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Tshoqutoc

von Petra Weinberger

Kapitel 2

First Baird Station; 6. August

Als Scully an diesem Morgen aufwachte, war bereits Kaffee gemacht.

Sie hatte bis spät in die Nacht im Labor gearbeitet und den Leichnam obduziert, während Fox Mulder die Unterlagen der Forscher sichtete. 

Gegen 1 Uhr nachts hatte er sich dann schlafen gelegt, sie war ihm erst zwei Stunden später gefolgt.

" Morgen Scully," grüßte er und starrte mit einem Fernglas durch das Fenster, auf die Bucht hinaus. " Ich kann nicht gut Kaffee kochen, ich hoffe, er schmeckt Ihnen trotzdem."

Scully grinste flüchtig und füllte sich eine Tasse. Nach einem Schluck nickte sie, " er ist okay. - Was tun Sie da ?"

" Wale bei der Paarung beobachten."

Scully mußte lächeln, " Sie scheinen Ihre spezielle Videosammlung zu vermissen, habe ich das Gefühl."

Mulder warf ihr einen kurzen Blick zu und grinste flüchtig, " das sind zwei verschiedene Dinge. Das hier ist Natur pur."

" Und das Andere ?" fragte Scully herausfordernd.

" Akrobatiktipps für Schlangenmenschen."

Scully zog eine Augenbraue in die Höhe, " und auf so was stehen Sie ?"

Mulder hob die Schultern und sah wieder auf die Bucht hinaus, " jedem das seine. - Was kam denn bei Ihren Untersuchungen heraus ? Wissen Sie jetzt, woran der Junge gestorben ist ?"

" Sie meinen Jacob Baladin ?"

Mulder nickte und legte das Fernglas zur Seite, " ja. Mehr Leichen haben wir bisher ja nicht gefunden. Oder sind Sie letzte Nacht noch über eine gestolpert ?"

Scully schüttelte den Kopf, " nein. Aber meine Vermutung geht noch immer dahin, daß ihn seine Verletzungen umgebracht haben. So wie es aussah, wurden sie ihm von großen Krallen zugefügt. Er muß mit irgendeinem großen Tier gekämpft haben. Danach hat er sich vermutlich ins Labor zurückgezogen und ist schließlich seinen Verletzungen erlegen. Einige Anzeichen deuten darauf hin, daß er starkes Wundfieber hatte. Vielleicht sogar Wundstarrkrampf."

Mulder lehnte sich gegen die Fensterbank und runzelte die Stirn, " was ist mit dem Ausschlag, den er an Gesicht, Nacken und Händen hatte ?"

" Die Pusteln sind über seinen ganzen Körper verteilt. Leisten, Steiß, Achselhöhlen, Rücken und Beine sind am schlimmsten betroffen. Aber ich weiß noch nicht, ob er an einer Krankheit litt, oder wodurch die Entzündungen hervorgerufen wurden. Ich wollte mich heute daran machen."

" Ja, der Tag gestern war recht anstrengend. Ich war auch zum Umfallen müde," lächelte Mulder verständnisvoll.

Doch Scully schüttelte den Kopf, " ich wollte Diesel sparen und den Generator nicht so lange laufen lassen. Ich weiß nicht, wie lange wir hier bleiben müssen und habe keine Lust, die letzten Nächte im Dunkeln zu sitzen. - Ich habe bei Baladin bereits mehrere Proben genommen, die ich heute auswerten will. - Und was kam bei Ihnen raus ? Haben Sie etwas interessantes entdeckt ?"

