World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Wind River

von Cathleen Faye

Kapitel #2

Einmal in Casper gelandet, war es noch eine Fahrt von fast zwei Stunden nach Wind River, einer kleinen Gemeinde, die im Wild River Shoshonen-Indianerreservat angesiedelt war und deren Bevölkerung kaum ausreichte, um als Stadt zu zählen. In der Tat faßte das Stadium, in dem die Washington Redskins spielten, fünf Mal soviel Menschen wie die Bevölkerung von Wind River.

Einmal angekommen, fanden sie das Büro des Sheriffs und trafen Sheriff Dale Carmichael, den hier das Gesetz vertretenden Beamten, der das FBI angerufen hatte, und seinen Deputy John Simmons. Mulders erste Einschätzung von Sheriff Carmichael war, daß er professionell und, zu seiner Ehre, klug genug war, um zu wissen, daß das außerhalb seines Bereiches war. Diese Art von Mord war noch nicht in dieser ländlichen Gegend vorgekommen und er hatte weder die Ausbildung, noch die Mittel und die Leute, um mit dieser Situation umgehen zu können. Jedoch entwickelte Mulder einen sofortigen Haß auf Deputy Simmons, der offensichtlich glaubte, daß sie in sein Gebiet eindrangen. Der Mann hatte eine schlitzäugige Bösartigkeit an sich, die er nicht einmal versuchte, zu verbergen.

Mulder und Scully wurden in das kleine Büro des Sheriffs geführt, sie machten sich bekannt und tauschten ein paar Höflichkeiten aus.

"Ich möchte Ihnen beiden danken, daß Sie gekommen sind. Ich wußte verdammt noch mal nicht mehr, was ich jetzt machen soll. Ich kann diesem Jungen weder den Prozeß machen, noch kann ich glauben, daß diese Art von Pferdescheiße hier vorgeht." Der Sheriff sah plötzlich zu Scully herüber. "Entschuldigen Sie, Madame."

Scully lächelte ein wenig. "Sie können mich Agent Scully nennen," sagte sie, ihn sanft daran erinnernd, daß sie Bundesagentin war und keine zierliche Blume oder Madame. "Also verstehe ich das richtig, daß wir uns mit Mr. Hunt treffen."

Deputy Simmons nickte. "Ja, er wird hier sein. Ich mußte ein wenig Druck auf ihn ausüben, damit er kommt. Er behauptet immer noch, daß all diese Visionen, die er hat, ihn verrückt machen. Was zur Hölle schließen Sie aus all dem, Agent Mulder?"

Mulder beugte sich in seinem Sessel nach vorn. "Wir haben ziemlich viele Akten über diese Art von Phänomen. Sie wissen vielleicht, daß viele Büros der Justizbehörden Hellseher benutzt haben, um Informationen zu erhalten..."

Scully unterbrach ihn. "Aber gewöhnlich ist ihr vermutliches Wissen so vage und allgemein, daß es vielfältig interpretiert werden kann. Dadurch erweist es sich als nutzlos."

Mulder sah sie einen Moment an, bevor er sich zurückdrehte, um die Frage des Deputys zu Ende zu beantworten. "Wie ich bereits sagte, so ein Fall mit dieser Art von Genauigkeit, wie sie Mr. Hunt angegeben hat, ist selten. Dieser ist insbesondere ungewöhnlich, weil Mr. Hunt behauptet, niemals vorher irgendeine Art von vorausschauenden oder zurückblickenden Träumen gehabt zu haben und..."

"Und selbstverständlich sind Behauptungen, ein Verbrechen im Traum gesehen zu haben, oft einfach eine Tarnung für andere..."

"Hast du etwas dagegen, wenn ich meinen Gedanken zu Ende führe, Agent Scully?" Mulders Stimme klang scharf, als er sich ihr wieder zuwandte.

Scully blinzelte überrascht und Mulder begann, sich schlecht zu fühlen, aber dann stoppte er sich selbst. Ihr Ton war abweisend gewesen und er war es leid, abgewiesen zu werden. Nach einem Moment Pause nickte sie langsam. Der Sheriff und der Deputy tauschten einen Blick, als die plötzliche Spannung zwischen den beiden Agenten aufflackerte.

"Zurückblickend?" fragte der Sheriff, um die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen.

Mulder lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die beiden ortsansässigen Beamten. "Es gab Experimente, um zu zeigen, daß Information geistig ausgetauscht werden kann, nachdem der Empfänger in einen veränderten Bewußtseinszustand versetzt wurde. Gewöhnlich geschieht dies mittels Hypnose und mit einem Absender, der versucht, eine bestimmte Information an einen Empfänger zu übermitteln. Aber es hat auch Untersuchungen gegeben, um zu sehen, ob eine Information ohne veränderten Bewußtseinszustand und ohne Absender erworben werden kann."

"Sie meinen so etwas wie Gedanken lesen?" fragte Deputy Simmons mit einem schneidenden Ton in seiner Stimme, der klarmachte, daß er die Richtung, in die die Unterhaltung ging, nicht mochte. Als Mulder ihn ansah, konnte er sehen, daß er glaubte, sie hätten Hilfe vom FBI angefordert und statt dessen Siegfried und Roy bekommen. Es war keine unübliche Reaktion, also ärgerte es ihn nicht sonderlich.

