World of X

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Richtung Nirgendwo

von Nicole Perry

Kapitel 1

Raenne seufzte und steckte sich ihre langen blonden Haare wieder in einen Zopf zusammen. Sie blickte auf die Kaffeeflecken auf der Theke, die sie mit einem Grummeln wegwischte und machte sich an die Kaffeemaschine, um neuen Kaffee aufzusetzen. Als sie die Überreste des alten Kaffees in die Spüle schüttete, wanderte ihr Blick ziellos durch das kleine Diner und streifte einige Kunden, die an den Tischen saßen und still miteinander redeten. Jim McAllister saß wie immer alleine an dem hintersten Tisch in der Ecke und aß zeitunglesend sein Plundergebäck, bevor er sich wieder auf in einen neuen friedvollen Tag in der kleinen Stadt aufmachte. Anders als McAllister waren Raenne die anderen Kunden fremd, was ja nicht ungewöhnlich war. Jake's Diner war das einzig wirkliche Restaurant in diesem abgelegenen Teil von Nebraska, und die meisten Leute, die hier erschienen, waren nur auf der Durchreise.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Raenne, eine von diesen Menschen zu sein.

Sie beklagte sich zwar nicht über ein schlimmes Leben, nur die alltägliche Routine war langweilig und... eben alltäglich. Ihr Freund war in seinem letzten der vier Jahre in der Armee und immer, wenn die Routine zu ermüdend wurde, hielt sie an dem Versprechen fest, das er ihr gemacht hatte: dass er mit ihr umziehen wolle und irgendwo ein neues Leben beginnen wolle. Irgendwo, wo es neu und anders war und sie nicht die nächsten neunzehn Jahre ihres Lebens verbringen musste.

Ein lautes Klappern ertönte hinten in der Küche und Raenne lächelte in sich hinein. Lizzie war wohl wieder am Werk. "Schmeißt du wieder alle Pfannen durcheinander?" rief sie und hatte Mühe das Lachen aus ihrer Stimme zu halten.

"Verdammt, Rae", rief Lizzie. Sie war sichtlich genervt. "Er kann die Sachen nie unfallfrei zurückstellen."

'Er', Lizzies Ehemann, dem das Diner gehörte und nach dem es benannt war, kam gerade durch die Türe. "Lizzie, stell dich nicht so an", sagte Jake und fing an, sich in der Spüle die Hände zu waschen. "Das ist doch bloß Geschirr."

"Für dich vielleicht", sagte Lizzie. "Du musst ja nicht kochen."

Raennes Grinsen breitete sich über ihr ganzes Gesicht aus. Wieder ein neuer Morgen, wieder alles beim Alten.

"Morgen, Jake", grüßte Raenne, löffelte noch etwas mehr Kaffee in den Filter und machte die Maschine an.

"Morgen, Rae", grüßte Jake zurück und lächelte ihr zu. Jake war fast wie ein Vater für sie, obwohl er schon fast alt genug war, um ihr Großvater zu sein. "Wie läuft's?"

Immerzu dieselbe Frage, immerzu dieselbe Antwort. "Gut, wie immer."

Jake nickte. "Ich werde dann mal herunter in den Supermarkt gehen und noch etwas Milch holen."

Raenne war klar, dass Milch das Letzte war, das sie brauchten - Jake ging jeden Morgen in den Supermarkt, um den neusten Klatsch und Tratsch zu hören, den er am Abend zuvor verpasste hatte. "Ja, tu das", erwiderte sie. "Lizzie und ich kommen schon klar, wenn du weg bist."

Jake nickte abermals und putzte sich die Hände an seiner abgetragenen Jeans ab. "Bis später", sagte er und machte sich auf den Weg.

Ein Gast winkte Raenne zu sich. Sie füllte ihm noch etwas Kaffee nach und brachte ihm die Rechnung. Dann ging sie von Tisch zu Tisch, nahm Bestellungen auf und schenkte Kaffee ein. Alltag.

Die Klingel über der Tür ertönte und Rae wandte ihren Kopf, um zu sehen, wer gekommen war.

Ein großer, schlanker Mann in Jeans und einem langärmligen Hemd hielt die Tür auf. Sein Haar war etwas zerzaust und über dem Bart konnte sie müde Augen sehen. Mit seinem anderen Arm half er einer Frau die zwei Treppen in das Diner hinein. Sie war klein, fast zwei Köpfe kleiner als er. Sie trug ebenfalls Jeans und eine verblichene Strickjacke über ihrem weißen T-Shirt. Ihr Haar war dunkel und es sah neben ihrer blassen Haut fast schwarz aus. Sie hatte große blaue Augen, die aber irgendwie unklar waren, und als sie durch die Tür stolperte, erkannte Rae mit Schrecken, dass sie blind war.