Mulder nickte zögernd, " jain. Ob es interessant für uns ist, weiß ich noch nicht. Es ist ein Bericht über die Erforschung der Tierwelt Alaskas. Hauptsächlicher Schwerpunkt sind dabei die Eisbären. Man hat festgestellt das ihre Zahl, unabhängig von menschlichem Einfluß, stark schwankend ist. Die erste Zählung stammt aus dem Jahre 1848. Damals waren über 200 tausend Tiere über den ganzen Norden verteilt. Das Jahr darauf wurden nur noch knapp 10 Tausend gezählt. Der Bestand erholte sich wieder. Wurde von Jägern dezimiert und erholte sich abermals, bis er 1898 wieder ein absolutes Hoch von knapp 100 tausend Tieren erreichte. Man gab die Eisbären zur Jagd frei. Ein entsprechendes Gesetz wurde im April 1899 erlassen, da die Bären bereits in die Siedlungen der Menschen vordrangen und dort für Unruhe sorgten. Ohne ersichtlichen Grund verschwanden die Tiere. Knapp 20 tausend wurden von Jägern erlegt, doch mit Beginn des Winters gab es nur noch knapp 20 Tausend Tiere. Ihre Population stieg und fiel. 1948 zählte man wieder über 50 tausend Tiere. Anfang 1949 hatten nur etwa 10 tausend den Winter überlebt. Doch bis zum nächsten Winter blieben nur 4000 übrig. Die Kadaver der anderen oder sonstige Überreste wurden nie gefunden. Niemand kann sich erklären, wo knapp 6000 Eisbären abgeblieben sind. Der Bestand sank weiter, ursächlich bedingt durch die Pelzjagd, auf nur noch etwa 500 Tiere, dann wurden Schutzmaßnahmen aufgestellt. Bis zum letzten Winter hat sich der Bestand auf knapp 4000 Bären erhöht. Eine Zählung von diesem Jahr gibt es noch nicht."

" Das heißt," folgerte Scully. " Der Bestand war alle 50 Jahre extrem hoch und fiel dann rapide ab. Die Tiere könnten verhungert oder abgewandert sein. Das Nahrungsangebot ist bei einem so hohen Bestand bei weitem nicht groß genug."

Mulder nickte bestätigend, " stimmt. Sonst würde es heute keine Robben mehr geben. Sie sind nämlich die bevorzugte Nahrung dieser Tiere. Doch die Zahl der Robben war weniger schwankend, abgesehen von der Dezimierung durch die Jäger. Obwohl es mehr Eisbären gab, gab es nicht weniger Robben, aber es wurden auch nicht wesentlich mehr geboren."

" Dann sind die Bären verhungert."

Mulder schüttelte den Kopf, " bei so vielen Tieren hätte man irgendwelche Kadaver finden müssen. Doch man fand nichts. Die Tiere waren wie vom Erdboden verschluckt."

" Vielleicht sind sie in Sowjetgebiet abgewandert. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Russen über ihren Bestand eine genaue Liste herausgegeben haben."

" Doch, haben sie. Auch dort ging die Zahl alle 50 Jahre rapide zurück. Man mußte die Jagd verbieten, um die Bären nicht auszurotten. Dieser Bericht hier bezieht sich auf die UDSSR, Arktis, sowie Alaska und Nordkanada. Wobei der Großteil des Bestandes hier in Alaska lebte."

Scully sah ihn überrascht an, " ich weiß zwar, daß Alaska relativ groß und noch immer dünn besiedelt ist. Aber wollen Sie mir sagen, das 200 tausend Tiere alleine hier lebten ?"

Mulder mußte grinsen, " nein. Nur knapp 80.000, die restlichen 120 tausend waren über die Weiten der Arktis, UDSSR und Kanada verteilt. Doch bei diesen 80 tausend Bären hätte man alle paar Meilen auf ein Tier stoßen müssen."

Scully atmete einmal tief durch und überlegte, " okay. Und was hat der Bestand der Eisbären mit unserem Fall und dem Verschwinden der Forscher zu tun ?"

" Naja, ich hätte da schon eine Vermutung," begann Mulder zögernd.

Scully sah ihn fragend an.

" Tshoqutoc."

" Tshoqutoc ? Mulder, welche Verbindung sollte er zwischen den verschwundenen Forschern und den Eisbären herstellen ?"

Mulder verschränkte die Arme vor der Brust und erklärte, " laut bisherigen Überlieferungen und Beschreibungen dieses Wesens müssen wir davon ausgehen, daß es sehr groß ist. Sie sagten mir selbst, daß er wohl eine ganze Stadt verspeisen müßte, um genug Fettreserven für einen 50jährigen Winterschlaf anzusetzen."

Scully nickte. Soweit konnte sie ihm folgen. Auch wenn sie ahnte, wie es nun weitergehen würde, wollte sie es lieber aus Mulders Mund hören.