"Nein, nicht wirklich. Zurückblickende Experimente schließen oft das Sehen von leblosen Gegenständen ein. Es gibt keinen menschlichen Absender. Zum Beispiel wird eine Serie von Fotografien in einem leeren Raum gelassen und der Empfänger wird versuchen, zu erkennen, was auf den Fotos ist. Es ist, als würden sie im Geist ein Bild ansehen. Die Regierung war sehr interessiert an dieser Technik in Anbetracht ihrer fortwährenden Spionageprogramme. Mehrere tausend solcher Versuche wurden in den letzten fünfundzwanzig Jahren mit Hunderten von Teilnehmern durchgeführt. Die wachsende Datenbasis weist stark darauf hin, daß eine Information über tatsächliche Szenen und Ereignisse empfangen werden kann."

Der Sheriff verdaute diese Information einen Moment. Er zweifelte nicht so sehr wie sein Deputy, aber trotzdem gefielen ihm die Antworten nicht, die er bekam. Aber wenn das die Hilfe war, die das FBI schickte, konnte er nicht viel dagegen tun. "Also, was gedenken Sie zu tun?" fragte er.

"Erst einmal will ich nur mit ihm reden, ein Gefühl dafür bekommen, was er sieht. Es gibt ein paar Tests, bei denen ich ihn gern fragen würde, ob er sie mitmachen würde." Mulder wandte sich Scully zu. Jetzt fühlte er sich ein bißchen zerknirscht darüber, daß er vorhin so grob zu ihr gewesen war und versuchte es wieder gutzumachen. "Agent Scully ist auch Medizinerin und Spezialistin für Gerichtsmedizin. Ihr Wissen und ihre Arbeit sind von unschätzbarem Wert für diese Untersuchungen." Er lächelte sie ein wenig an. "Es gibt niemand Besseren, der die toten Männer dazu bringen kann, ihre Geschichte zu erzählen."

Scully lächelte kurz zurück, immer noch ein bißchen bestürzt über seine Erwiderung von vorhin, aber bereit, es gut sein zu lassen und weiterzumachen. Sie mußte herausfinden, was in seinem Kopf vorgegangen war, dachte sie. Aber jetzt war nicht die Zeit dazu. Sie lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Sheriff zu.

"Sheriff, kennen Sie diesen Tristan Hunt? Ich meine, von früher, bevor das alles passierte?"

"Ja, er hat sein ganzes Leben hier verbracht. Ich kenne ihn größtenteils vom Sehen, meine ich. Er hatte niemals irgendwelche Schwierigkeiten, aber das wissen Sie aus den Akten. Meistens war er immer derjenige, der mich von der Bar aus angerufen hat, wenn wir kommen mußten, um eine Rauferei zu beenden oder mit einem Betrunkenen klarkommen. Die Sache mit der Homosexualität war eine ziemliche Überraschung, aber das hier ist nicht unbedingt die Stadt, in der man diesen Lebensstil öffentlich leben kann, wenn Sie verstehen, was ich meine."

Deputy Simmons fuhr fort. "Wir haben ihn verdammt hart verhört und es gab nicht einen einzigen Bruch in seiner Geschichte. Nicht einen. Nun, das ist ungewöhnlich, weil wie Sie wissen, sogar Menschen, die unschuldig sind, Dinge vergessen oder durcheinander bringen. Was auch immer seine Geschichte ist, er hat sie verdammt gut drauf. Aber wir werden diesen kleinen Bastard kriegen, früher oder später."

Mulder war verärgert über die Art von Simmons und seine Worte. Als er ihn anschaute, sah er eine Geringschätzung des Jungen, die von einer Feindseligkeit jenseits einer Morduntersuchung zeugte. Aber bevor er irgend etwas sagen konnte, sprach der Sheriff wieder.

"Sehen Sie, das hier ist eine kleine Stadt. Ich habe weder die Leute noch die Mittel, diesen Jungen vierundzwanzig Stunden am Tag zu bewachen. Der Untersuchungsrichter ist verdammt weit weg von Casper und wie ich schon sagte, Mist wie dieser ist hier noch nicht passiert."

Mulder wandte seine Augen von dem harten Blick von Deputy Simmons ab. "Nun, jetzt scheint es hier zu passieren, Sheriff. Und vielleicht sind Sie damit beschäftigt, sich auf den falschen Verdächtigen zu konzentrieren, während der Richtige seinen nächsten Mord plant." Aus den Augenwinkeln sah er, wie sich Simmons Gesicht vor Ärger verfinsterte und Mulder empfand Genugtuung darüber, daß sein Schuß ins Schwarze getroffen hatte.

Simmons stand auf. "Ich muß Berichte schreiben." Mit einem schroffen Nicken zum Sheriff verließ er den Raum.

Gerade als er hinausging, steckte die Empfangsdame ihren Kopf zur Tür herein. "Tristan Hunt ist hier."

"Bitten Sie ihn, im Besprechungsraum auf uns zu warten." Sheriff Carmichael wandte sich wieder den Agenten zu. "Sind Sie bereit, jetzt mit ihm zu reden?"

"Lassen Sie es uns tun," antwortete Scully.

