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Der Platz neben mir

von Astarte

Kapitel 2

Kapitel 2



Wir sind die Bilder, die wir von uns selber machen. Man wandelt sich. Wehe, wenn das Bild fixiert ist.

Luigi Pirandello, italienischer Dichter



Es ist schwer, die Liebe zu definieren: In der Seele ist sie die Leidenschaft zu herrschen, im Verstand Sympathie, im Körper ein versteckter, geheimnisvoller Drang zu besitzen, was man liebt – dies nur weiß ich von ihr.

La Rochefoucauld



Scully sah ihm verwirrt nach, wie er in Richtung Motel stürmte. Die Ereignisse hatten sich überschlagen und sie war sich nicht ganz sicher, warum Mulder explodiert war. Und vor allem warum er so plötzlich resignierte. Sie fühlte sich von seinem Gefühlsausbruch überrumpelt und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte.



Sicher war die Beziehung zwischen ihnen kompliziert, aber das war sie schon immer gewesen. Wann waren jemals die Fronten zwischen ihnen eindeutig geklärt? Wann hatten sie jemals offen über ihre Gefühle geredet? Aber das lag nicht nur an ihr, schließlich hatte Mulder sich genauso verhalten. Warum machte er es ihr zum Vorwurf, wenn er doch selber keinen Deut besser war.



Er war ihr bester Freund, aber er war nicht nur das. Verdammt, würde sie für ihren besten Freund, ständig ihr Leben in Gefahr bringen oder sich über jede Regel hinwegsetzen. Okay, sie würde, aber Mulder wusste doch, was er ihr im speziellen bedeutete. Sie hatte es ihm zwar nie mit großen Worten oder einer sentimentalen Karte mitgeteilt, aber auf jede andere Weise. Er konnte doch nicht so blind sein, um all ihre Gesten als Freundschaftsdienst zu deuten. Das wäre albern.



Wie hätte sie denn auf seine hirnrissigen Anschuldigungen und noch hirnlosere Eifersucht reagieren sollen? Hätte sie ihm um den Hals fallen, ihm ein ‚Ich liebe dich!’ ins Ohr hauchen sollen und Blende zu Schwarz. Alles verziehen und vergessen, nachdem er sie innerhalb weniger Stunden mehrmals unter der Gürtellinie getroffen hatte.



Außerdem war er der Profiler, er sollte ihre Motive besser verstehen als sie selbst.



Sie war sauer gewesen, als sie ihn aus dem Zimmer geworfen hatte. Mulder hatte nicht nur ihren Stolz getroffen, sondern auch ihr Selbstbild als Frau. Und sie hatte sich von ihm verraten gefühlt. Seine Äußerung brachte sie zum Nachdenken. Sah er in ihr einen Samantha-Ersatz, eine Art Schwester, weil er seine verloren hatte und der Verlust nie aufgehört hatte zu schmerzen? Als sexloses Wesen, das nur dazu da war seine Wunden zu versorgen?



Ein Eisberg ohne menschliche Schwächen. Verdammt, wusste er nicht, dass sie ihn liebte und sich Sex zwischenzeitlich nur noch mit ihm vorstellen konnte. Egal, wie ungesund diese Einstellung war. Sie hatte versucht aus seinem Dunstkreis auszubrechen. Ihr Leben wieder allein in die Hand zu nehmen, diesen Aspekt davon wiederzubeleben, weil sie dachte, dass ihr nur noch ein paar Monate bleiben würden. Sie war dabei kläglich gescheitert.



Es war eine enttäuschende sexuelle Erfahrung geworden, nicht nur weil ihr Liebhaber sie am nächsten Morgen umbringen wollte. Sondern weil es ihr so falsch vorkam und sie sich wie die Verräterin einer einzigartigen Sache fühlte. An diesem Punkt ihres Lebens war sie sich über einiges klar geworden und vor allem darüber, dass ihr Platz neben Mulder war. Leider in jeder Beziehung.



Diese Erkenntnis hatte sie niedergeschmettert. Diese emotionale Abhängigkeit von Mulder passte nicht in ihr Bild von sich. Sie hielt sich für eine moderne Frau, die in einem Männerberuf bestehen konnte. Die selbständig ihr Leben in der Hand hielt, ohne Kompromisse eingehen zu müssen oder von einem einzigen Mann abhängig zu sein.