" Der Bestand der Eisbären ging stetig zurück, das besagen zumindest die Zählungen der Umweltbehörden. Angenommen, dieses sonderbare Wesen hatte sich auf Eisbären spezialisiert. Aus anderen Bereichen der Tierwelt wissen wir, daß, wenn eine Art verstärkt ihren Freßfeinden ausgeliefert ist, die Geburtenrate steigt. Weshalb sollten sich die Eisbären dem nicht angepaßt haben. Ihr Zyklus folgt soweit den natürlichen Instinkten, daß ihre Zahl zu einem bestimmten Zeitpunkt extrem hoch ist. Damit verhindern sie ihr eigenes Aussterben. Und dieser Zeitpunkt ist bei den Eisbären eben immer nach 50 Jahren, da dieses Wesen dann aus seinem Winterschlaf erwacht und enormen Hunger hat."

Scully starrte ihn an. Sie wußte, daß sie dies eben gehört hatte, doch sie wollte es einfach nicht glauben.

Mulder sah sie gebannt an.

" Und als Zwischensnack schnappt es sich dann ein paar Eskimos, Soldaten oder Forscher," sagte sie schließlich trocken.

Mulder schüttelte jedoch den Kopf, " nein. Aber die Zählungen belegen, daß die Zahl der Eisbären in den letzten 200 Jahren extrem gesunken ist. Roberts sagte ja auch, daß sich nur selten ein Eisbär hierher verirrt. Ich denke eher, daß der Tshoqutoc einfach eine alternative Nahrungsquelle gefunden hat, um sein eigenes Überleben zu sichern."

" Mulder, ich bitte Sie. Ihre Theorie ist nie und nimmer haltbar. Zum einen, weil es dieses Wesen gar nicht gibt. Es könnte hier gar nicht überleben. Und zum anderen, weil kein Tier einen so langen Geburtenzyklus besitzt. Auch die Eisbären nicht. Dieser von Ihnen beschriebene Zyklus würde jeweils eine ganze Generation überspringen. So etwas gibt es im gesamten Tierreich nicht. Das ist Quatsch."

Mulder musterte sie nachdenklich und nickte schließlich, " okay. Dann liefern Sie mir eine andere Theorie."

" Das kann ich nicht. Dazu muß erst einmal die Autopsie fertig abgeschlossen werden und ich bezweifle ernsthaft, daß ich alle notwendigen Untersuchungen und Analysen tatsächlich hier durchführen kann. Und selbst wenn, dann ist noch immer nicht geklärt, was mit Hilardy und dem dritten Forscher geschah."

" Thomas Brazenz," erinnerte Mulder.

Scully nickte, " denn bisher beweist nichts, daß Ihnen das Gleiche zugestoßen ist, wie Baladin."

" Was halten Sie von einem kleinen Spaziergang ?" fragte Mulder plötzlich.

" Jetzt ?" war Scully verwundert, und noch immer leicht ärgerlich.

" Ja. Warum nicht jetzt ? Wenn wir nur hier im Haus herumsitzen, werden wir die beiden anderen Forscher mit Sicherheit nicht finden," entgegnete er.

" Ich wollte die Autopsie an Baladin fortführen."

" Ich denke, im Labor ist er vorerst mal sicher aufgehoben. Er läuft Ihnen auch nicht davon. Da wir beide alleine hier sind, wäre es wohl sicherer, wenn wir uns gemeinsam auf die Suche begeben."

Scully mußte sich ein freches Grinsen verkneifen, " haben Sie Angst, das der Tshoqutoc plötzlich hinter Ihnen steht und sie verschluckt ?"

Mulder lächelte flüchtig, " nein, daß nicht gerade. Aber das Gelände ist sehr unübersichtlich und steil. Und wir kennen uns hier beide nicht aus. Aus diesem Grund denke ich, wäre es besser, wenn wir gemeinsam gehen. Zudem können Sie mir dann gleich bei der Bergung helfen, falls wir auf einen der Vermißten stoßen."

Scully nickte ergeben, " okay. Aber vorher darf ich hoffentlich meinen Kaffee noch austrinken."

***

In dicke Daunenjacken und feste Schuhe gepackt machten sich Dana Scully und Fox Mulder eine halbe Stunde später auf den Weg.

Kalter Wind fegte über die Felsen, peitschte das Meer gegen die Klippen und jagte dunkle Wolken über den Himmel.