Der Mann führte sie geschickt zu einem der nächsten Tische und beobachtete dabei aufmerksam die anderen Kunden im Diner. Raenne glaubte, dem Mann eine gewisse Nervosität anzusehen, aber als keiner der anderen Kunden ihm große Beachtung schenkte, schien er sich zu entspannen. Sobald die Frau auf ihrem Platz war, zog er einen Stuhl für sich heran, setzte sich und nahm auf dem Tisch ihre Hand.

Raenne trat voller Neugier, die sie sich nicht erklären konnte, näher. Es gab da etwas an diesem Pärchen, etwas Andersartiges und Seltsames. Sie war völlig aufmerksam, doch sie wusste nicht, warum gerade jetzt.

"Guten Morgen", sagte sie und holte ihren Notizblock hervor. "Was darf ich Ihnen bringen?"

Der Mann sah die Frau an, die nicht antwortete. Ihre Augen waren leer. "Kaffe - koffeinfrei", sagte der Mann. "Ein paar Rühreier... und Toast, bitte." Die Frau schwieg immer noch. "Lisa?" fragte er. "Was möchtest du essen?"

Raenne fragte sich, ob die Frau überhaupt sprechen konnte, bis sie leise antwortete. "Für mich dasselbe. Und einen Orangensaft, bitte."

Raenne nickte und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. "Kommt sofort." Sie wollte sich bereits umdrehen, als eine kleine Hand sie mit sanftem Griff an ihrem Arm aufhielt.

"Könnten Sie..." die Frau sprach ruhig und bemessen, als ob sie die Frage kaum stellen könnte. "Könnten Sie mir bitte den Weg zur Damentoilette zeigen?"

"Sicher." Raenne beobachtete, wie die Frau vorsichtig aufstand, ihre Hand immer noch auf Raennes Arm. Raenne blickte zu dem Mann, der zustimmend nickte und begann dann, die Frau zu der Tür am anderen Ende des Raumes zu führen. Die Frau schien sehr zierlich neben Raenne, die auch nicht gerade besonders groß war. Ihr Griff war leicht aber standhaft, und Raenne bemühte sich sehr, sie zwischen den Tischen hindurch zu manövrieren. Sie sah auf die Frau herunter und merkte, dass sie mit konzentrierter Stirn die Schritte zählte.

Sie erreichten die Tür und Raenne drückte sie auf. Sie führte die Frau zur ersten Toilette und hielt dort zögernd an. "Möchten Sie... möchten Sie, dass ich hier warte?" fragte sie.

"Nein", sagte die Frau. "Ich finde mich von hier schon zurecht."

Raenne kehrte in das Restaurant zurück und übergab Lizzie die Bestellung. Während sie die anderen Gäste bediente, schweifte ihr Blick immer wieder zu dem Mann, der seine Augen nicht von der Tür der Toilette ließ. Einige Zeit verging und Lizzie rief, dass die Bestellung fertig war, doch die Tür hatte sich immer noch nicht geöffnet.

Raenne brachte dem Mann sein Frühstück und sah zu, wie er den Teller seiner Begleiterin anordnete. Er setzte ihn so auf den Tisch, dass das Essen darauf bestimmt angeordnet war. Dann setzte er die Tasse Kaffee auf die eine und das Glas Orangensaft auf die andere Seite. In diesem Moment öffnete sich die Tür und die Frau erschien. Raenne merkte, wie sich der Mann augenblicklich verspannte und sich wie in Startlöchern kaum auf seinem Platz halten konnte. Seine Augen klebten an der Frau, die jetzt langsam ihren Weg zwischen den Stühlen zu ihrem Tisch machte. Ihre Lippen bewegten sich leicht, als sie ihre Schritte zählte. Es war offensichtlich, dass der Mann drauf und dran war, an ihre Seite zu springen, wenn sie fiel oder sich verlaufen würde, aber er bewegte sich nicht. Er sah nur zu.

"Hier herüber, Lisa", sagte er mit weicher Stimme, als sie näher kam. Mit ihren Händen fand sie ihren Stuhl und sank erleichtert nieder.

Raenne trat zurück und versuchte, beschäftigt auszusehen, doch die beiden faszinierten sie und sie konnte kaum weg schauen.

"Eier auf neun Uhr", erklärte er, "und der Toast auf drei Uhr. Kaffee links, Orangensaft rechts." Die Frau nickte und griff nach der Gabel. Sie nahm ein wenig von den Eiern auf ihre Gabel und hob sie vorsichtig zu ihrem Mund. Nach ihrem erfolgreichen Versuch musste sie lächeln.