Und dennoch war es ihr genau das im Laufe der Zeit passiert.



Nicht die übliche Anlehnung zwischen Partnern, die einen lebensgefährlichen Beruf ausübten und sich gegenseitig den Rücken decken mussten. Die bei FBI-Standard normal war, weil das Vertrauen in die Fähigkeiten des anderen in kritischen Situationen überlebenswichtig wurde. Auch nicht die Stütze zwischen Freunden, die sich gegenseitig ergänzen und respektieren.



Nein, es war eine elementare Abhängigkeit, die sie in ihrer Absolutheit erschreckte, als sie sich darüber klar geworden war. Sie hatte sich von ihrer Außenwelt isoliert und sich auf Mulder und dessen Suche nach der Wahrheit fixiert. Er wurde zum einzigen Vertrauten, zum besten Freund und schließlich zu dem Mann, um den sich ihre Welt aufbaute. Und den sie auf Teufel komm raus nicht in ihre einlassen wollte.



Ihre Angst noch verwundbarer zu sein, ließ sie ihn auf Distanz halten. Es wäre schlimm genug, den Freund zu verlieren, aber den Geliebten? Das würde sie zerstören. Dabei hatte sie weniger Angst von Mulder verlassen zu werden, als ihn sterben zu sehen. Dieser verdrehten Logik war sich Scully durchaus bewusst und dennoch barg der Gedanke einen gewissen Schutz.



Wer setzte schon freiwillig alles auf eine Karte?



Doch ob dieser Schutz vor Schmerz, den Preis wert war, den sie dafür zahlte, davon war Scully nicht immer überzeugt. In manchen Nächten senkte sich die Einsamkeit, wie ein Leichentuch um sie. Dann war der Drang Mulder anzurufen oder zu ihm zu fahren so groß, das nur der Gedanke an Zurückweisung, sie davon abhielt.



Mulder brauchte sie auf tausend verschiedene Arten, aber ihm einzugestehen, dass sie ihn ebenso brauchte, nicht nur als Partner oder Freund, erschreckte sie. Sie wusste, dass er immer für sie da war und sein würde. Dass er bereit war, ihr seine Ängste zu offenbaren, berührte sie tief und sie gab ihm ihre Stärke ohne zweiten Gedanken. Aber sich selbst einzugestehen, dass sie auch Halt benötigte und auf ihn angewiesen war, das zu akzeptieren, fiel ihr schwer.



Das Problem war nicht, Mulder zu fragen, ob er sie liebte. Diese Antwort bekam sie jeden Tag von ihm auf unterschiedlichste Weise. Die Schwierigkeit war sich selbst zu gestatten, sich lieben zu lassen. Ihm jede Facette ihrer Persönlichkeit zu offenbaren, die schönen ebenso wie die unansehnlichen. Die Intimität dieser Liebe zu teilen. Nicht die sexuelle, wenn es so einfach wäre, hätte sie schon vor langer Zeit an seine Zimmertür geklopft und den Sex eingefordert, den sie wollte. Dort lag nicht die Unmöglichkeit.



Nur die Beziehung anschließend auf dem körperlichen Level zu halten, war zum scheitern verurteilt. Scully wusste, dass sie dann die Konsequenzen tragen musste. Dass es nie ein One-Night-Stand bleiben konnte, noch nicht einmal eine Affäre. Es wäre ein Neuanfang.



Die Verschmelzung ihrer Gedanken, Gefühle und Leben. Tiefgreifender als dies ohnehin schon tagtäglich geschah. Die totale Symbiose. Und sie war noch nicht bereit, diese einzugehen. Sie wollte nicht das Puzzle zusammensetzen, was ihre Liebe bildete. Oh ja, Mulder hatte wieder einmal Recht, ihre Beziehung miteinander war schon kompliziert genug. Aber ihrer Meinung nach noch überschaubar, wenn sie jetzt die Kontrolle über sich behielt.