Skeptisch sah Scully nach oben und zog ihre Jacke enger zu, " es ist zwar noch kein Sturm, aber es sieht so aus, als würde es noch Regen geben."

Mulder nickte und warf einen Blick zur Wetterstation an der Hauswand.

Die Temperaturen waren auf 4°C gefallen, die Regenwahrscheinlichkeit war hoch und das kleine Windrad auf dem Dach verursachte ein pfeifendes Geräusch.

" Ein Regenschirm ist bei diesem Wind allerdings witzlos. Doch die Jacken haben Kapuzen. Ich denke, wir werden es überleben. Nur die heiße Dusche hinterher werde ich vermissen," grinste der Agent.

" Wo fangen wir mit der Suche an ?" Scully sah sich ratlos um.

Mulder deutete auf einen Weg, der gegenüber der Eingangstür zur Bucht hinab führte, " dort unten muß Hilardy's Beobachtungspunkt sein. Ich denke, wir fangen dort an. Denn von dort ist er verschwunden. Zumindest das ist sicher. Während wir vom letzten Aufenthaltsort des anderen Forschers nichts wissen. Er könnte überall gewesen sein."

Gemeinsam marschierten sie den unwegsamen Pfad entlang.

Er führte sie an Abhängen und Felsklüften vorbei, über Vorsprünge und schmale Plateaus immer weiter in die Tiefe. Auf einem dieser Plateaus entdeckten sie plötzlich vor sich eine braune Masse.

Mulder sah sich zu Scully um und deutete darauf, " was denken Sie, was das ist ?"

Scully trat näher heran und betrachtete sich die Unförmigkeit, " Eisbärenkacke ?" riet sie schließlich zweifelnd.

Mulder grinste flüchtig, " dafür dürfte es etwas zu viel sein. Ich denke, daß selbst ein großer Eisbär eine solche Menge niemals ausscheiden kann. Zumindest nicht auf einmal."

" Vielleicht ist hier seine Toilette," schlug Scully scherzend vor.

" Eisbären haben keine Toilette. Sie erledigen ihr Geschäft dort, wo sie gerade sind, und ziehen dann weiter. Diese Hinterlassenschaft hier muß von einem viel größeren Tier stammen."

" Tshoqutoc ?" erriet sie seine Gedanken.

Mulder nickte knapp, " wir sollten eine Probe davon mitnehmen und analysieren."

" Na toll. Da fliege ich extra nach Alaska, friere mir die Finger ab und alles nur, um Scheiße zu inspizieren ?"

Mulder grinste und angelte ein kleines Tütchen aus seinem Rucksack.

Mit seinem Taschenmesser strich er einige Stücke der Fäkalien in die Tüte, dann schloß er sie und steckte sie ein. 

" Na kommen Sie. Seien Sie nicht so pessimistisch. Ich bin sicher, Sie werden noch genug zu tun bekommen. Und vielleicht finden wir gerade in dieser Probe eine Antwort auf unsere Fragen," versuchte er sie zu beschwichtigen.

" Naja, wenn ich Spuren menschlichen Blutes darin finde, wissen wir wenigstens, daß dieses Vieh für das verschwinden der Forscher verantwortlich ist. Doch wir wissen dann noch immer nicht, zu welcher Spezies es gehört," fuhr Scully fort.

Sie kletterten weiter den Weg hinab.

" Wie weit, denken Sie, ist es noch ?" fragte Scully schließlich, als sie weitere 20 Minuten unterwegs waren.

" Keine Ahnung. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es noch sehr weit ist. Wir sind schon fast an der Wasserkante."

Scully lächelte knapp, " bis dahin sind es noch fast 20 Yard Luftweg."

Der Pfad schlängelte sich gerade über eine kleine Felsnase. Die Wellen schlugen gegen das Gestein. Die Gischt spritzte bis zu ihnen hinauf.

Plötzlich teilte sich der Weg. Während einer weiter hinab führte, stieg der andere wieder an und verlor sich irgendwo über den Agenten im Felshang.

Ratlos sahen sie sich an.

" Wo, glauben Sie, hat sich Hilardy zuletzt aufgehalten ? Oben im Berg oder unten am Wasser ?"