 

---

 

Tristan Hunt saß buchstäblich auf der Kante seines Stuhls und sah sich im Besprechungsraum des Sheriffsbüros um. Er strich seine langen Haare aus den Augen und empfand eine verdrießliche Dankbarkeit darüber, daß sie ihn nicht wieder in den Vernehmungsraum ohne Fenster gesteckt hatten. Mehr als zehn Stunden hatte er in diesem Raum verbracht, während die Deputies sich dabei abwechselten, sich auf ihn zu stürzen, um ihn über alles zu befragen und es ihn wieder und wieder und wieder wiederholen zu lassen, bis er verrückt davon wurde. Sie zerrten an ihm auf jeder Ebene, die ihnen einfiel. Sie versuchten ihm mit jeden Wort, das er äußerte, ein Bein zu stellen. Sie schlugen ihn emotional und machten sich wenig daraus, daß er so nahe daran war, wahnsinnig zu werden, daß es richtig gut aussah, einfach nach Hause zu gehen und sich das Gehirn rauszupusten, um die Qualen in seinem Kopf zu beenden. An einem bestimmten Punkt schien es beinahe eine gute Idee zu sein, ein Geständnis abzulegen, irgend etwas, um sie dazu zu bringen, den Mund zu halten. Irgend etwas, um sie dazu zu bringen, ihn allein zu lassen.

Und trotzdem glaubte ihm keiner. Sie machten sich keine Gedanken über das Häßliche, das er gesehen hatte und den Terror, den er empfand oder daß er sich davor fürchtete, einzuschlafen oder auch nur allein in der Dunkelheit zu sein. Er war zu ihnen gekommen, weil er Hilfe brauchte und statt dessen drangen sie in die Sicherheit seines Hauses ein, dem einzigen Platz, an dem er er selbst sein konnte und nun war sein gut gehütetes Geheimnis bekannt geworden. Es war nicht nur bekannt geworden, es war in den Zeitungen und in jedem Klatschmund in der Stadt. Nun konnten die Menschen in seiner eigenen Heimatstadt sich nicht entscheiden, was schlimmer war, ein verdächtigter Mörder zu sein oder ein bekannter Homosexueller.

In beiden Fällen war er beschissen dran. Es war jetzt nicht nur bekannt, er war auch geächtet und vollkommen auf sich allein gestellt. Er hatte auf den nutzlosen Pflichtverteidiger verzichtet, der ihm nur gesagt hatte, daß er seinen Mund halten sollte. Irgendwie wußte Tristan, daß den Mund zu halten ihn schließlich für diese Morde ins Gefängnis bringen würde. Aber er wußte auch, daß jedes Wort, das er ihnen eröffnete, eine Möglichkeit mehr war, ihm all das anzuhängen. Er steckte bis zum Hals drin und er sank schnell tiefer. Er brauchte Hilfe.

Tristan stand auf und blickte aus dem Fenster, das nach Westen zeigte. Es war später Nachmittag und die Sonne fühlte sich warm auf seinem Gesicht an. Er dachte wieder an Kalifornien. Er war noch nie dort gewesen, war noch nicht einmal aus seinem Bundesstaat heraus gekommen. Aber er wollte das Meer sehen, wollte durch den knirschenden Sand gehen und das Salzwasser über seine Füße plätschern fühlen. Er wollte verdammt noch mal weg von hier. Man hatte ihn ‚gebeten‘, die Stadt nicht zu verlassen, aber seine eigenen Gründe zu bleiben, waren egoistisch. Er mußte diese Visionen aus seinem Kopf bekommen und wegzulaufen trug nicht dazu bei.

Aber Gott, er wollte von hier verschwinden und das Meer sehen. War das zu viel verlangt?

Er hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete und drehte sich um. Sheriff Carmichael betrat den Raum, gefolgt von einer Frau, einer hübschen Rothaarigen in einem schwarzen Anzug und vernünftigen Schuhen. Als sie ihm in die Augen sah, war ihr Gesicht eine ruhige, professionelle aufgesetzte Maske. Hinter ihr kam ein Mann mit dunkelbraunem Haar herein, der ungefähr seine Größe hatte, aber schlanker gebaut war. Er sah unverschämt gut aus und trug einen teuren Anzug.

Aber anders als die Frau nickte der Mann ihm zu, als er ihm in die Augen blickte. Da war kein Lächeln, aber die einfache Anerkennung seiner Existenz brachte ihn dazu, sich aus irgendeinem Grunde erleichtert zu fühlen. Sie näherten sich vorsichtig einander, trafen sich in der Mitte des Raumes am Konferenztisch wie Revolverhelden in der Wagenburg.

Sheriff Carmichael übernahm die Vorstellung. "Mr. Hunt, das sind Agent Mulder und Agent Scully vom FBI." Der Sheriff machte nicht deutlich, wer welcher Agent war, obwohl Tristan nicht erwartete, daß es viel bedeutete. Am Ende waren sie alle gleich. Die Frau reichte ihm die Hand und er nahm sie. Dann nahm er die Hand, die der Mann ihm anbot und wieder sah der Mann ihn an, anstatt durch ihn hindurch zu sehen.

"Mr. Hunt, danke daß Sie gekommen sind, um mit uns zu reden," sagte die Rothaarige zu ihm.

"Als wenn ich eine Wahl gehabt hätte."

Sie ignorierte den Seitenhieb. "Warum setzen wir uns nicht."

Sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch. Tristan auf der einen Seite, die anderen Drei auf der anderen. Der Mann legte ein Notizbuch vor sich auf den Tisch, beugte sich nach vorn und faltete seine Hände darüber. Tristan ertappte sich dabei, wie er sie ansah. Sie waren groß, mit schlanken Fingern. Die Hände eines Stadtjungen, ohne Anzeichen für harte manuelle Arbeit, aber dennoch stark aussehend. Dann hörte er den Mann das erste Mal zu ihm sprechen und er richtete seine Augen wieder auf sein Gesicht.

"Mr. Hunt, wir sind gekommen, um mit Ihnen über das zu reden, was Sie gesehen haben."

Tristan seufzte, als er seinen Blick wieder auf die Hände des Agenten auf dem Tisch senkte. Gott, er war so müde, aber er konnte nicht schlafen, konnte keine Ruhe finden. Es dauerte lange, bis er die Energie fand, um zu antworten. "Ich weiß nicht, was Sie glauben, was ich Ihnen noch mehr erzählen kann."

"Ich habe die Berichte gelesen, aber ich möchte Ihre Version hören."

Tristan hob seinen Blick und sah die beiden Agenten an, während sie warteten. Seine Jahre als Kellner hatten ihm geholfen, Menschen ziemlich schnell einzuschätzen, wer schwierig war und wer nicht.

Die sorgfältige Maske der Rothaarigen hatte sich ein wenig verändert angesichts seines Sarkasmus von vorhin. Sie ist ein Problem, dachte er. Sie hat sich ihre Meinung gebildet, sie denkt, ich habe etwas damit zu tun. Er sah hinüber zu dem Mann, der resolut zurücksah und ihm in einer Weise in die Augen blickte, wie es Menschen nicht oft taten. Dieser Mann war offener. Kein Narr, aber bereit zuzuhören. Tristan seufzte ein wenig. Natürlich war er müde, er konnte falsch liegen und er konnte es sich nicht leisten, hier einen Fehler zu machen.

"Mr. Hunt?" Die Stimme der Frau unterbrach seine Gedanken, lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu ihr, als er erkannte, daß er den Blick der haselnußfarbenen Augen des Mannes lange Zeit festgehalten hatte. Er sah zurück zu dem Mann und er nickte ihm zu. Ein wenig ermutigt begann Tristan seine Geschichte ein weiteres Mal zu erzählen.

Der Mann und die Frau machten sich beide Notizen.

Mulder beobachtete Tristan Hunts Körpersprache, während er sprach. Körpersprache erzählte eine Menge und dieser Junge zeigte keine der Eigenheiten, die wie ihm seine Erfahrung sagte, auf einen Lügner hinwiesen. Der junge Mann stand unter ziemlichem Streß, aber nicht, weil er etwas verbarg. Es schien mehr Bitterkeit zu sein, weil er niemanden finden konnte, der ihn ernst nahm. Und er erwartete eindeutig nicht, hier ernst genommen zu werden. Persönlich sah er jünger aus, dachte Mulder. Seine langen schwarzen Haare waren ein wenig unordentlich und er schob sie sich oft aus den Augen. Diese Geste war bezeichnend. Er hatte Verdächtige gesehen, Männer und Frauen, die ihr Haar als Verhüllung nutzten, sich dahinter verbargen, ihren Kopf beugten und dahinter hervorspähten, so daß die Menschen sie nicht sehen konnten. Aber Tristan Hunt hatte keine Schwierigkeiten damit, ihnen in die Augen zu sehen. Seine Augen waren von so dunklem Braun, sie schienen beinahe schwarz zu sein und sie starrten ihn direkt an. Tatsächlich ein bißchen zu aufmerksam. Mulder hatte beinahe das Gefühl, daß er derjenige war, der eingeschätzt wurde und nicht umgekehrt.

Tristan sah aus, als hätte er sich an diesem Tag nicht rasiert und seine Kleidung war eher wahllos. Ein weißes Baumwollshirt, das vor zehn Jahren einmal neu gewesen war, sauber aber vollkommen ausgereizt. Er trug weite Jeans, deren Löcher von der Zeit und vom Tragen herrührten und nicht daher, weil er sie so in einem Trendy-Geschäft gekauft hatte. Er hatte Arbeitsschuhe an, die so alt aussahen wie sein Shirt, etwas, das für ihn bequem war und von dem er nicht lassen wollte. Er sah sehr gut aus und dennoch nicht im geringsten interessiert daran, damit anzugeben. Das war auch bezeichnend, fand Mulder.

Die Geschichte, die er erzählte, entsprach so ziemlich dem, was Mulder erwartet hatte zu hören. Er hatte den ersten Traum vor fast zwei Monaten gehabt. Zuerst hatte er nicht einmal erkannt, daß sie irgend etwas bedeuteten. Er hatte einfach gedacht, es wäre nur ein Alptraum. Mitten im ersten Traum war er schweißgebadet von dem Bemühen aufgewacht, einen Weg aus dem Traum zu finden.

"Wissen Sie, wie das ist, wenn Sie träumen und Sie sagen sich, daß sie aufwachen sollen, weil Sie wissen, es ist nicht real?" fragte Tristan und Mulder nickte. "So war es zuerst. Ich habe es einfach aus meinem Kopf verdrängt und weitergeschlafen. Am Morgen hatte ich nur noch eine vage Erinnerung daran, wie bei vielen anderen Träumen."

"Wann haben Sie sie in Verbindung mit den Morden gebracht?" fragte Scully.

