World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Violado

von Viola Anna Wittek

Kapitel #1

Es war kalt. Der Wind pfiff um mich herum, schnitt eisig in meine Wangen und schrie in meinen Ohren. Ich zog den langen Mantel fester zusammen, um mich vor der Kälte zu schützen. Es war ein nasskalter, verregneter Abend im November. Die braunen, orange und roten Blätter waren größtenteils von den Bäumen gefallen und klebten nun am nassen Boden.

So schnell ich konnte schritt ich die nassen, rutschigen Stufen hinauf. Unter den Gummisohlen meiner Schuhe zerquetschte ich die Blätter, die auf der Eingangstreppe lagen. Sie waren nicht weggekehrt worden, so wie bei den meisten anderen Apartmentgebäuden in diesem Wohnviertel.

Ich war auf dem Weg zu Scully, meiner Partnerin. Sie war meine berufliche Partnerin, keineswegs hegten wir eine romantische Beziehung. Aber dennoch schätzte ich sie und glaubte behaupten zu dürfen, dass sie das Wertvollste und Wichtigste in meinem sonst ziemlich leeren Leben war. Möglicherweise war das der Hauptgrund, weshalb ich so ängstlich war.

An diesem Freitagabend war sie früher von der Arbeit nach Hause gefahren. Sie hatte gesagt, sie wolle ein heißes Bad nehmen, Kakao trinken und dann nur noch unter die Bettdecke kriechen, um sich gründlich auszuschlafen. Sie genoss ihre Wochenenden immer, um sich zu entspannen. Das konnte ich nicht. Mir ließ meine Arbeit einfach keine Ruhe und meistens wühlte ich auch sonntags im Büro herum. Ich schwor mir, an diesem Wochenende ebenfalls mal ordentlich auszuspannen. Aber es war Freitagabend und ich war dennoch eine ganze Weile länger im Büro gewesen, weil ich einige Dinge erledigen wollte, die einfach nicht fertig geworden waren oder die ich am Beginn der nächsten Woche nicht noch ein weiteres Mal aufrollen wollte.

Ich war vollkommen übermüdet nach Hause gefahren, wo ich mich sofort auf die Couch legte um zu schlafen. Ich schlief eigentlich immer auf der Couch, das tat ich seit ich meine erste eigene Studentenbude hatte. Ich hatte zwar auch ein Bett, aber das war mir zu groß, um es allein zu belegen. An diesem Abend war es ein glücklicher Zufall gewesen. Hätte ich nicht dort gelegen, noch in meiner Arbeitskleidung, um zu dösen, hätte ich vermutlich niemals das kleine grüne Lämpchen in der Dunkelheit blinken gesehen.

Es war mir aufgefallen, als ich geblinzelt hatte. Es war fortgefahren aufzuleuchten und dann wieder zu erlöschen, als ich mit meiner Müdigkeit und meinem Verstand rang, ob ich den Anrufbeantworter nun abhören sollte oder nicht. In meiner Erschöpfung fragte ich mich ernsthaft, ob etwas wichtiger sein konnte, als zu schlafen. Obwohl ich entschied, dass nichts wichtiger sein konnte, hatte ich meine Müdigkeit merkwürdigerweise doch zurückgedrängt und das Band abgehört.


Die aufgenommene Nachricht bestand im Grunde lediglich aus einem schwerfälligen Atmen. Die Müdigkeit verschwand augenblicklich und verwandelte sich in pure Panik, als ich die Atemzüge erkannte. Die Aufnahme selbst war nur wenige Sekunden lang und schließlich wurde das Zögern durch ein Knacken in der Leitung beendet. Sie hatte einfach aufgelegt. Aber ohne dass sie auch nur ein Wort sagte, hatte ich ohnehin gewusst, von wem dieser Anruf stammte. Scully.

Ich hatte mir meinen Trenchcoat und mein Handy geschnappt und hatte meine Wohnung so schnell ich nur konnte verlassen. Ich versuchte, sie zu erreichen, aber sie nahm den Hörer nicht ab und beantwortete ihr Funktelefon nicht. Ich fuhr zu ihrer Wohnung. Die panische Angst um sie brachte mich zum Zittern und meine Phantasie malte sich in den dunkelsten Farben aus, was passiert sein konnte. Meine Gedanken kreisten wieder und wieder darum, ob Scully wohl etwas passiert war. Es ließ mir keine Ruhe. In nervöser Hektik schob ich den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor.

Noch niemals zuvor erschien mir der Weg zu ihrer Wohnung so weit. Noch niemals zuvor erschien mir mein Wagen so langsam und die Nacht so dunkel und ruhig. Die einzigen Geräusche, die ich vernahm, war das hektische Klopfen meines Herzens und das quietschende Gummi der Wagenreifen auf dem nassen Asphalt.

Und nun war ich hier, raste die Treppe hinauf, so schnell ich nur irgendwie konnte. Meinen Wagen hatte ich unachtsam im Parkverbot vor ihrem Apartmenthaus abgestellt. Ein Strafzettel war mir in diesem Moment vollkommen egal.

Ich wollte nur zu ihr, nachsehen ob es ihr gut ging. So schnell ich irgendwie konnte, bahnte ich mir meinen Weg zu ihrer Wohnungstür. Ich klopfte mit hämmernden Stößen an die sperrige Holztür zu ihrer Wohnung. Ich zog meine Waffe als ich keine Antwort bekam, dann klopfte ich erneut. Und wieder erhielt ich keine Antwort. Ich sah Kratzer an ihrer Wohnungstür, die mir zuvor noch niemals aufgefallen waren. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie ganz frisch waren.

Ich verweilte noch einen Moment. Aber als ich keine Reaktion aus dem Innern erhielt, beschloss ich zu handeln. Ich warf mich gegen die Holztür; einmal, zweimal, dreimal. Das Holz splitterte mit jedem Mal und schließlich hörte ich, wie im Innern das metallene Schloss zu Boden rasselte. Die Tür sprang auf und gewährte mir Zugang.

Und schließlich stand ich mit gezogener Waffe in ihrer Wohnung. Und es sah hier keineswegs aus wie in der Wohnung der Dana Scully die ich kannte. Die Lampen waren umgestoßen, das Sofa umgekippt. Teilweise waren die Bilder von den Wänden gerissen und ich sah zwei kleine Einschüsse in der Tapete. Glas lag in winzigen Splittern auf dem Boden verteilt. Ihr Teppich war verschoben. Einige Stühle, Hocker, der Esstisch und der antike Wohnzimmertisch umgekippt und teilweise auch zerbrochen. Zweifelsohne waren das Spuren eines Kampfes, die ich hier vorfand.


"Großer Gott", stotterte ich entsetzt, als ich zwischen dem Chaos aus Mobiliar Blut auf dem Boden entdeckte. Überall schimmerte leuchtend rotes Blut, teilweise war es auch schon getrocknet. Ich spürte, wie ich noch stärker zu zittern begann, als ich mir versuchte vorzustellen, was passiert sein mochte. Ein kurzer Schauer fuhr durch meine gespannten Nervenenden.