Mulder überlegte, " der Blickwinkel seiner Kamera ging abwärts und reichte weit über die Bucht. Ich denke, daß er von weiter oben eher einen Überblick hatte. Doch soviel ich weiß, benutzen solche Forscher auch Boote, um den Walen Proben zu entnehmen und sie zu kennzeichnen, und untersuchen. Dort unten dürften also die Boote vertaut sein."

" Denken Sie, daß er mit einem Boot aufs Wasser fuhr und kenterte ?"

Mulder schüttelte den Kopf, " nein. Er wurde an seinem Aussichtspunkt und vor laufender Kamera ermordet. Wir sollten den Weg nach oben nehmen."

Zügig schritt er voran. Hinter ihm Scully, die leichte Probleme hatte, seinem schnellen Schritt zu folgen.

Der Pfad führte in Windungen steil aufwärts. Wieder kamen sie auf einem Plateau heraus. Mulder eilte darüber und bog hinter eine Felsnase.

Scully sah gerade noch seinen Rucksack verschwinden.

" Mulder, warten Sie," rief sie.

Im nächsten Augenblick schien ihr das Herz stehen zu bleiben.

Mulders Schrei hallte weit auf die Bucht hinaus.

" Mulder ?" rief Scully und erhielt keine Antwort.

Mit einem Griff hatte sie ihren Revolver gezogen, ihn entsichert und visierte die Felsnase an.

" Mulder," schrie sie noch einmal, so laut, daß er es einfach hören mußte.

Langsam schob sie sich über das Plateau und spähte vorsichtig um die Spitze herum.

Der Weg dahinter war leer. Von ihrem Partner keine Spur. Es schien fast so, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

***

" Mulder," rief Scully noch einmal und trat vorsichtig um den Felsvorsprung herum.

Von irgendwoher erklang ein leises Stöhnen.

Erst jetzt bemerkte die Agentin den Fäkalienhaufen der, von der Mitte des Pfades ausgehend eine eindeutige Spur zum Abhang bildete.

Hastig, umrundete sie die Masse und beugte sich dann vorsichtig über den Abhang.

" Mulder," rief sie wieder.

Der Fels fiel hier etwa 20 Meter senkrecht ins Meer ab, unterbrochen von mehreren Vorsprüngen die spitz hervor standen. Die Wellen krachten mit Wucht gegen das Riff und ließen die Gischt hoch aufspritzen.

Mit den Augen suchte sie den Wasserspiegel ab, konnte ihren Partner aber nirgends entdecken.

" Mulder," schrie sie in die Tiefe.

" Scully," kam es schwach von links.

Scully folgte der Richtung und entdeckte ihren Partner in der Felswand. Krampfhaft hielt er sich an einem der Vorsprünge fest, um nicht noch tiefer zu stürzen.

" Sind Sie verletzt ?" fragte sie ihn.

" Scully. Helfen Sie mir hoch," seine Stimme hörte sich gequält an.

" Sofort. Versuchen Sie sich festzuhalten."

" Beeilen Sie sich. - Bitte."

Scully sprang auf und sah sich verzweifelt um. Sie hatte kein Seil oder ähnliches dabei, mit dem sie ihn hochziehen konnte. Zudem bezweifelte sie, daß sie überhaupt genug Kraft hatte, um ihren Partner alleine heraufzuziehen.

Ihr fiel nur noch eines ein, was sie tun konnte.

Schnell setzte sie ihren Rucksack ab und zog einen Pullover hervor. Kritisch prüfte sie die Nähte, dann schlüpfte sie aus ihrer dicken Daunenjacke und knotete die Ärmel daran. Ihr Pullover und ihre Bluse folgten.

Scully wußte zwar, daß dies nicht gerade das Sicherste war. Aber etwas anderes hatte sie nicht und Hilfe konnte sie in dieser Einöde auch nicht holen. Zudem mußte sie ihren Partner so schnell wie möglich nach oben schaffen.

" Mulder, ich habe hier etwas gebastelt. Glauben Sie, daß Sie sich daran festhalten und mit meiner Hilfe wieder nach oben klettern können ?"

" Ich versuche es. Bitte, machen Sie schnell, ich kann mich nicht mehr lange halten."

" Ich lasse ihnen jetzt meine Jacken runter. Ich habe meine Wäsche zusammen geknotet und hoffe, daß es hält."

