend. Es sind Teilnehmer aus Österreich, der Schweiz und ganz Deutschland da.“ Die Dame an der Rezeption sprach nun ganz eifrig, und ihr Gesicht begann schweinchenfarben zu leuchten. „Um Aaron zu treffen und von ihm zu lernen.“

„Aaron?“

„Ja. Er ist von den Plejaden.“

„Von den Plejaden.“ Scullys Stimme triefte vor Sarkasmus. „Ist mit Warp-Antrieb ja auch kein Problem. Oder vielleicht haben sie dort schon lange das Drei-Liter-Auto, damit kann man weite Strecken zurücklegen, bis man wieder eine intergalaktische Tankstelle braucht.“

„Und dieser Aaron ist heute hier?“ Mulder ignorierte seine Partnerin völlig. „Man kann mit ihm sprechen?“

„Naja... Also, ob er heute noch eine Audienz gewährt, weiß ich nicht. Aber eine Andacht abhalten wird er schon. Um 9 Uhr am Abend, im weißen Salon.“
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