Tristan sah zu ihr herüber. "Wie ich schon sagte, ich hatte sie nicht die ganze Zeit. Ich hatte nicht einmal erkannt, daß jemand zur selben Zeit ermordet worden war. Ich habe sie einfach nur für Alpträume gehalten. Dann begann ich, denselben Traum wieder und wieder zu haben und das war, als ich die Leiche in dem Steinbruch fand."

"Und Sie haben noch nichts gesehen, was ein Zeichen gewesen sein könnte, wer es getan haben könnte?"

Er schüttelte den Kopf. "Was ich sehe, ist nicht wie ein Film. Es ist vielmehr eine Fotografie. Aber ich sehe sie nur, nachdem sie tot sind, wo sie sind."

Mulder setzte sich ein wenig nach vorn. "Mr. Hunt, würden Sie sich einer Hypnose unterziehen?"

Die braunen Augen starrten ihn mißtrauisch an. "Hypnose? Weswegen?"

"Manchmal kann Hypnose helfen, sich an Details zu erinnern, mit denen Ihr Bewußtsein Schwierigkeiten hat."

Tristan mochte nicht, wie es sich anhörte. Er wußte nicht sehr viel darüber, aber es hörte sich alles so an wie etwas, das sie nutzen würden, um ihn irgendwie zu belasten. Vielleicht brauchte er letztendlich doch diesen Anwalt. Verflucht, diese Leute würden ihm nicht einmal eine Chance geben. "Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich gesehen habe. Es wird nichts nützen."

Aber der Mann bestand darauf. "Sind Sie jemals hypnotisiert worden?"

"Nein."

"Nun, lassen Sie mich erklären, wie es funktioniert..."

"Ich brauche keine Erklärung von Ihnen. Es wird nichts nützen, es ist nur Psychoquatsch."

Die Frau beugte sich herüber und flüsterte dem schlaksigen Typen etwas ins Ohr. Leise erwiderte er etwas und sie nickte. Dann wandte sie sich wieder ihm zu. "Mr. Hunt, wären Sie bereit, mich einige medizinische Tests durchführen zu lassen?"

Tristan seufzte. Jesus Christus, was war das jetzt? "Welche Art von Tests?"

"Ein EEG, eine MRI. Ich möchte sehen, ob wir ungewöhnliche Hirnströme entdecken können oder etwas anderes, das erklären könnte, was mit Ihnen passiert."

Plötzlich lächelte Tristan, aber es war ein sarkastisches Lächeln. "Was? Sie glauben, ich habe einen Gehirntumor, der dies alles plötzlich verursacht? Ich habe diesen Film gesehen, es endete nicht gut. Nein, danke."

Sie sah ihn fest an, offensichtlich die Geduld verlierend. "Der Grundgedanke, Mr. Hunt, ist, daß wir trotz dessen, was Sie behaupten zu sehen, bis jetzt noch nichts haben, was uns zu der Person oder zu den Personen führen wird, die für diese Morde verantwortlich sind."

"Gut, ich denke, das war es dann, nicht wahr?" Tristan schob seinen Stuhl zurück und ging hinüber zur Tür. "Ich muß arbeiten gehen. Wir sind hier fertig."

Aber die Stimme des Mannes kam ihm nach. "Mr. Hunt, alles was wir wollen, ist zu helfen den Killer zu finden."

Tristan drehte sich bei der letzten Bemerkung um. "Ich glaube, was Sie wollen, ist mir zu helfen, meinen Weg ins Gefängnisleben zu finden ohne die Möglichkeit der Bewährung," sagte er ärgerlich. "Es tut mir leid, aber ich bin einfach noch nicht bereit, das Jungen-Spielzeug eines Gefangenen namens Bruno zu werden."

Der Mann schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf. Seltsamerweise sah Tristan, daß seine Gesichtsausdruck als Entgegnung auf seinen Ärger Sympathie zeigte und er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. "Ich würde gern noch weiter mit Ihnen reden," bat er ruhig, als er herankam. "Ich möchte Ihnen helfen, Mr. Hunt."

Für einen Moment starrte Tristan ihn einfach nur an, seine Augen ein wenig zusammengezogen. Gott, er hatte für diese Worte gebetet. Aber so sehr er sie auch glauben wollte, so fragte er sich auch, ob er zum Narren gehalten wurde. Er öffnete die Tür, dann zögerte er. Er brauchte Hilfe, das wußte er. Er sah zurück zu dem Mann, der geduldig wartete.

"Ich bin zwischen sechs und zwei in der Bar. In der Woche ist es nach Mitternacht ruhiger."

Und damit verließ er das Sheriffsbüro. Immer noch ein freier Mann. Für jetzt zumindest. Mulder und Scully sahen sich an, nachdem der Mann gegangen war.

"Das lief gut, meinst Du nicht, Scully?"

Scully schüttelte den Kopf, seufzte und stand auf. Sheriff Carmichael sah die beiden an. Er hatte wirklich auf ein bißchen mehr Fortschritt gehofft. "Was nun?" fragte er.

Scully antwortete zuerst. "Ich habe morgen früh ein Treffen im Büro des Untersuchungsrichters in Casper."

"Und ich werde mir morgen die Tatorte ansehen. Ich will sehen, ob ich Mr. Hunt dazu bringen kann, daß er mit mir geht," antwortete Mulder.