Sie wollte gerade die Bluse über die Felskante gleiten lassen, als sie überrascht auffuhr.

" Warten Sie, ich habe ein richtiges Seil. Das dürfte etwas stabiler sein," rief eine Stimme.

Vom Berg kam ein dunkelhaariger Mann auf sie zugeeilt.

Scully sah ihn erstaunt an. Sie hatte keine Ahnung wo er so plötzlich herkam.

Der Fremde warf einen Blick über die Felskante, " hallo ? Ich lasse Ihnen ein Seil runter. Versuchen Sie es sich daran festzuhalten, damit ich Sie hochziehen kann. Glauben Sie, Sie schaffen das ?"

" Ich kann mich nicht mehr halten. Beeilen Sie sich," rief Mulder zurück, und war einer Panik nahe.

Der Mann ließ das Seil über die Kante fallen, band sich das eine Ende um Leib und Schultern und sah wieder hinab.

Mulder ließ sich mit einer Hand los und versuchte verzweifelt danach zu greifen.

" Nehmen Sie das Seil und helfen Sie mir, ihn hinauf zuziehen. Alleine wird er mir etwas zu schwer," wandte sich der Fremde an Scully und suchte einen sicheren Halt an der Felswand. " Sagen Sie mir, wenn er bereit ist."

Scully faßte das Tau und starrte in die Tiefe.

Endlich hatte Mulder das Seil erwischt und wickelte es sich um das Handgelenk, dann ließ er den Felsen los und baumelte frei über dem Abgrund. Schmerzhaft schrie er auf und hätte fast wieder losgelassen. Mit der anderen Hand griff er schnell nach.

Zu zweit zogen sie ihn auf den Weg.

Erschöpft und halb ohnmächtig lag der Agent schließlich auf sicherem Untergrund.

Seine Hände waren aufgerissen und blutig. Der Strick hatte hart in sein Gelenk eingeschnitten und die Haut aufgescheuert. Seine Jacke war über Brust und Schulter aufgerissen. Daunen quollen hervor. Sein Atem ging pfeifend.

Scully beugte sich zu ihm hinab, öffnete seine Jacke und tastete vorsichtig seine Rippen ab. Sie hörte ein leises Knirschen und spürte, wie sein Brustkorb unter ihren Fingern nachgab.

Mulder stöhnte gequält auf. Dicker Schweiß stand auf seiner Stirn.

Der Fremde warf dem Agenten einen kritischen Blick zu, " wir müssen ihn so schnell wie möglich hier wegschaffen. Dort draußen braut sich ein Sturm zusammen. Es kann nicht mehr lange dauern, bis er losbricht. Etwa eine Stunde von hier ist die Station einiger Forscher. Dort können wir ihn hinbringen."

Scully nickte, " von da kommen wir. Aber, wie kommen wir hin ? Er hat einige gebrochene Rippen und seine Schulter ist ausgekugelt. Ich bezweifle, daß er imstande ist zu gehen."

" Seine Schulter können wir in die richtige Position bringen und dann müssen wir ihm helfen," erklärte der Fremde auch schon und faßte bereits nach Mulders rechtem Arm.

Scully warf ihm einen entsetzten Blick zu.

Der Fremde erklärte, " ich bin Biologe und Veterinär. Versuchen Sie ihn aufzurichten."

" Ich bin Ärztin," antwortete sie. " Und wir haben nichts, um ihn zu betäuben."

" Wir haben auch keine Zeit dazu. Wenn wir noch länger warten, schaffen wir es nicht mehr bis zur Station. Auf der Station können wir ihn dann behandeln und ihm etwas gegen die Schmerzen geben," fuhr der Fremde eindringlich fort. " Hören Sie. Ich bin kein Schlächter und kein Barbar. Ich möchte nur, daß wir lebend hier herauskommen. Und zwar alle drei. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird uns der Sturm voll erwischen und wir werden alle auf der Strecke bleiben. Der Sturm wird uns von den Felsen fegen oder daran zerschmettern."

Scully warf Mulder einen kritischen Blick zu. Endlich nickte sie und setzte ihn vorsichtig auf.

Mulder stöhnte gequält.