"Gut", war alles, was sie sagte, aber Raenne sah, dass sich die Spannung durch dieses einfache Wort von dem Mann löste.

Das Restaurant wurde langsam voll, es war jetzt schon fast neun, und Raenne hatte mit dem allmorgendlichen Andrang alle Hände voll zu tun. Ab und zu blickte sie wieder zu dem Tisch. Das Paar sprach sehr wenig, und sie sah, dass beide sehr müde waren.

"Lass das lieber sein", warnte Lizzie sie einmal, und strich sich eine Strähne ihres weißen Haares zurück in ihren Pferdeschwanz.

"Was sein lassen?"

"Das Pärchen da drüben so zu begucken. Es ist unhöflich." Lizzie runzelte die Stirn, aber Raenne ignorierte sie. Irgend etwas an den beiden packte sie und schien sie nicht mehr loszulassen. Vielleicht war es die Art, wie der Mann die Frau ansah. In seinen Augen sah sie Angst und Schuld und Bestürzung... aber unter diesen Emotionen verbarg sich eine Zärtlichkeit, die Raennes Herz aussetzen ließ.

Sie hatten schon fast zu Ende gegessen, als es passierte.

Raenne war in der Küche, als sie Glas klirren hörte, das auf dem Boden zerschellte und den hellen Schreckensschrei einer Frau. Sie rannte zurück in das Lokal und sah eine Pfütze Orangensaft und den Gesichtsausdruck der Frau.

Sie war ärgerlich und zugleich verlegen und noch etwas konnte Raenne darin erkennen, das sie als Ekel deutete. Die Frau hatte feuchte Augen und für einen Moment dachte Raenne, sie würde anfangen zu weinen. Aber der Mann nahm rasch ihre Hände und sprach beruhigend auf sie ein.

"Keine Sorge, Lisa, es ist alles in Ordnung, es ist alles okay. Er ist nur ein bisschen Saft."

Bei seiner Berührung beruhigte sich die Frau ein wenig und nach einem Moment stotterte sie, "Ich... ich weiß. Es tut mir leid... es ist nur..."

"Ich weiß", sagte er und winkte das Raenne zu sich. Er ließ nicht für eine Sekunde ihre Hand los. "Können wir die Rechnung haben, bitte?" fragte er.

Raenne eilte zu ihrem Tisch und reichte ihm den Bon. Sie nahm den Lappen von ihrer Schürze und wischte den Saft ohne ein Wort der Empörung weg. Sie ging zur Theke, um einen Handfeger zu holen, um auch das Glas aufzuräumen. Als sie zurück kam, machte der Mann sich gerade daran, ein paar Dollarnoten aus seiner Brieftasche zu holen. Raenne sprach ohne nachzudenken.

"Das ist schon ok", sagte sie. "Das geht aufs Haus."

Der Mann sah sie überrascht und misstrauisch an. "Ich habe das Geld dafür."

"Oh, da bin ich mir sicher", druckste Raenne. "Aber, wirklich, es ist mir ein Vergnügen. Sie... Sie sehen aus, als seien Sie schon länger unterwegs. Es ist das Mindeste, was ich tun kann."

Für einen Moment sagte er nichts. Er wollte offensichtlich ihr Angebot nicht annehmen. "Lassen Sie mich wenigstens für das Glas bezahlen."

"Nein, wirklich, ich bestehe darauf. Ich führe dieses Restaurant." Raenne merkte, wie Lizzie ihr einen bösen Blick zuwarf und sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen dieser Lüge. Aber Lizzie ließ es durchgehen.

"Also... danke", sagte der Mann. "Das ist sehr nett von Ihnen."

Die Frau saß mit feuchten Augen immer noch, wo sie war.

"Ich hätte da eine Frage", sprach der Mann Raenne an. "Ist hier in der Nähe ein Motel oder so etwas, wo wir uns ein wenig ausruhen können?"

Raenne nickte. "Etwas weiter oben gibt es ein 'Bed & Breakfast' ... es ist das einzige in der Stadt, aber es ist sauber und wirklich nett." Rasch schrieb den Namen der Pension auf die Rückseite der Rechnung und reichte sie ihm. "Sagen Sie, Raenne schickt sie, dann werden sie ein schönes Zimmer bekommen."

"Danke, Raenne", sagte er und sie fühlte einen angenehmen Schauer auf ihrem Rücken, als der Mann ihren Namen mit seiner dunklen Stimme sagte.

"Jederzeit", antwortete sie und sah zu, wie er der Frau aufhalf und sie aus dem Diner führte.
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