Ich rümpfte die Nase, als ich bissigen Geruch von Galle vernahm. Der widerliche Gestank brachte mich nahezu dazu, selbst zu würgen. Es lähmte meine Kehle, aber ich konnte es unterdrücken. Ich sah um mich; entdeckte aber keinen in diesem Zimmer.

"Scully?", rief ich laut, ohne die Waffe herunterzulassen. Ich erhoffte eine Antwort, aber ich sollte keine bekommen. Ich verfolgte die Blutspur, deren genauen Weg ich nun erkannte. Sie schien sich von der Mitte des Wohnzimmers, dort, wo die Couch einmal gestanden hatte, in schmalen Fäden bis zu ihrem Schlafzimmer zu ziehen.

Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und ging in kleinen Schritten auf das Schlafzimmer zu. Ich nahm schließlich eine Hand von dem kalten metallenen Lauf meiner Waffe. Die erdrückende Spannung in mir schien die Quelle der Hitze in meinem Gesicht zu sein. Ich ging leise an die Tür heran, dann warf ich sie schließlich mit einem Ruck auf. Was ich nun sah, lähmte mich einen Moment.

Auf dem Boden lag ein Mann, auf dem Rücken. Seine gehässigen Augen waren noch geöffnet und jagten eine Gänsehaut über meinen zitternden Körper. Seine Kleidung war in Blut getränkt und machte es mir unmöglich zu erkennen, wo er verletzt war. Um ihn herum war so viel Blut, dass er unmöglich noch leben konnte. Das Blut war teilweise auch schon angetrocknet. Ich konnte nicht genau sagen, wie lange er schon so dalag, aber vermutlich bereits seit einigen Stunden. Inmitten der Blutlache entdeckte ich plötzlich Scullys Dienstwaffe, vollkommen verklebt mit Blut. Ich hatte schon viele Leichen gesehen und auch schon viele Tatorte und Mordschauplätze gesehen. Aber das hier, veranlasste mein Herz dazu einen Moment dazu noch mehr zu rasen, als es das ohnehin schon tat.

"Scully?", rief ich erneut, sollte aber auch diesmal keine Antwort erhalten. Statt dessen sah ich mich nun nach ihr um. Sie war weder im Schlafzimmer noch im Wohnzimmer. Ihr gemütliches Apartment war nicht allzu groß. Wenn sie hier war, gab es nicht viele Plätze an denen sie nun sein konnte. Ich entdeckte einen matten Lichtstrahl zwischen dem Boden und ihrer Badezimmertür, der mir zeigte, dass sie sich vermutlich dort aufhielt.

Ich ging auf die Tür zu, öffnete sie leise. Und schließlich hatte ich gefunden, wonach ich gesucht hatte. Scully saß in der Badewanne. Sie hatte ihre Beine an ihren Körper herangezogen und sie mit den Armen eng umschlungen. Ihre Haare hatte sie flüchtig und unachtsam zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Auf der linken Seite ihrer Stirn, nah an ihrer Haarlinie, befand sich eine kleine Wunde. Das Blut war angetrocknet und auf mich wirkte es auch nicht als ob es sehr stark geblutet hatte. Aber auch die dunkle, schwarze Wimperntusche in ihrem Gesicht wies trichterförmig nach unten.

Ihre tristen und leeren Blicke sahen hinab in das ungeklärte Wasser. Sie schien meine Anwesenheit nahezu gar nicht wirklich wahrzunehmen, weil sie zu sehr in ihre eigenen Welten versunken war. Sie blickte nicht einmal zu mir auf, obwohl ich wusste, dass sie mich bemerkt hatte. Ihre sonst so strahlenden, ausdrucksvollen Augen wirkten nun trüb und leer. Ihr Gesicht war ungewöhnlich farblos und blas. Ihr zierlicher Körper zitterte leicht. Ich vermutete, dass sie unter Schock stand. Zwar war ich selbst keineswegs ein Arzt, aber dennoch konnte ich durchaus erkennen, dass es sich hierbei um Anzeichen eines solchen handeln musste.

"Großer Gott, Scully", stotterte ich fassungslos, als ich auf die Wanne zuging in der sie regungslos saß. Die Leiche hatte ich in diesem Moment eigentlich vollkommen vergessen. Meine Waffe schob ich gedankenlos zurück in den Holster um meine Hüften, bevor ich neben ihr in die Hocke ging. Doch noch immer schien sie mich kaum wahrzunehmen.

"Ich rufe einen Arzt", flüsterte ich schließlich vor mich hin. Eigentlich war das mehr an mich selbst, als an sie gerichtet. Im Grunde hatte ich nur laut gedacht. Es war keine Frage gewesen. Aber nahezu gleichzeitig, als ich das sagte, reagierte sie auf meine Worte.

"Nein", widersprach sie meinen Plänen energisch. Und nun sah sie mich das erste Mal wirklich an. Sie blickte zu mir auf, Hektik oder möglicherweise sogar ängstliche Panik in ihren blauen Augen. Ich sah deutlich die feinen Konturen ihres wohlgeformten Körpers in dem klaren Badewasser, das nicht einmal durch Badeschaum getrübt wurde. Aber ich sah auch die Gänsehaut auf ihren Armen. Ich war mir nicht sicher, ob diese ebenfalls aus dem Schock resultierten oder ob sie einfach nur fror.

"Keinen Arzt, Mulder", stammelte sie erneut. "Es geht mir gut. Wirklich. Ich brauche keinen Arzt." Sie räusperte sich kurz und schüttelte den Kopf, wobei einige Strähnen ihres rotgoldenen Haars aus dem lockeren Pferdeschwanz fielen.

"Sie stehen unter Schock, Scully", erklärte ich ihr. Nicht, dass sie das nicht vermutlich selber wusste. Aber es war das sinnvollste, an das ich in diesem Moment denken konnte. "Sind Sie ganz sicher, dass ich nicht doch lieber einen Arzt rufen sollte?"

"Nein, keinen Arzt, Mulder, bitte", sagte sie zum wahrscheinlich vierten Mal und sah mich nahezu flehend an. Sie sah mich an wie ein Kind das um eine weiteres Stück Schokolade flehte. Nur war da noch dieser ängstliche Ton in dem meerblau ihrer Iris. Ich kannte diese Art von Blick bisher nicht aus ihren Augen.