" Beißen Sie die Zähne zusammen. Es wird wehtun," riet ihm der Fremde. Mit einer Hand packte er Mulders Schulter, mit der anderen seinen Oberarm. Ein kurzer Ruck.

Mulder schrie auf und verdrehte die Augen. Er verlor die Besinnung.

Der Fremde faßte ihn unter dem anderen Arm und zog ihn in die Höhe, "nehmen Sie seinen Rucksack. Ich helfe Ihrem Freund."

Der Rückweg war schwierig. Mulder kam zwar wieder zu sich, doch er war nur halb bei Bewußtsein. Pfeifend zog er Luft in die Lungen.

Als sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten, fing es an zu regnen. Der Wind frischte auf. Bald peitschte er über die Felsen und trieb Regenschleier vor sich her. Sie mußten sich gegen den Wind stemmen, um überhaupt noch vorwärts zu kommen. Meter um Meter kämpfen sie sich ihrem Ziel entgegen. Scully hatte das Gefühl, daß sie überhaupt nicht mehr vorwärts kamen.

Irgendwann tauchte dann durch den Regenschleier endlich die Station auf.

Völlig durchnäßt und erschöpft retteten sie sich in das sichere Gebäude. Der Fremde schleppte Mulder direkt in den Schlafraum und ließ ihn vorsichtig auf einer Pritsche nieder. Der Agent hatte wieder das Bewußtsein verloren.

Scully war bereits am Funkgerät und versuchte die Basis zu erreichen.

" Wir haben hier einen Notfall. Einen Schwerverletzten der dringend in ein Krankenhaus muß," begann sie und lauschte dann.

Aus dem Lautsprecher erklang nur statisches Rauschen.

Der Fremde kam zu ihr und schüttelte den Kopf, " das hat keinen Sinn. Der Sturm macht jede Verbindung unmöglich. Wir müssen warten, bis er etwas abgeflaut hat. Dann können wir es erneut versuchen."

" Wir müssen sehen, daß wir ihn ins Krankenhaus bekommen," erwiderte sie heftig.

Der Fremde nickte, " bei dem Sturm kommt sowieso niemand, um ihn abzuholen. - Ich fürchte, es sieht nicht gut aus."

Scully streifte ihre dicke Jacke ab und eilte in den Schlafraum.

Mulder war wieder zu sich gekommen. Er hielt den verletzten Arm gegen den Brustkorb gepreßt und hatte sich auf die Seite gerollt. Sein Atem ging schwer.

" Wie fühlen Sie sich ?" fragte Scully leise und kniete sich neben das Bett.

" Mein Frühsport wird morgen wohl ausfallen," versuchte er zu scherzen und schluckte trocken.

" Sie hatten sich die Schulter ausgekugelt. Wir mußten sie einrenken, ehe wir Sie hierher bringen konnten. Vermutlich wird sie noch eine ganze Weile schmerzen. Außerdem haben Sie mindestens 3 gebrochene Rippen. Ob Sie noch weitere Verletzungen haben, konnte ich bisher nicht feststellen. Dazu muß ich Sie erst noch genauer untersuchen. Haben Sie noch irgendwo Schmerzen ?"

Mulder atmete pfeifend ein, " ich ... - ich bekomme kaum richtig Luft."

Scully nickte, " vermutlich ist ihre Lunge geprellt. - Mulder, ich möchte Ihnen nichts vormachen. Unsere Lage ist beschissen. Draußen tobt ein Sturm. Die Funkverbindung klappt nicht und ich weiß nicht, wann man Sie abholen und ins Krankenhaus bringen kann. Ich werde Ihnen helfen so gut ich kann, aber ... ."

Mulder lächelte gequält, " ich weiß. - Scully, wer ist er ?" Mit dem Blick deutete er zur Tür, hinter der er den Fremden glaubte.

Scully verstand, wen er meinte, " er sagt, er sei Biologe und ausgebildeter Veterinär. Auf alle Fälle hat er unser Leben gerettet."

Mulder nickte schwach, " seien Sie vorsichtig. Im Augenblick kann ich Ihnen nicht helfen, wenn Sie in Gefahr sind."

Scully lächelte und nickte, " ich werde mal nachsehen, was es hier so an Medikamenten gibt. Vielleicht finde ich was, daß Ihnen wenigstens die Schmerzen nimmt."

