World of X

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Schwarze Seele

von Frédéric Weymann, Stephanie Tallen

Kapitel 2

Wenig später beendete eine alte Frau ihr halbstündiges Gebet. Sie kam jeden Nachmittag, um Gott nahe zu sein und neue Kraft im Gespräch mit dem Allmächtigen zu finden. Sie erhob sich aus ihrer knienden Position in der ersten Sitzreihe und blickte noch einmal den großen Kruzifix hinter dem Altar empor. Auf einmal fiel ihr Blick auf das Gesicht Jesu.

Es hatte sich verändert. Die alte Frau war sich nicht sicher, was genau es war, aber auf irgendeine Weise ging von der Figur ein Gefühl der Gefahr aus, als wollte der Sohn Gottes sie vor etwas warnen. Stark beunruhigt wandte sich die Frau ab und ging rasch auf den Beichtstuhl zu, um sich von ihren Sünden reinwaschen zu lassen, damit sie in der harten Prüfung, die zweifelsohne bald kommen würde, auf Gottes Unterstützung zählen konnte. Das Sichtfenster war noch beiseite geschoben. Sie erkannte die Umrisse von Pater Jarods auf der anderen Seite und begann deshalb sofort zu sprechen: "Vergebt mir, Vater, ich habe gesündigt."

Sie faltete die Hände und wartete darauf, daß der Pater ihr antwortete. Doch eine Reaktion blieb aus. Nachdem die Frau fast zwei Minuten gewartet hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, fragte sie leise: "Pater Jarod, geht es Ihnen gut?"

Als eine Reaktion immer noch ausblieb, verließ sie den Beichtstuhl wieder und öffnete die Tür der Kammer, in welcher der Priester saß. Sie hatte kaum den toten Körper erblickt, als auch schon ein lauter Schrei aus ihrer Kehle drang. Wie betäubt vor Entsetzen lief sie aus der Kirche, um Hilfe zu holen.

**********

Gelbes Absperrband verwehrte den Zutritt in die Kirche, in die der Tod auf eine grausame Art und Weise Einzug gefunden hatte. Polizisten hielten neugierige Passanten fern und versuchten vergebens, lästige Reporter abzuwimmeln. Im Inneren des Gotteshauses versuchte Detective Gary Buck versuchte der völlig verstörten Frau, die den Leichnam des Priesters gefunden hatte, eine Aussage zu entlocken, doch es war vergebens. Immer wieder wurde sie von Weinkrämpfen geschüttelt, sie war mit den Nerven völlig am Ende. Das einzige, das er bis jetzt in Erfahrung hatte bringen können, war, daß Pater Jarod heute morgen in die Kirche gekommen war, keinerlei Anzeichen einer Krankheit oder Unwohlsein gezeigt hatte und vor etwa einer halben Stunde tot im Beichtstuhl aufgefunden worden war.

Detective Buck wandte sich seinem Kollegen von der Gerichtsmedizin zu. "Woran, glaubst du, ist er gestorben, Lucas?"

Lucas Cole, seit mehr als zwanzig Jahren als Gerichtsmediziner tätig, betrachtetes den Leichnam aufmerksam. Pater Jarod saß aufrecht, die Augen weit aufgerissen, der Mund zu einem stummen Schrei erstarrt, mit einer Hand umklammerte er noch immer das kleine Kruzifix, das er um den Hals trug, doch offensichtlich hatte dies ihm selbst in der Stunde seines Todes nicht helfen können.

"Nun, es gibt keinerlei Spuren eines Kampfes oder äußere Verletzungen, die zum Tod des Paters geführt haben könnten. In Anbetracht der starren Haltung und des verkrampften Gesichtsausdrucks würde ich zunächst von Tod durch Herzversagen oder Schlaganfall ausgehen. Genaueres kann ich aber erst nach einer Autopsie sagen."

"Nun, worauf warten wir dann noch", erwiderte Detectiv Buck. "Die Spurensicherung ist inzwischen fertig, der Leichnam kann abgeholt werden."

Gerade wandte sich der Detective wieder der alten Frau zu, die sich inzwischen ein wenig beruhigt zu haben schien, als ein leichtes Beben den Boden unter seinen Füßen erzittern ließ. "Was zum...", erschrocken sah er auf. Das Beben wurde merklich stärker, vereinzelt lösten sich Brocken aus dem Deckengewölbe und stürzten zu Boden. Wenn das Beben noch länger anhielt, würde das Gemäuer dem nicht mehr lange Stand halten können.

Plötzlich ertönte der Schrei einer Frau. Gary sah in Richtung des Lautes, erblickte eine Ordensschwester, die starr vor dem Altarraum stand und sah nun auch den Grund ihres Schreis. Das große hölzerne Kreuz stand in Flammen, die sich lodernd am Holz emporzüngelten. Ein weiterer Erdstoß ließ weitere Teile des Gemäuers herabfallen und wirbelte Kalk und Staub auf.

"Raus hier!", hörte er Lucas hinter sich rufen, der wenige Augenblicke später an ihm vorbei nach draußen lief, gefolgt von einigen Männern der Spurensicherung und zwei Ordensschwestern. Einer seiner Mitarbeiter lief auf die Schwester zu, die noch immer auf das nun lichterloh brennende Kreuz starrte. "Kommen Sie, Schwester, wir müssen hier raus!"