"Scully, ich...", begann ich liebevoll, als ich vorsichtig ihre Schulter berührte. Doch sie zuckte unter meiner zärtlichen Berührung zusammen. Das Wasser um sie herum plätscherte durch ihre hektische Bewegung. Ich sah, wie schnell sie atmete und sich ihre dadurch Brust hob und senkte. Ich hatte meine Finger bereits von ihrem Arm genommen. Aber dennoch hatte ich gefühlt, wie kalt ihre Haut war. Ich war mir nun sicher, dass ihre Körpertemperatur von dem Schock herrührte. Trotzdem war ihr Körper nicht annähernd so kalt, wie es ihre Augen in diesem Moment waren. Sie sah mich an, als hätte ich versucht ihr auf irgendeine Weise weh zu tun.

"Fassen Sie mich nicht an", zischte sie mir zu und ich entfernte mich erschreckt ein Stück von ihr. Ich sah, wie ein kurzer Schauer durch sie fuhr, als sie einen tiefen Luftzug machte.

"Scully, ich bin’s doch nur", redete ich gefühlvoll auf sie ein. Aber ich war mir allerdings nicht ganz sicher, ob sie überhaupt erkannte, dass ich es war, der hier neben ihr saß. Und ich fragte mich, warum sie nicht wusste, dass ich ihr keineswegs schaden oder weh tun wollte. "Ich bin’s, Mulder", flüsterte ich leise.

"Fassen Sie mich bitte nicht an, Mulder", sagte sie bittend, diesmal nur heiser und nahezu flüsternd. "Mir geht es gut", wiederholte sie sich, als sie den Blick nach und nach von meinem löste. Dann senkte sie ihre Augen wieder auf ihre Füße mit den rot lackierten Nägeln.

"Entschuldigen Sie", brachte ich ein wenig irritiert hervor, als sich ihre Augen erneut versteinerten. "Na schön, Scully, hören Sie mir zu. Sie stehen unter Schock. Sie frieren. Zuerst einmal kommen sie aus der Wanne und dem kalten Wasser raus. Sie sollten sich aufwärmen."

Sie nickte langsam und nachdenklich. Ich sah mich nach einem Handtuch um. Als ich eines entdeckt hatte, nahm ich es in meine Hand und legte es auf das kleine Schränkchen neben der Wanne. "Ich warte in Ihrem Schlafzimmer auf Sie, Scully, in Ordnung?", fragte ich schließlich langsam und einfühlsam. Ich wusste nicht, wie ansprechbar sie wahr und wie viel sie von dem was ich ihr sagte verstand. Also wiederholte ich oft ihren Namen und sprach in leicht verständlichen Sätzen mit ihr. Außerdem versuchte ich so weit es in meiner Macht stand den Blickkontakt aufrechtzuerhalten. Als sie schließlich ihr Einverständnis nickte, verließ ich das Badezimmer.

Ich hörte das Wasser leise plätschern, als Scully die Wanne verließ. Nachdem ich die Leiche mit ihrem Betttuch bedeckt hatte, öffnete ich ihren Schrank. Ich nahm mir die große Tasche auf seinem Boden, um ein Paar Dinge für sie zusammenzupacken. Ich konnte nicht zulassen, dass sie hier in ihrer Wohnung blieb. Ich konnte aber auch nicht zulassen, dass sie die kommenden Nächte allein in einem Hotelzimmer verbrachte. Nicht, nachdem was auch immer passiert sein mochte. Aber ich wusste, sie brauchte Gesellschaft. Und ich brauchte es zu wissen wie es ihr ging. Kurzum beschloss ich, sie zunächst mit zu mir zu nehmen, wenn sie sich weiterhin weigerte einen Arzt oder das Krankenhaus aufzusuchen.

Ich hörte im Hintergrund ein leises Rauschen. Sie putzte ihre Zähne während ich einige ihrer persönlichen Dinge in die Tasche legte. Ich räumte gewöhnliche Kleidung und Unterwäsche zusammen. Ich wusste nicht genau was ich packen sollte, also nahm ich kurzum alles mit, was in die Tasche passte. Ich hatte schon öfter ihre Tasche gepackt, wenn sie in einem Krankenhaus gelegen war. Aus diesem Grund kannte ich mich in ihrem Schlafzimmer relativ gut aus. Ich wusste auch, dass ich das kleine Täschchen in ihrem Nachtschrank nicht vergessen durfte. In ihm bewahrte sie Cremes, Make-up und andere solche ‚Frauendinge‘ von denen ich nur zur Hälfte wusste, wozu sie eigentlich gut waren.

Das quietschende Geräusch des Öffnens der Tür veranlasste mich dazu mich umzudrehen. Und als ich das tat blickte ich Scully direkt ins Gesicht. Sie zitterte noch immer ein wenig. Nun trug sie einzig ihre weiße Unterwäsche, aber offenbar störte sie sich an meiner Anwesenheit kaum. Sie ging auf den Schrank zu und öffnete die Türen, die ich nur einen Moment zuvor geschlossen hatte. Die Tuschespuren in ihrem Gesicht waren verschwunden und die kleine Wunde an ihrer Stirn war kaum noch zu sehen. Sie zog sich nun warme Kleidung über, während meine Blicke sie dabei musterten. Sie kleidete sich nicht mit ihrem FBI-Outfit, sondern in ganz gewöhnlicher, warmer Kleidung. Aber erst, als sie vollkommen angezogen war, blickte sie mich wirklich an.

"Was machen Sie denn da, Mulder?", fragte sie leise. Ihre Blicke sanken nieder auf meine Hände, in denen ich einen Schlafanzug aus hellblauem Satin oder Seide hielt.

"Scully, Sie können nicht hier bleiben. Und ich halte es nicht für gut, wenn Sie sich ein Hotelzimmer nehmen. Sie kommen mit zu mir, damit sie nicht allein sind", erklärte ich. Ich bemerkte wie sich ihre blauen Augen senkten. Sie widersprach mir überhaupt nicht. Kein Nein, Mulder, nicht nötig oder Es geht mir gut, Mulder, was an sich schon merkwürdig genug war. Aber sie machte auch keinerlei anderer Andeutungen. Sie nickte nur willenlos und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ihre Hände klammerten sich um ihre Oberarme, um sich auf diese Weise selbst zu wärmen.

Sie sah schlimm aus, dachte ich mir, schwach und teilnahmslos. Ich gab ihr noch eine dicke Jacke, die ich in ihrem Kleiderschrank entdeckt hatte. Es war wohl eine Skijacke, völlig übertrieben für die milde Kälte draußen. Aber es war mir wichtig, dass ihr warm war. Wenn ich mich an die Kälte ihrer Haut unter meinen Fingern erinnerte, dann wusste ich, dass es der einzige Weg war.

"Ich habe Skinner informiert, als sie im Bad waren, und mich um alles andere gekümmert. Einige Agenten werden herkommen und Spuren sichern. Bis morgen ist es nicht nötig, dass sie irgendwelche Aussagen machen, Scully", erklärte ich ihr und blickte an ihr auf und ab. Sie nickte nachdenklich aber schweigend. Vollkommen untypisch für meine Partnerin. "Sie sollten wirklich zu einem Arzt gehen", riet ich erneut und zuckte hilflos mit den Schultern.