Der Sheriff schnaubte. "Viel Glück."

Mulder schüttelte den Kopf. "Er hat Angst, Sheriff. Er fürchtet sich vor dem, was er sieht. Er hat Angst, weil er ein Verdächtiger ist und er hat Angst, weil er weiß, daß sich jeder über ihn wundert. Er hat keinen Grund, uns zu vertrauen oder mit uns zusammen zu arbeiten. Aber wenn wir ihm diese Ängste nehmen können, hat er vielleicht mehr Antworten, als er glaubt."

Der Sheriff zuckte mit den Schultern, nicht gänzlich überzeugt. Mulder und Scully verabschiedeten sich und fuhren in ihr Motel. Sie bezogen ihre Zimmer, riefen im Büro an, checkten ihre E-Mails, wechselten die Kleidung und trafen sich zum Abendessen in einem Restaurant direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite, wo das Essen überraschend gut war. Nach dem Abendessen wollte Scully zurück ins Motel, weil sie am nächsten Tag eine lange Fahrt vor sich hatte. Mulder wollte noch einmal versuchen, mit Tristan Hunt zu reden. So brachte er Scully zum Motel zurück und ging dann weiter die Straße entlang, das kurze Stück bis zum Ort, wo Hunt arbeitete.

 

---

 

Mulder betrat die kleine Kneipe gegen elf. Es war unter der Woche und es war nicht sonderlich voll. Eine Musikbox spielte einen Countrysong, den Mulder nicht kannte. Nicht daß er eine Ahnung von Countrymusik gehabt hätte. Wenn ihm jemand eine Pistole an den Kopf setzen würde, hätte er möglicherweise den Namen Garth Brooks nennen können, aber das waren auch schon alle seine Kenntnisse in diesem Genre.

Mulder durchquerte den Raum und setzte sich ans Ende der langen Bar. Die Bardame, eine ziemlich hübsche Blondine, sah ihn und wurde deutlich munterer, als sie herüber kam. Mulder wußte, daß gelegentlich einige Frauen, abgesehen von einer bestimmten kleinen Rothaarigen, ihn tatsächlich attraktiv fanden und für einen Moment staunte er über die Möglichkeit, jemanden in Wind River, Wyoming flachzulegen. Es wäre nett, sagen zu können, er hätte die Dekade damit abgeschlossen, ein zweites Mal jemanden flachzulegen. Einmal alle fünf Jahre sollte für jemanden genug sein. Natürlich, bei seinem Glück war das womöglich ein Werwolf in der Schonzeit. Außerdem hatte er zu arbeiten. Verdammt. Tat er das nicht immer?

"Hey, Hübscher. Kann ich etwas für Dich tun?" Sie hatte eine singende Stimme.

"Ich muß mit Tristan Hunt sprechen."

"Er ist hinten, aber ich kann Dir sicher auch einen Drink machen, Honey."

Sie beugte sich ein wenig über die Bar, um ihm einen besseren Blick auf ihre ziemlich imposanten Brüste zu gewähren und Mulder erkannte, daß sogar in so einem Kuhkaff ein plastischer Chirurg möglicherweise ein gutes Leben führen könnte. Im Gegensatz zu vielen anderen seines Geschlechts war er niemals wirklich ein Anhänger großer Brüste gewesen. Tatsächlich fand er in den Videos, die er sammelte, die mächtigen Silikonpakete oder was immer zur Hölle sie jetzt benutzten, eher grob als sinnlich. Er fühlte sich sogar ein wenig schuldig, daß seine männlichen Kollegen eine Welt geschaffen hatten, in der Frauen mit geringer Selbstachtung in die Hände von Chirurgen getrieben wurden, um das zu erlangen, was man als Ideal bezeichnete. Aber dennoch mußte er zugeben, das diese hier ein eindrucksvolles Paar waren.

"Ich bin June. Und wenn Du mir nur einfach sagst, was du magst, werde ich es für Dich tun." Sie schnurrte geradezu. "Vielleicht bist du ein bißchen hungrig, wir haben sämtliche Knabbereien im Angebot." Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, woran sie gern knabbern würde und Mulder war sich ziemlich sicher, daß er sie jederzeit haben konnte.

"Oh, ich habe gerade zu Abend gegessen, danke."

"Nun, ich bin mir sicher, wir haben etwas, das du möchtest."

In dem Moment kam Tristan aus dem hinteren Raum. Als er den FBI-Mann sah, hielt er vor Überraschung kurz an, bevor er sich weiter näherte. Sein erster Gedanke war, daß er tatsächlich nicht erwartet hatte, ihn hier zu sehen.

Und oh Gott, er sieht verdammt gut aus, war sein zweiter.

Er bemerkte, daß der Mann sich umgezogen hatte und nun ein einfaches dunkelgraues T-Shirt und Jeans trug. Er sah viel jünger und weniger bedrohlich in diesem Aufzug aus. Und heiß. Sehr, sehr heiß. Hübsche Arme. Lange Beine. Er konnte June schwer böse sein, weil sie so wunderbar trällerte. Diesen Typen einfach nur anzusehen, tat weh. Aber trotzdem wußte er, daß es ein unnützes Gefühl war. Sein Homosexuellen-Radar täuschte ihn nie.

Mist. Warum waren all die Guten nicht homosexuell?