Leider hatte sie diese heute zeitweilig verloren, gestand Scully sich ein. Sie hatte wirklich vorgehabt, die Anspielung auf ihren fehlenden Sexappeal wegzustecken. Die bittere Pille zu schlucken. Auf die Entschuldigung zu warten, von der sie wusste, dass sie von Mulder kommen würde. Sie hatte auch vorgehabt die Wut abkühlen zu lassen. Nur hatte sie dann angefangen nachzudenken. Über sich, über Mulder und das war unter normalen Umständen schon gefährlich genug.



Aber mit seinem Kommentar im Hinterkopf, eigentlich nur dumm von ihr. Die Wut wurde neu entfacht und ihre Gedanken zogen die scheinbar vorhandenen Querverbindungen zwischen sich und Samantha. Sie dachte zeitweise sogar darüber nach, ob sie für Mulder eine Art Mutterersatz sein könnte, der ihn umsorgte und liebte. Und bei dem ganzen Nachdenken, dachte sie sich letztendlich in Rage.



Der Gedanke von Mulder als sexloses Wesen gesehen zu werden, empörte Scully. Nicht dass sie nicht damit hätte leben könnte. Aber sie wollte ihm das Gegenteil beweisen. Natürlich war es dumm von ihr, etwas beweisen zu wollen, von dem sie wusste, dass es falsch war. Aber im Nachhinein war man immer klüger. Sie hatte sich vorbereitet, als ob sie in einen Krieg ziehen würde, während ihre Gedanken in diesem Teufelskreis umherirrten. Die einzigen Zweifel kamen Scully, als sie sich mit ihrer Kriegsbemalung im Spiegel anschaute, doch diese wischte sie schnell beiseite. Sie gestattet sich spontan zu sein, obwohl sie es hätte besser wissen müssen.



Als sie bemerkte, dass Mulder nicht in seinem Zimmer war, ging sie geistig seine möglichen Aufenthaltsorte durch und so landete sie in der Bar, wie es ihr ursprünglicher Plan auch vorgesehen hatte. Nur sah ihr Plan Mulder als direkte Beute vor.



Doch als sie im Eingang stand und sämtliche Männerblicke auf ihrem Körper spürte, kam die Unsicherheit zurück und das absurde Bedürfnis sich von Mulder beschützen zu lassen. An diesem Punkt entschied sie sich um, sie unterdrückte den Impuls und setzte sich an das andere Ende der Bar. Jetzt ging es nicht nur darum, Mulder etwas zu beweisen, sondern auch sich selbst.



Der Typ neben ihr war eine Art Schutzschild und Opfer, musste Scully sich im Nachhinein eingestehen. Leicht zu beeindrucken mit ihrem Beruf und als der Wirt sich dazu gesellte, atmete sie auf. Es war immer einfacher ein Gespräch zu dritt am Laufen zu halten und der eigentliche Grund ihres Hierseins war sowieso Spekulationsthema Nummer Eins im Dorf.



Das Spukhaus am Ende der Main Street war seit Jahrzehnten leer stehend, seit dem Familienmassaker Ende der Siebziger und trotzdem strahlte es mit einem Anstrich, der neu erschien und glänzenden Scheiben. Obwohl Brian behauptete, dass er und seine Kumpels im zarten Alter von sechzehn versucht hatten sämtliche Fenster einzuwerfen. Was die ortsbekannten Rowdies in dem Haus versucht hatten, die jetzt im Koma lagen, war den beiden unklar. Soweit sie ihnen überhaupt zugehört hatte und das war, wenn überhaupt, nur mit halben Ohr.



Ihr Interesse galt Mulder und der Notwendigkeit, ihre Neugier auf seine Reaktion zu unterdrücken. Als sie sich schließlich geschlagen geben musste und sie zu ihm rüber sah, war er in den Anblick ihrer Finger auf der Bierflasche vertieft. Obwohl sie eigentlich keine Strategie, nach dem Eintreffen in der Bar vorbereitet hatte, so schien sie doch irgendetwas richtig zu machen. Und als Mulder unbehaglich auf seinem Barhocker hin und her rutschte, war sie sich sicher.