"Ich bin doch selbst Ärztin", erinnerte sie mich tonlos. Ihre Stimme war relativ leise und sie schloss einen Moment lang seufzend sie Augen. "Ich weiß, was ich tue, Mulder, es geht mir gut."

"Gehen wir", seufzte ich schließlich nachgiebig und deutete mit einer Geste zur Tür. Sie zog die Jacke an und ging dann voran, über die Leiche hinweg. Ich folgte ihr schweigend aus ihrem Schlafzimmer und durch das verwüstete Wohnzimmer. Sie machte ständig leise, seufzende Geräusche, als sie ihre Blicke durch das Zimmer wandern ließ. Das Zimmer sah furchtbar aus; nichts mehr war dort, wo es hingehörte. Das Blut am Boden war nun vollständig getrocknet.

"Lassen Sie uns gehen", drängte ich. Mein Ziel war es, sie so schnell wie möglich hier heraus zu bringen. Weit weg von all dem. Und sie tat nickend all das, was ich ihr sagte.

Ich ging schweigend hinter ihr her, die Treppen des Apartmentgebäudes hinunter. Sie sagte nichts und ihre bedrückten Blicke lagen merkwürdig auf den Boden vor ihren Füßen. Ich senkte ebenso nachdenklich mein Haupt, als ihre Bedrücktheit mich unweigerlich ansteckte. Als wir das Apartmentgebäude verließen, verweilte sie einen ganzen Moment lang auf dem Absatz der hohen Steintreppe. Sie blickte hinaus in die dunkle Nacht. Der Himmel schien vollkommen sternenleer und wie überdeckt von einem dunklen Schleier der mitfühlenden Traurigkeit für sie.

Eine Weile lang spürte ich den dringenden Impuls sie in meine schützenden Arme zu drücken. Ich wusste nicht genau woher dieser kam, aber ich musste ihn unterdrücken. Ich hatte in ihrem Badezimmer gesehen, dass sie es nicht mochte, wenn ich ihr zu nah kam. Und sie mied partout meine Nähe.

Als sie ihre Augen schloss, rann eine einzige klare Träne über ihre Wange hinab. Sie wischte sie augenblicklich weg, damit ich sie nicht bemerkte. Dann machte sie einen Schritt voran und ging die Treppe hinunter, während ich noch immer rätselte, aus welchem Grund genau sie diese Träne geweint hatte.

Ich ging schnellen Schrittes an ihr vorbei, um ihr die Beifahrertür zu öffnen. Ich stand dahinter, hielt ihre Tasche in der Hand und wartete darauf, dass sie einstieg. Ein winziger Anflug eines liebevolles Lächelns huschte über ihr Gesicht, verschwand dann aber so schnell er gekommen war, als sie langsam in den Autositz sank.

Ich warf die Autotür zu und das metallische Geräusch hallte durch die Nacht. Ich sah, wie sie zusammenzuckte, ihre Augen schloss und ihre Lippen aufeinander presste. Ich seufzte, ging um den Wagen herum, um die Tasche auf den Rücksitz zu stellen. Dann stieg ich neben ihr, auf der Fahrerseite, ein.

Ich blickte sie eine Weile nur an. Ihr Kopf lehnte gegen das Polster und ich hatte einen Moment lang das Gefühl, als werde mir schwarz vor Augen, als ich sie leiden sah. Es schmerzte mir, direkt neben ihr zu sitzen und ihr nicht helfen zu können; sie nicht anfassen zu dürfen. Es machte für mich alles so viel komplizierter. Ich war noch niemals ein Meister in Worten gewesen und trösten können hatte ich Scully schon immer nur dadurch, dass ich sie einfach in meine Arme nahm.

"Scully, wollen... uhm", begann ich schließlich und machte mit einem Räuspern auf mich aufmerksam. "Wollen Sie mir nicht sagen, was passiert ist?", brachte ich es schließlich fertig zu fragen. Dennoch traf ich nur auf Ablehnung in ihren Augen.

"Mir geht’s gut, Mulder", wiederholte sie erneut. Ein einziger Blick verriet, dass es ihr nicht gut ging. Sie log. Und sie war sich ganz sicher auch darüber im Klaren, dass ich sie durchschaute. Trotzdem blieb sie dabei. "Es ist nicht bedeutend. Ich brauche nur Zeit zum Nachdenken."

"Mh-hm", nickte ich schließlich, sah sie weiterhin von der Seite an. So lange, bis sie fragend zurückblickte. Ihre Blicke verdeutlichten mir eindeutig, dass sie ganz offenbar nicht mit mir darüber reden wollte. Zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich nickte erneut, als ich den Schlüssel im Zündschloss herumdrehte und der Motor augenblicklich aufheulte.

Die ganze Fahrt über sagte sie gar nichts. Sie saß nur da, schloss gelegentlich für eine Weile nachdenklich ihre Augen. Ich warf ihr ab und zu einen seitlichen Blick zu. Es tat mir weh zu sehen, dass sie all die Emotionen vor mir verbarg. Ich wusste nicht, was hinter der Mauer los war, die sie um ihre Gefühle aufgebaut hatte. Wenn ich wenigstens Emotionen sehen könnte in ihren tristen, blauen Augen: Angst, Wut, Zorn, Hass, Leid. Aber das tat sie nicht. Sie saß nur stumm da und starrte regungslos auf die Fahrbahn und überließ mich der Ungewissheit.

Auf dem Weg in meine Wohnung folgte sie mir ständig. Wir sprachen nicht. Ich deutete ihr nur mit Gesten den Weg in mein Schlafzimmer. Ich hatte sie noch ein weiteres Mal auf dem Weg hierher gefragt, ob sie wirklich nicht einen Arzt oder ein Krankenhaus aufsuchen wollte. Sie lehnte dies strikt ab und ich fügte mich ihren Wünschen in der Überzeugung, dass sie tatsächlich wusste, was sie tat. Ich hatte ihr keine weiteren Fragen an diesem Abend gestellt und ihr nur angeboten, dass ich jederzeit da war, wenn sie sich danach fühlte zu reden. Als ich das Schlafzimmer verließ, stammelte sie mir ein leises "Danke" hinterher.

Während ich mit Skinner und dem FBI telefonierte, hörte ich, wie Scully im Badezimmer erneut ihre Zähne putzte. Und ich hörte das Plätschern des Wassers der Badewanne. Ich dachte nicht weiter darüber nach, denn in diesem Moment beschäftigte ich mich mit den Fragen, die mir Skinner stellte.

Erst als ich das Telefonat Zuende geführt und den Hörer aufgelegt hatte, begann ich in meinem leicht verwirrten Verstand, darüber nachzudenken, was passiert sein konnte. Mit einem Fall hatte der Mann in Scullys Wohnung nichts zu tun gehabt. Ganz offenbar war sie ein willkürliches Opfer gewesen, das einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Aber es verwirrte mich auf eine merkwürdige Weise, dass ich nicht ahnen konnte, was genau in Scully vorging. Sie hielt ihre Gefühle so sehr von mir fern, dass es mir unmöglich schien, in ihre Gedanken und Sorgen vorzudringen.