Natürlich, warum mußte er auch homosexuell sein in einem Staat, wo alles, was einer Homosexuellen-Gemeinde vage ähnelte, in Casper war, beinahe neunzig Meilen entfernt? Und man konnte es kaum eine Gemeinde nennen. Im Grunde genommen war eine Vier-Stunden-Rundreise für eine Nummer, nun, eben Mist. Und warum kam niemals ein Homosexueller, der so heiß aussah, in diese verdammte Bar?

Tristans Gedanken lösten sich aus seinem Selbstmitleid und er fragte sich, wie weit er diesem Typen trauen konnte. Sein Leben war außer Kontrolle geraten und er konnte nichts dagegen tun. Er hatte gedacht, daß es helfen würde, wenn er über seine Träume sprach und daß sie dann verschwinden würden. Aber das war nicht passiert, es war nur noch schlimmer geworden. Und nun wollte er nur noch, daß es aufhörte. Er brauchte jemanden, der ihm half, daß es aufhörte. Und dieser Mann sagte, daß er ihm helfen wollte. Aber konnte er ihm sein Leben anvertrauen?

Tristan trat hinter die Bardame und klopfte ihr zärtlich auf den Po. "June, Honey, würdest du bitte nicht deine Hupen auf die Bar legen? Ich habe gerade erst den Geifer vom letzten Kerl weggewischt."

June sah ihn an und lächelte, überhaupt nicht beleidigt. "Ich versuche nur, die Gäste zu bedienen, Tris."

"Das ist kein Gast. Er ist vom FBI."

Mulder beobachtet, wie sich Junes Gesicht veränderte und ihre Freundlichkeit verschwand. "Möchtest du, daß ich Robbie rufe, damit er ihn hinauswirft?" Sie drehte sich um und winkte einem Mann, der auf einem Hocker am entgegengesetzten Ende der Bar saß.

Mulder folgte ihrem Blick zu einem ziemlich unfreundlich aussehenden Mann, der dreißig Zentimeter größer und hundertzwanzig Zentimeter umfangreicher als er selbst zu sein schien. Er starrte in ihre Richtung und kam schwerfällig herüber, immer größer werdend, je näher er heran kam. "Ich bin der Manager, gibt es ein Problem?" fragte er mit der am wenigsten gastfreundlichen Stimme, die Mulder jemals gehört hatte. Mulder sah zu dem Koloß auf, der ihn überragte. Mist, würde er nun in einer Arbeiterkneipe einen Tritt in den Hintern bekommen? Scully würde sich totlachen.

Aber Tristan unterbrach ihn. "Nein, bleib ganz ruhig, Robbie. Ich bin sicher, er ist nur auf einen Drink hier." Tristan sah Mulder zum ersten Mal direkt an und Mulder konnte sehen, daß der Junge tatsächlich amüsiert war. Verdammter kleiner Bastard. Robbie nickte und kehrte zurück zu seinem Platz auf dem Barhocker. Tristan wandte sich ihm wieder zu. "Also, sind Sie auf einen Drink hier oder wollen Sie noch ein bißchen in meinem Hirn herumbohren?"

"Wir können mit einem Bier beginnen."

"Draft?"

"Haben Sie ein Tecate?" Tristan nickte und ging, um das Bier zu holen. June fixierte ihn mit einem harten Blick.

"Was?" fragte Mulder verärgert.

Sie nickte zu Tristan. "Dieser Junge hat nichts getan. Er hat keinen dieser Leute umgebracht."

"Das kann sehr gut die Wahrheit sein. Tatsächlich denke ich, daß es so ist."

June sah ihn überrascht an und etwas von ihrem Ärger verflog. Sie beugte sich nach vorn. "Was werden Sie nun tun?"

"Der einzige Weg, den ich kenne, um zu helfen, ist die Person zu finden, die die Morde begangen hat. Und im Moment scheint Mr. Hunt der einzige zu sein, der uns dabei helfen kann."

June seufzte über die verdrehte Logik. "Eine Menge Leute in dieser Stadt sind richtige Scheißtypen gewesen. Tris hat niemals etwas getan, um das zu verdienen. Sein persönliches Leben geht nur ihn etwas an." Sie lehnte sich ein bißchen zu Mulder hinüber und flüsterte. "Ich meine, auch wenn er in dieser Richtung sonderbar ist... weißt du... es macht ihn nicht zum Mörder."

Mulder nickte. Er verstand, daß sie ihr Herz am rechten Fleck hatte, auch wenn ihre Formulierung etwas daneben war. In dem Moment kehrte Tristan mit dem Bier zurück. June tätschelte ihn zärtlich und ging hinüber, um mit dem großen Robbie zu reden, der bei ihrer Rückkehr beträchtlich zu strahlen begann , als sie ihn verwirrend anlächelte. Mulder seufzte. Oh sicher, sogar Holzfäller mit drei Zähnen konnten es besser als er. Tristan stellte das Bier vor ihm auf den Tresen. "Drei Dollar."

Er langte in seine Tasche und bezahlte den Mann. "Sie haben eine Verbündete," sagte Mulder zu ihm und nickte in Junes Richtung, während er einen Schluck von seinem Bier nahm.

Er sah Tristan zum ersten Mal aufrichtig lächeln, als er seinem Blick folgte. "June? Ja. Anders als die meisten Menschen in dieser Stadt verurteilt sie mich nicht wegen der Lüge und sie verurteilt mich nicht wegen der Wahrheit."