Die Anspannung löste sich in ihr. Sie wurde selbstsicherer und wandte sich Steve zu, der ihr von seinem Geistererlebnis dort erzählte, das vor allem aus einer halsbrecherischen Flucht bestand. Sie lachte an den richtigen Stellen, während sie in Gedanken am anderen Ende der Theke war. Als sie nach einem tiefen Schluck von ihrem Bier, schließlich zu ihm rüber sah, wirkte Mulders Miene wie aus Stein gemeißelt. Und das brachte sie auf die Idee mit dem Tequila. Sie wollte eine Reaktion provozieren und damit würde es ihr gelingen.



Mulder schien es auf jeden Fall noch unbehaglicher zu werden, wie das Barhocker-Rutschen verriet. Sie war mit sich zufrieden, Mulder fing an, seine Verstimmtheit auszustrahlen und er sah sie in einem anderen Licht, davon war sie zwischenzeitlich überzeugt.



Sie gab ihre Bestellung auf und als sie das Getränk vor sich stehen hatte, kam ihre vollendete Show-Einlage zum Einsatz. Eine Freundin vom College und sie hatten diese Technik im Laufe einiger feuchter Nächte vollendet. Jetzt griff sie auf diese banale Taktik zurück, weil diese eine primitive Wirkung auf Männer zu haben schien.



Und Mulder reagierte darauf nicht anders, als andere vor ihm. Er verfolgte mit brennenden Augen fasziniert ihr Schauspiel, doch als sie geendet hatte, war ihr klar geworden, dass sie wahrscheinlich einen Schritt oder zehn zu weit gegangen war. Er trank seinen Tequila und knallte sein Geld auf den Tresen und stürmte raus.



Scully packte ihr Zeug zusammen, zahlte und verabschiedete sich schnell von den Beiden, die ziemlich enttäuscht aussahen, was ihr im Moment aber relativ egal war. Jetzt ging es darum, die Wogen zu glätten.



So fand sie Mulder draußen, vertieft in Gedanken.



Er strahlte eine Unnahbarkeit aus wie selten und als sie ihn ansprach, blieb sie auf Abstand. Seine Anschuldigung kam nicht wirklich überraschend, angesichts dessen, was Steve über die Höhe seiner Getränkerechnung raus gelassen hatte, deren Rest sie übernommen hatte. Was sie aber überraschte, war die Intensität seiner Wut. Und anstatt ihren Stolz kurz zu unterdrücken, zeigte sie ihn ihm gegenüber. Sie war mit sich im Reinen und auf verdrehte Weise äußerst zufrieden. Bereit den Rückzug anzutreten.



Doch war Mulder anscheinend nicht bereit sie ohne weiteres gehen zu lassen. Seine Beleidigung saß und hielt sie zurück. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit dieser primitiven Route und ihr Kampfgeist erwachte auf ein Neues. Zum wievielten Mal?



Und an dieser Stelle war der Abend endgültig außer Kontrolle geraten, stellte Scully für sich fest. Sie wusste jetzt schon, dass etwas in ihrer Beziehung aufgebrochen war, was zu gut in der Dunkelheit gediehen war, die ohne Worte und Erklärungen auskam.



Mulders Bild von ihr war dabei sich zu verändern, so wie sich ihres von ihm geändert hatte. Nur waren bei ihr ein paar Facetten von Mulder dazugekommen, die des gehörnten Ehemannes brachte sie unwillkürlich zum schmunzeln. Während er versuchen würde, einige von ihr zu streichen. Außer sie würde versuchen zu kitten, was ging und zwar so schnell wie möglich. Ihre Intuition sagte ihr, dass sie etwas unternehmen musste. Vielleicht wurde es Zeit, das Puzzle zusammen zusetzen, bevor Teile davon endgültig verloren gehen würden.



War sie bereit für die Verschmelzung? Ihr Verstand sagte ihr, dass sie noch Zeit brauchte und nichts überstürzen sollte. Aber ihr Herz antwortete, dass ihr die Zeit davon laufen würde, wenn sie nicht endlich handelte. Und dieses Mal schaltete sie ihren Verstand bewusst aus. Ihr Leben bestand aus so vielen Risiken, warum sollte sie nicht auch dieses Wagnis eingehen. Es war zwar das Größte ihres Lebens, aber ansonsten lief sie Gefahr alles zu verlieren, ohne es überhaupt versucht zu haben.



Mit diesem Entschluss begann Scully sich auf den Weg zurück zum Motel zu machen.
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