Ich räusperte mich und schloss meine müden Augen. Es musste inzwischen tiefste Nacht sein und das Denken fiel meinem müden Verstand schwer. Ich gähnte herzhaft und legte den Kopf dann auf meinem Sofa zurück. Ich starrte in mein beleuchtetes Aquarium als ich nachdachte.

In meinem Leben gab es niemanden, der mir wichtiger war als Scully. Und in diesem Moment spürte ich erneut, wie viel sie mir bedeutete. Denn es ließ mir keine Ruhe, nicht zu wissen, was genau in ihrem Kopf vor sich ging. Nicht, dass ich das sonst immer verstand. Aber diesmal störte es mich, dass ich es nicht tat. Zum ersten Mal fühlte ich wirklich wie verbunden Scully und ich uns waren. Wie sehr mich Dinge beunruhigten, die ihr zu schaffen machten, obgleich ich diese genau kannte oder nicht.

Ich verschränkte nachdenklich die Arme vor meiner Brust. Ich konnte diese merkwürdige Ruhelosigkeit in ihren Augen sehen. Obwohl ich mich fragte, was passiert sein mochte, nahm ich nicht an, dass es nicht etwas sei, über das sie schon hinweg käme. Ich wusste von vorigen ähnlichen Situationen, in denen sie verstört und verunsichert gewesen war. Nur mit dem Unterschied, das sie sonst nahezu jedes Mal in meinen Armen geweint hatte, aber sie sich diesmal nicht um die Welt anfassen ließ.

Aber ich selbst hatte mich auch schon in ähnlichen Situationen befunden. Ich erinnerte mich daran, wie Scully mich verstört in einem Hotelzimmer in Rhode Island gefunden hatte. Ich war nackt unter der Dusche gesessen und war ebenso unter Schock gestanden, wie es Scully nun tat. Und erst im Nachhinein hatte sich der Grund dafür gefunden, den ich selbst nicht kannte. Ich hatte vermutet zwei Menschen getötet zu haben, auch wenn ich letzten Endes keineswegs die Schuld trug. Scully hatte den Mann in ihrer Wohnung ganz offenbar erschossen. War es das, was ihr zu schaffen machte? Dass sie jemanden erschossen hatte; möglicherweise unter Umständen, die ihr auf diese Weise beim FBI noch nicht begegnet waren?

In mir allerdings löste es Wut aus. Ich fühlte, wie sich Zorn auf denjenigen, der Scully weh getan hatte, in mir aufstaute. Aber er war tot und das machte es möglicherweise noch schwerer für mich. Ich konnte ihn nicht aufsuchen und ihn zusammenschlagen oder verprügeln. Ich konnte ihn nicht niedermachen und ihm sagen, was für ein erbärmlicher Dreckskerl er doch sei. Mir wurde in diesem Moment klar, dass man niemals die Rachegelüste eines Mannes unterschätzen sollte, dessen wichtigster, einziger Lebensinhalt geschändet wurde. Aber durch seinen Tod war ich hilflos, musste meinen Zorn und meinen unermesslichen Hass in mich hineinfressen.

Die Müdigkeit machte sich in meinen trockenen, brennenden Augen plötzlich wieder bemerkbar, kein Wunder anlässlich der tiefsten Nacht, die über der Stadt lag. Aber ich hatte bemerkt, dass das es ungeheuer erschöpfte nachzudenken und sich zu sorgen. So wenig ich auch schlafen wollte, hatte ich keine Ahnung, wie lange ich mich noch wach halten können würde.

"Mulder", hörte ich plötzlich ihre vertraute Stimme, die mich wieder aus meinem leichten Dösen riss. Sie stand plötzlich im Türrahmen zu meinem Schlafzimmer, wieder gekleidet in ihrer Jogginghose und einem ausgeleierten T-Shirt. Ihr Gesicht hatte wieder etwas mehr an Farbe gewonnen, ihre Wangen ein wenig des hauchzarten Rosé angenommen, das ihr Gesicht sonst so unheimlich lebendig wirken ließ.

"Sie haben sich ja noch gar nicht schlafen gelegt", stellte ich fest. "Sie sollten wirklich schlafen gehen, Scully."

"Kann ich mich eine Weile zu Ihnen setzen?", fragte sie zögerlich schluckend und sah mich mit ihren unwiderstehlichen blauen Augen bittend an. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich ihr eine solche Bitte nicht abschlagen können. Ich sah allerdings, dass es ihr unangenehm gewesen war zu fragen. Weshalb? Weil sie sich damit Schwäche eingestehen musste?

"Natürlich", entgegnete ich nickend und schenkte ihr ein müdes Lächeln. "Aber eigentlich sollten Sie lieber schlafen gehen, Scully. Die Sonne wird schon bald aufgehen."

"Ich werde ohnehin nicht schlafen können", sagte sie nachdenklich. Ja, das sie nicht schlafen können würde, konnte ich mir schon irgendwie vorstellen. Sie hatte mal beiläufig erwähnt, dass sie einige Tage brauchte um nach dem Tod Donnie Pfasters wieder ruhig schlafen zu können. Ihre Gedanken kreisten zu sehr um all das Vorgefallene, hatte sie damals gesagt. Ich vermutete, dass es ihr heute ähnlich ging.

"Wie auch immer, ich kann Ihnen nicht versprechen gute Gesellschaft zu sein", seufzte ich und legte meinen Kopf zur Seite, um sie anzusehen. Sie ließ sich langsam neben mir nieder, berührte mich dabei aber nicht. "Sehen Sie die schwarzen Ränder unter meinen Augen? Ich habe das Gefühl, wenn ich einschlafe, dann liege ich schon im Koma." Ich sah, wie sie kurz amüsiert lächelte und mich dann ansah.

"Vielleicht sollten Sie doch lieber schlafen, Scully", sagte ich. "Oder es zumindest versuchen, damit sie sich ein sich ein wenig beruhigen. Ich habe Ihnen mein Bett gerichtet und ich habe bestimmt noch einige Schlaftabletten dabei, die Ihnen vielleicht dabei helfen, ein bisschen Ruhe zu finden."

"Wo werden Sie denn schlafen?", fragte sie ernst und ich zuckte gleichgültig mit den Schultern.

"Hier, auf dem Sofa", seufzte ich müde. "Wie immer."