Mulder schluckte und schloß die Augen.

Seufzend erhob sich Scully und ließ ihn alleine. Als sie in den Wohnraum zurückkam, kam der Fremde gerade aus dem Labor.

Mißtrauisch sah er sie an und richtete eine Waffe auf sie, " wer sind Sie und was ist mit den Forschern hier geschehen ? Wo ist Hilardy ?"

" Hilardy und seine beiden Gehilfen galten als verschollen. Deshalb sind wir hier. Wir sind vom FBI. Wenn Sie es erlauben, würde ich Ihnen gerne meinen Dienstausweis zeigen," blieb Scully ruhig.

Sie verstand, weshalb er vorsichtig war. Im umgekehrten Falle hätte sie ebenso reagiert.

Der Fremde nickte, ließ sie jedoch nicht aus den Augen.

Langsam zog Scully ihren Ausweis aus der Seitentasche ihres Rucksacks und reichte ihn dem Fremden.

Dieser warf einen prüfenden Blick darauf und ließ dann die Waffe sinken, " was geschah mit Baladin ? Wer hat ihn obduziert ? Waren Sie das ?"

Scully nickte und nahm ihren Ausweis entgegen, " ich bin ausgebildete Ärztin mit der Spezialisierung auf forensische Medizin. Ich hoffte, durch die Obduktion etwas über seinen Tod und den Verbleib seiner Kollegen zu erfahren. Doch bisher kam ich noch nicht dazu, die Proben auszuwerten."

Der Fremde nickte und reichte ihr die Hand, " ich bin Maison Bernard. Tiermediziner und Biologe. Meine Station liegt knapp 30 Meilen weiter nördlich. Dort kümmere ich mich um die Robben und Pinguine. In letzter Zeit gibt es immer mehr verwaiste Robbenbabys. Ich versuche sie per Hand aufzuziehen, ihr Verhalten zu studieren, und entlasse sie dann wieder in ihre natürliche Umgebung, sobald sie selbst für sich sorgen können."

" Und welchem Umstand verdanke ich den glücklichen Zufall, daß Sie gerade zur rechten Zeit am rechten Ort auftauchten ?"

Bernard grinste, " ich wollte eigentlich gestern schon hier sein und mit Brazenz und Baladin zurück fliegen. Doch das habe ich nicht geschafft. Das Wetter hat mich zu lange aufgehalten. Jetzt wollte ich die letzten Wochen mit Hilardy verbringen und mit ihm dann zurück nach Nome fliegen. Knapp 10 Minuten oberhalb Ihrer Unfallstelle hat Hilardy seinen Beobachtungspunkt. Dort sitzt er immer und sieht auf die Bucht hinaus - wenn er nicht gerade mit dem Boot auf dem Wasser ist. Ich dachte, ich finde ihn dort. Als ich ihn nirgends sehen konnte, machte ich mich auf den Weg hierher. Und dann hörte ich den Schrei Ihres Freundes ... - Kollegen. Ich konnte mir denken, daß da jemand über den Hang gestürzt ist. Zum Glück kam ich noch rechtzeitig, um das Schlimmste zu verhindern."

Scully nickte und warf einen flüchtigen Blick zum Fenster. Hart trommelte der Regen dagegen. " Wären Sie nicht gekommen und hätten uns geholfen, dann ... ."

" Das ist schon okay. Hier in dieser Einöde sollten Menschen zusammenhalten. Sonst haben sie schlechte Chancen zu überleben. - Haben Sie Ihren Kollegen schon untersucht ?"

Scully schüttelte den Kopf, " ich wollte ihm erst etwas gegen die Schmerzen geben, ehe ich ihn ausziehe und mir genauer ansehe. Ich hoffe, etwas im Labor zu finden."

Maison Bernard nickte, " es ist alles hier. Die Medizin von Tier und Mensch unterscheidet sich kaum. Lediglich die Dosis variiert. Wir müssen Ihren Kollegen so lange hier ärztlich versorgen, bis er in ein Krankenhaus gebracht werden kann. Und das wird vermutlich noch eine Weile dauern."

Scully überlegte und nickte, " okay. Wir sind zwei Ärzte und ich denke, mit den richtigen Mitteln können wir es schaffen."

" Das ist ein Wort."

***

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