Hastig sah sich Gary in der Kirche um. "Schaffen Sie die Frau hier raus!", rief er dem Polizeipsychologen zu, der sich bemühte, die alte Frau dazu zu bewegen, ihm zu folgen. Dann machte er sich selbst auf den Weg nach draußen. Die Erde erbebte erneut, heftiger als zuvor, ließ Deckenleuchter klirren und Bänke umstürzen. Draußen liefen zwei Ordensschwestern auf ihn zu. "Schwester Josepha ist noch in der Kirche, Sie müssen sie retten."

Gary sah sich um. Tatsächlich, sein Mann von der Spurensicherung war ebenfalls nicht zu sehen, vermutlich befand auch er sich noch im Inneren des zum Einsturz verdammten Gebäudes. Zielstrebig lief er auf den Eingang der Kirche zu, doch er wurde plötzlich von einer starken Hand zurückgehalten. Zornig wandte er sich um und blickte in das Gesicht des Gerichtsmediziners. "Lucas, verdammt noch mal! Ich muß da noch mal rein. Eine Schwester und einer meiner Leute sind noch da drin."

"Du kannst da jetzt nicht mehr hinein! Siehst du nicht, daß alles in sich zusammenstürzt?"

"Genau deshalb muß ich sie ja da raus holen!", erwiderte Gary und wollte sich losreißen. Da ertönte plötzlich lautes Orgelspiel aus dem Inneren des Gotteshauses, die Intensität des Bebens nahm zu und mit einem lauten Krachen stürzte das gesamte Deckengewölbe herunter. Wolken aus Kalk und Staub quollen aus den Türen und den zersplitterten Fenstern. Lucas und Gary taumelten hustend zurück. Als sich der Staub gelegt hatte, lag die Kirche in Schutt und Asche vor ihnen. Gary wandte sich von diesem Bild der totalen Zerstörung ab. Lucas klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. "Tut mir leid, Gary."

"Du hattest ja recht. Wäre ich hineingegangen, läge ich jetzt auch dort begraben."

"Detective Buck!" Der Polizeipsychologe kniete vor der alten Frau, die am Boden lag, und kontrollierte deren Puls. "Detective Buck, kommen Sie!"

"Was ist passiert, Clark?", fragte Buck, nachdem er den Ort des Geschehens erreicht hatte.

"Nun, ich hatte sie hier in Sicherheit gebracht und sie erschien mir noch ziemlich gefaßt, doch als sie die Orgelmusik hörte, erlitt sie plötzlich einen Herzinfarkt."

"Und?", fragte Gary weiter.

"Sie ist tot."

Unter den Schaulustigen, die nun erschrocken und wie gebannt auf das Szenario blickten, stand Alec. Er lächelte. Dann wandte er sich um und ging.

**********

"Schatz, ich bin wieder da!" Alec schloß die Tür hinter sich. Er war gerade dabei, seinen Mantel aufzuhängen, als er plötzlich seine Frau aus dem Nebenzimmer hörte: "Du kommst spät, Liebling, wir wollten gerade zu Abend essen."

Alec warf seine Tasche in eine Ecke. "Na, Spooky, wie geht’s?" begrüßte er die Katze, die gerade aus dem Wohnzimmer auf ihn zugelaufen kam. Doch als sie ihn fast erreicht hatte stockte sie plötzlich in ihrer Bewegung, fauchte ihn mit gesträubtem Fell an und ergriff kreischend die Flucht. Alec schüttelte den Kopf und gesellte sich zu seiner Frau Judy. Er gab ihr einen kurzen Kuß.

"War heute wohl viel los an der Uni?" Judy begann damit, daß Essen zu verteilen. Es gab Steaks mit Kartoffeln und Rohkost.

"Ja, nach meiner Vorlesung habe ich noch mit zwei interessierten Studentinnen über das Thema gesprochen. Und danach habe ich noch mit John über einen möglichen Gastdozenten diskutiert."

Judy schaute ihn interessiert an, während sie ihm eine große Portion an Kartoffeln und Rohkost auf den Teller legte. "Was für ein Gastdozent denn?"

"Ein Kollege aus Santa Walsh. Er ist Spezialist für die Maya-Kultur in Yucatan. Ach, sei doch bitte so lieb und tue mir auch ein Stück von dem Fleisch auf. Es sieht wirklich herrlich aus."

Judy stockte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihren Mann nicht mißverstanden hatte. "Wie bitte, Schatz? Du ißt doch schon seit Jahren kein Fleisch mehr!"

Sie sah Alec überrascht an. Dieser lächelte lediglich zurück und meinte: "Ich habe heute einfach Lust darauf bekommen."

Judy nahm ein Stück Steak und legte es Alec auf den Teller. Geistesabwesend fragte sie: "Hast du auch schon gehört, was heute mit der Kirche geschehen ist?"

Alec nickte. "Da hatte wohl jemand etwas gegen die Lehren unseres Pater Jarod... oder er hatte die hohen Kirchensteuern satt". Er grinste.

Seine Frau sah in erschrocken an. "Liebling, wie kannst du nur so kaltherzig sein?! Pater Jarod ist tot!"

"Tut mir leid, Schatz, ich habe es nicht so gemeint. Es ist wirklich eine Tragödie. Es sollen sogar noch Menschen in der Kirche gewesen sein, als diese zusammenstürzte." Er schnitt sich ein großes Stück vom Steak ab und biß genüßlich hinein.

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