Sie sah mich eine nachdenklich Weile an; kaute auf ihrer roten Lippe herum. Ich rätselte, was das zu bedeuten hatte. Ich wüsste so gerne, was in ihr vorging, damit ich ihr helfen konnte. Ich wusste rein gar nicht, was ich tun konnte. Oder was ich tun sollte, wenn sie nicht mit mir redete. Sie strich eine Strähne ihres rotgoldenen Haares hinter ihr Ohr und nagte weiterhin auf ihrer Unterlippe. Sie wirkte ein wenig lebendiger als vorher, bemerkte ich. Ihre Augen waren nicht mehr ganz so tot, aber dennoch erzählten sie mir von der selben Trauer und dem selben Leid wie schon Stunden zuvor. Aber plötzlich erkannte ich eine Bitte in ihnen.

"Mulder, ich...", begann sie, stockte aber. Den Rest des Satzes ließ sie bewusst in einem Räuspern untergehen.

"Soll ich bei Ihnen bleiben, Scully?", fragte ich vorsichtig, als ich vage erahnte, was das Problem sein könnte. Sie hatte Angst vor dem Alleinsein; vor der Dunkelheit und vor den Monstern unter ihrem Bett. Eben all das wovor sich Kinder fürchteten. Und vielleicht machte ihr diese Tatsache noch mehr Angst. "Möchten Sie das?"

Sie nickte schließlich zögerlich und ich lächelte ihr zu. Ich war froh, dass sie mich an sich heran ließ. Dass sie mich nicht außen vorhielt, sondern zu mir kam, wenn sie mich brauchte. Diese Gewissheit beruhigte mich auf eine merkwürdige Art und Weise und ich lächelte ihr liebevoll zu. Irgendwie freute es mich, dass sie genickt hatte. Es war ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Und es zeigte mir, dass sie gewillt war, mich früher oder später darüber aufzuklären, was passiert war. Und vor allen Dingen gestand sie sich vor mir Schwäche ein, was wohl das wichtigste von allem war.

"Entschuldigen Sie, Mulder, ich komme mir so albern vor", sagte sie plötzlich und ich sah, wie sie lachte. Es klang zwar nach einem amüsierten Lachen, aber es war keines. Es war ein trauriges, ungläubiges Lachen. Ein Lachen über die Absurdität dessen, dass die starke Dana Scully ihren Partner darum bat, ihren Schlaf zu bewachen.

"Nein, Scully", warf ich sofort ein, bevor sie noch mehr sagen konnte. Ich wollte ihre Schulter anfassen aber sie rutschte ein Stück von mir weg. Ich entschuldigte mich augenblicklich. "Das ist nicht albern, gar nicht. Ich finde es schön, dass Sie mich darum bitten und dass Sie mir vertrauen. Und Sie brauchen sich nicht zu schämen oder unwohl zu fühlen, hören Sie? Sie sind nicht Wonderwoman; auch Sie dürfen schwach sein, Scully, auch Sie dürfen weinen."

Sie sagte nichts. Aber ich sah, dass sie darüber nachdachte, was ich gesagt hatte. Ich sah, wie ihre Augen erst diesen grübelnden Blick bekamen und sie sie dann schloss, während ich bemerkte, dass meine Worte in ihrem Verstand echoten.

"Kommen Sie, gehen wir schlafen", forderte ich sie schließlich auf und erhob mich von der Couch. Sie saß eine ganze Weile länger, ihre Augen noch immer geschlossen. Ich musterte sie. Sie kam mir niemals zuvor so winzig und so zerbrechlich vor wie nun. Aber schließlich stand auch sie langsam auf. Ihre Bewegungen waren sicherer und der Schock in ihrem Körper hatte nachgelassen.

Sie ging mir voraus, auf das Schlafzimmer zu. Ich löschte das Licht im Wohnzimmer hinter uns. Ich fragte mich, wie nahe ich ihr kommen durfte. Ich hatte gesehen, wie sie reagiert hatte, als ich sie berühren wollte. Ich hatte die panische Angst vor Schmerz und Gewalt in ihrem Augen gesehen. Und das wollte ich ihr nicht wieder antun. Aber andererseits hatte sie mich schließlich gebeten, bei ihr zu bleiben. Aber wo war die Grenze zwischen genügend Nähe und ausreichend Distanz?

Sie setzte sich auf mein Bett, aber ich sagte ihr, sie sollte sich hinlegen. Zögerlich schob sie die Füße unter die Bettdecke. Ich zog mich, so schnell ich konnte, um. Ich zog meine Jacke und mein Hemd aus, die ich über die Lehne des Stuhls warf, der in meinem Schlafzimmer stand. Erst nun bemerkte ich, wie sie mich beim Ausziehen von meinem Bett aus beobachtete. Ich fühlte, wie ihre Blicke nachdenklich auf meinem Körper hafteten. Aber ich beschloss schließlich, mich davon nicht stören zu lassen.

Als ich den Gürtel um meine Hüften löste und die Hose öffnete, senkte sie ihren Blick und schloss schließlich die Augen. Ich dachte, dass sie es aus Respekt und Loyalität ihrem Arbeitskollegen gegenüber tat. Sie hatte schon oft nieder geblickt, wenn ich ihr nackt oder nur leicht bekleidet gegenüber gestanden war. Sie sah ab und zu kurz zu mir auf, senkte ihre Augen dann wieder. Nachdenklich seufzend schob ich die Hosen von meinen Hüften, ließ sie hinunter fallen und stieg aus ihr heraus. Scully sah noch immer nicht wirklich zu mir auf, obwohl ich meine Boxershorts trug.

Es war nichts außergewöhnliches für mich in Boxershorts zu schlafen, denn das tat ich immer. Ich glaube, mein Mom hatte mir mal einen Schlafanzug geschenkt, aber ich hätte nun beim besten Willen nicht gewusst, wo der war. Aber Scully blickte nur ihre Oberschenkel an. Es war ihr unangenehmer als mir, dass ich nur Unterwäsche trug. Und so beschloss ich, mir noch ein T-Shirt drüber zu ziehen, wenn sie sich dann wohler fühlte.

Ich zuckte schließlich mit den Schultern und zog das dunkelblaue T-Shirt über, dass ich mir aus dem Schrank geschnappt hatte. Ich ging um das Bett herum, auf die Seite, auf der sie lag. Na ja, sie lag nicht wirklich, sondern lehnte mit dem Rücken gegen das Kopfteil, welches senkrecht zur Matratze stand. Ihre Beine waren angewinkelt und sie starrte noch immer auf ihre Knie. Ich sah, dass sie nervös auf ihrer Unterlippe kaute.

Ich forderte sie auf, sich richtig hinzulegen, als ich gerade das Licht löschen wollte.

"Nicht ausmachen", stieß sie hektisch hervor, als meine Finger bereits auf dem Lichtschalter lagen. Sie zuckte zusammen und die pure, nackte Angst kehrte zurück in ihre klaren, blauen Augen, die ich seit sie ihre Wanne verlassen hatte, nicht mehr gesehen hatte. Und dennoch jagte sie damit einen ungeheuren Schock durch mich. Jedes Mal, wenn die Angst in ihre Augen trat, dann tat es in meinem Herzen einen schmerzenden Stich. "Lassen Sie das Licht an, bitte, Mulder."

"Natürlich", sagte ich nickend. Ich würde tun, worum sie mich bat, egal was es war. Aber ich beschloss nicht das Zimmerlicht anzulassen, sondern nach Licht auf dem Nachtschrank. Es war hell genug, damit sie alles sehen konnte, aber gleichzeitig auch schwach genug, um es ihr zu ermöglichen, einzuschlafen.

Sie beobachtete mich, das fühlte ich. Ihre Blicke hafteten auf mir, als ich mich auf den Boden neben das Bett setzte. Ich hörte, wie sie ihre Beine ausstreckte. Ihre Haut in Kontakt mit dem Stoff meiner Bettwäsche gab knisternde Geräusche von sich. Sie drehte sich schließlich so unter der Decke, dass sie auf ihrer Seite lag. Ich lehnte meinen Kopf an die Matratze und beobachtete sie.

Ich kannte diese Situation; sie in meinem Bett und ich daneben auf dem Boden sitzend. Ich erinnerte mich, als wir uns kennen lernten; als sie in mein Büro stolzierte. Sie war stark, wirkte von der ersten Sekunde ab unerschütterlich und unmöglich durch irgend etwas zu erschrecken. Ich lächelte in Erinnerung. Aber dem war nicht so. Sie hatte schockiert in ihrem Flugzeugsitz gesessen, als wir an die Westküste flogen und einige Turbulenzen hatten. Ich erinnerte mich, wie sie sich an den Sitz klammerte, ihre Nägel tief in der Armlehne vergraben. Sie hatte die Luft angehalten und die Brille auf ihrer Nase spiegelte die Angst in ihren Augen noch genauer wieder.

Im Verlauf unseres ersten gemeinsamen Falles hatte ich sie ständig unabsichtlich erschreckt und verwirrt. Eines Abends klopfte es schließlich an der Tür. Das Licht war ausgefallen und ich musste erst eine Kerze anzünden, bevor ich meinen Weg zur Tür fand. Als ich die Tür öffnete, begegnete mir eine zitternde und schlotternde Scully, die nur in ihrem Bademantel im Regen stand.

‚Ich möchte, dass Sie sich etwas ansehen‘, hatte sie gestottert und war an mir vorbei in mein Zimmer gerauscht. Sie hatte den Bademantel von ihren Schultern und auf den Boden geworfen, war plötzlich halbnackt vor mir gestanden. Sie wollte mir zwei Mückenstiche zeigen, die den Malen der Entführungsopfer ähnlich waren. Und ich lachte über die Angst, die sie mir gemacht hatte. Sie war mir in die Arme gefallen, erleichtert und verlegen.

Sie hatte einen Schock gehabt. Ihr Körper hatte gezittert und sie war ganz kalt gewesen. Ich hatte sie dazu gebracht, sich in mein Bett zu legen, um sich aufzuwärmen. Im ersten Moment hatte ich in ihren Augen gesehen, dass sie glaubte, ich wollte sie zu meinem Vorteil ausnutzen. Sie hatte den Eindruck, dass ich sie verführen und mit ihr schlafen wollte. Nicht, dass ich es nicht wollte, aber das waren keineswegs meine Motive an diesem Abend gewesen.

Sie lag in meinem Bett in ihren Bademantel gehüllt und ich war auf dem Boden gesessen. Wir hatten lange geredet, über alles. Ich hatte Vertrauen zu ihr gefunden und ich denke, das war der wichtigste Moment in meinem Leben. Denn sie schien mir ebenso zu vertrauen. Und das war der Augenblick, in dem mir klar war, dass sie der wichtigste Mensch auf meiner Suche sein würde. Und in den kommenden Jahren wurde sie das und noch mehr; der wichtigste Mensch in meinem Leben.

Aber nun lag sie da und ihre Augen waren leer. Ihre Blicke musterten mich ausdruckslos. Sie lag auf ihrer Seite, ihre Hand war auf dem Kissen vor ihr zu einer lockeren Faust geballt. Ich drehte mich zu ihr. Am liebsten hätte ich ihr liebevoll das Haar aus dem Gesicht gestrichen. Aber ich tat es nicht. Ich deckte sie statt dessen vorsichtig zu. Ich konnte ihre Anspannung dabei fühlen. Ich spürte, dass sie die Luft anhielt und die Augen schloss. Aber ich achtete darauf, dass ich sie nicht berührte, so wie sie mich gebeten hatte.

Dann zog ich mich zurück, setzte mich wieder auf den Boden neben das Bett und sah sie an. Als sie die Augen wieder öffnete, sah ich die Dankbarkeit in ihren Augen, dass ich ihre Wünsche respektierte. Ich sah zu ihr auf, wie damals. Nur stützte sie sich nicht ab, sondern lag mit ihrem Kopf auf dem Kissen. Sie sah aber zu mir herab und musterte mein Gesicht, wie damals und ich lächelte ihr liebevoll zu.

"Bleiben Sie hier, bis ich einschlafe?", fragte sie und ich nickte.

"Scully, ich bleibe die ganze Nacht hier, wenn Sie das möchten", versicherte ich ihr. Sie sah mich lange einfach nur an, so als würde sie in meinen Augen nach einer Bestätigung suchen ob ich die Wahrheit sagte oder nicht. Schließlich lächelte sie schwerfällig und verlegen. Ich fühlte, dass sie mit sich selbst ringen musste, aber sie nickte. Es fühlte sich schön an, dass sie mich um Hilfe bat. Und dieses Lächeln, so schwer es ihr auch fiel, war der erste wirklich schöne Gesichtsausdruck, den ihr hübsches Gesicht an diesem Abend, seit ich sie gefunden hatte, getragen hatte.

Sie sah mich an. Ihre blauen Augen, musterten mein Gesicht nachdenklich. Und ich ließ sie nicht aus meinen, obwohl ich heftig mit der Müdigkeit zu kämpfen hatte.

"Sind Sie müde?", fragte sie plötzlich leise und ich nickte. Ich spürte regelrecht, wie die alte, mütterlich besorgte Scully in sie zurückzukehren schien. Ich erkannte ein wenig eines mir vertrauten Tonfalls in ihrer Stimme, ihr praktisches Denken. Ich sah, wie sie nachdachte. "Mulder, legen Sie sich zu mir", sagte sie und ich zögerte.

"Scully, ich will das nicht", sagte ich schließlich. "Ich könnte Sie versehentlich berühren und ich will Ihnen keine unnötige Angst machen." Ihre Augen verbanden sich mit meinen und ihr kritisches Blau redete mit mir.

"Mulder, Sie können doch nicht auf dem Boden schlafen", sagte sie schließlich und sah mich schon nahezu flehend an. "Bitte, legen Sie sich zu mir." Und nun zögerte ich. Wieder einmal war mir die Grenze zwischen Distanz und Nähe unklar. Ich wollte sie nicht mit Angstausbrüchen und Panikattacken quälen. Kam ich ihr dadurch möglicherweise wirklich nicht zu nahe? Oder versuchte sie nur höflich zu sein?


"Scully, ich...", begann ich, aber stockte schließlich. Ihre Augen waren in diesem Moment zu ehrlich, um höflich zu sein. Sie schien tatsächlich zu wollen, dass ich neben ihr lag, in ihrer Nähe.

"Bitte, Mulder", flüsterte sie eingehend und unterbrach meine Worte. Ich stand langsam auf, ohne jemals Blickkontakt zu ihren blauen Augen abzubrechen. Aber schließlich schloss sie sie und ich atmete tief durch. Ich ging leise um das Bett herum. Ich fühlte, wie taub und gelähmt alles an mir war, aus Angst, Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit. Ich fühlte, wie die Matratze absank, als ich mich neben sie legte. Langsam nur, schob ich meine Beine unter die Decke und legte mich auf meine Seite. Sonst schlief ich immer auf dem Rücken. Aber es würde mich verrückt machen, wenn ich sie nicht sah.

Sie bewegte sich nicht. Ich sah nur ihren Rücken. Aber ich fühlte die Wärme ihres kleinen Körpers unter der Bettdecke und ich sah, wie sie auf und ab gehoben wurde, durch ihre Atemzüge. Ich hörte die Regelmäßigkeit heraus und fragte mich, ob sie möglicherweise schlief.

Aber das tat sie nicht. Langsam nur, erst nach einer Weile, in der sie sich offenbar an dieses neuartige Gefühl gewöhnen musste, so dicht bei mir zu liegen, drehte sie sich um. Ich hörte das leise Rascheln ihrer Bettdecke und die Matratze verriet mir ihre sanften Bewegungen. Ganz vorsichtig drehte sie sich zu mir, unsicher erkundend.

Und schließlich blickten mich ihre blauen Augen an. Sie musterten mich zum millionsten Mal in dieser Nacht.

"Woran denken Sie gerade, Scully?", fragte ich schließlich.

"Ich will nicht denken", sagte sie bedeutungsvoll. "Ich will niemals wieder denken. Ich will nur schlafen. Das ist gut. Wenn ich schlafe, dann denke ich nicht mehr."

Darauf erwiderte ich nichts. Ich versuchte ihre Worte zu verstehen. Aber ich wusste, dass ich das niemals wirklich können würde. Nicht, wenn ich nicht das gleiche erlebte wie sie und schon gar nicht, wenn ich so unwissend war, darüber, was eigentlich vorgefallen war. Nicht, wenn ich nicht wüsste, was in ihrem Kopf vorging.

Sie schloss die Augen, während ich darüber nachdachte, was sie gesagt hatte. Ich wunderte mich, was genau er ihr getan haben mochte. Ich erinnerte mich an das Verhalten Scullys in den letzten rund sieben Jahren unserer Partnerschaft. Sie sprach niemals gern, wenn ihr so etwas passierte, wie an diesem Tag. Sie hatte bis heute kein Wort zu viel darüber verloren, was in Donnies Haus los gewesen war. Sie hatte mir auch nicht erzählt, was bei ihr vorgefallen war als er sie vor kurzer Zeit in ihrem Apartment aufgesucht hatte. Ich wusste nur, dass sie auf ihn geschossen hatte. Entweder lag sie weinend in meinen Armen oder zog sich wie damals nachdenklich zurück, aber sie redete für gewöhnlich niemals mehr darüber, als es nötig war.

Ich wusste nicht wirklich, woran das lag. Vermutlich daran, dass sie einfach nicht zugeben wollte, dass auch sie gelegentlich die Schwächere gewesen war. Dass man sie, die starke Dana Scully, auch misshandeln und ihr weh tun konnte. Möglicherweise waren es auch gesunde Portionen an Arroganz und Stolz, die sie davon abgehalten hatten, mir Details zu erzählen. Vielleicht wollte sie mich beeindrucken.

Aber vielleicht war es auch etwas in ihrer Psyche gewesen. Etwas, dass ihr Angst machte. Angst vor dem Tod? Angst vor dem Sterben? Erzählte sie mir nichts, weil sie es dann noch ein zweites Mal durchleben musste? Weil sie das nicht verkraften und weinen würde? Weil sie nicht wollte, dass ich von Dana Scully jemals Tränen oder Schwäche sah?

Auch diesmal wollte sie nicht reden. Diesmal hatte sie gar nicht gesagt. Sie würde der Polizei grob schildern müssen, was vorgefallen war, darum würde sie einfach nicht herumkommen. Und möglicherweise, wenn das ganze sie tatsächlich so sehr belastete, dann würde sie sogar mit mir darüber reden. Sie brauchte möglicherweise Zeit um reden zu können. Ich verstand und respektierte das.

Ich bemerkte, dass es in meinem Schlafzimmer langsam schon hell wurde. Die Sonne ging bereits auf und die ersten Sonnenstrahlen fielen auf ihr friedlich schlafendes Gesicht. Sie malten auf ihren Wangen und ihren Lippen. Ich lächelte, als ich sie beobachtete. Sie war offenbar tatsächlich eingeschlafen, denn als ich mich bewegte, hielt sie nicht mehr aufmerksam die Luft an, sondern atmete stetig weiterhin ein und aus.

Zwar räusperte sie sich im Schlaf kurz, atmete dann aber ruhig weiter. Ich verfolgte ihre regelmäßigen Atemzüge, das schönste Geräusch, das ich mir zum Einschlafen vorstellen konnte. Ich dachte daran, was sie gesagt hatte. Dass sie schlafen wollte, weil sie dann nicht denken musste. Und nun standen ihre Gedanken still, während ihre Phantasie arbeitete. Ich fragte mich ob sie träumte. Und wenn ja, dann wovon sie wohl träumte. Träumte sie von einer perfekten, heilen Welt? Träumte sie von Eiscreme und Schokolade? Fliegenden Pferden und sprechenden Hunden?

Die Sonne war hinter dem Horizont schon fast vollständig aufgegangen. Scully schlief bereits seit gut einer Stunde, während ich ihren friedlichen Schlaf bewachte. Ich hatte das Gefühl, sie nur schützen zu können, indem ich sie beobachtete. Es beruhigte mich unheimlich fühlen zu können, dass sie hier war. Ich fühlte ihre Atmung, wie sie dadurch die Decke anhob und senkte. Ich fühlte die Wärme, die von ihr ausging. Ich konnte guten Gewissens meine Augenlider zufallen lassen, die nach und nach schwerer als Stahl wurden. Ich würde nicht lange schlafen, schwor ich mir. Ich musste vor Scully aufwachen, ich musste einfach, wenn ich sie beschützen wollte. Ich musste einfach versuchen...

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