"Die Wahrheit?"

Das Lächeln wurde nun verächtlich. "Haben Sie schon von der Stadt mit nur einem Pferd gehört? Nun, das hier ist die Stadt mit nur einem Homosexuellen und Sie sehen ihn gerade an."

Mulder wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Tatsache war, daß das ganze Thema ihm unbehaglich war. Er wußte, was es bedeutete, der einzige eigenartige Typ in einer kleinen Stadt zu sein. Aber natürlich war das trotzdem nicht dasselbe. Die Menschen würden an ihm keine Straftat aus Haß verüben, nur weil er glaubte, seine Schwester wäre von Außerirdischen entführt worden. Niemand würde ihn schlagen und herausschleppen, ihn an einen Zaun fesseln und langsam erfrieren lassen, nur weil er an Regierungsverschwörungen glaubte und sie nicht. Aber trotzdem, egal ob Ignoranz oder andere Umstände die Isolation verursachten, das Ergebnis war immer noch die Isolation.

Also nahm er, anstatt zu antworten, einen weiteren Schluck von dem gekühlten Bier. Gott, es schmeckte aus irgendeinem Grunde besonders gut. Es war sehr, sehr lange her, daß er einfach nur in einer Bar, unter normalen Leuten, gesessen und etwas getrunken hatte.

"Kann ich Sie etwas fragen?" unterbrach Tristans Stimme seine Gedanken.

Mulder nickte, als er sein Bier absetzte und sich seine Lippen mit seinem Daumen abwischte, ohne zu bemerken, daß Tristan diese Bewegung aufmerksam beobachtete. "Was?"

"Sind Sie Mulder oder Scully?"

Tristan beobachtete, wie der gutaussehende Mann einen Moment verwirrt dreinschaute, bevor er begriff. Nur ein kleiner Schimmer von Humor stahl sich in seine Augen. Es sah hübsch an ihm aus. "Ich bin Mulder. Fox Mulder. Meine Partnerin ist Dana Scully."

"Fox?"

"Mulder. Einfach Mulder."

"In Ordnung, gut. Mulder. Also, worüber möchten Sie sprechen?"

Mulder nahm einen weiteren Schluck von seinem Bier. Tristans Blick glitt über seine Kehle, als er seinen Kopf nach hinten beugte und schluckte. Er schluckte auch schwer. All' die Guten sind nicht homosexuell, erinnerte er sich selbst.

"Mr. Hunt, ich glaube nicht, daß ich wirklich eine Chance hatte, vollständig zu erklären, was meine Partnerin und ich tun. Wir sind Teil des FBI, aber wir sind eine Spezialeinheit, die auf die Untersuchung unerklärlicher Phänomene spezialisiert ist."

"Welcher Art?"

"Paranormale Aktivitäten, Poltergeistphänomene, Sichtung von Außerirdischen..."

Tristan unterbrach ihn. "Wenn Sie sagen Sichtung von Außerirdischen, meinen Sie nicht illegale Einwanderer, oder?"

Der Agent schüttelte den Kopf und Tristans Moment der Hoffnung starb in seiner Brust und brachte ein Gefühl von Enttäuschung mit sich. Dieser Typ war nur hier, um ihm zu beweisen, daß er ein Verrückter war. Er war auf seine Augen und seine sanfte Stimme von vorhin hereingefallen. Mist.

Mulder sah die Veränderung in den Augen des jungen Mannes. "Mr. Hunt, ich weiß, was Sie jetzt denken. Ich weiß, daß Sie glauben, ich will beweisen, daß Sie unrecht haben. Aber tatsächlich bin ich hier, um zu beweisen, daß Sie recht haben. Ich glaube, daß Sie gesehen haben, was Sie behaupten."

"Warum sollten Sie mir glauben?"

"Weil es das ist, was ich tue."

"Ihre Partnerin glaubt mir nicht. Das weiß ich, wenn ich sie nur ansehe."

"Meine Partnerin braucht immer ein bißchen stärkere Beweise für alles. Aber das ist gut für Sie, Mr. Hunt, weil alle Gerichte Wert auf knallharte Beweise legen. Sie ist eine Expertin auf dem Gebiet der Forensik und morgen wird sie die verfügbaren Leichen noch einmal untersuchen und die Beweise in das Büro des Untersuchungsrichters von Natrona County bringen. Und ich möchte noch einmal ein paar von den Plätzen untersuchen, an denen die Leichen gefunden wurden. Ich hätte gern, daß Sie mit mir kommen."

"Ich glaube nicht, daß ich das tun möchte."

"Es wäre in Ihrem ureigensten Interesse, hier zu kooperieren, Mr. Hunt..."

"Oh, ich habe es versucht," antwortete Tristan sarkastisch. "Ich war der kleine pflichtbewußte Staatsbürger. Es hat mich zu einem Mordverdächtigen gemacht. Ich wurde eingesperrt und beobachtet und verfolgt. Es hat dazu geführt, daß mein Privatleben in der Zeitung breitgetreten wurde. Man drang in mein Heim ein und alles, was mir gehört, all meine Bücher und Briefe und Fotos, wurde durchwühlt und von Fremden untersucht, die darauf erpicht waren, zu beweisen, daß ich etwas getan habe, was ich nicht getan habe. Ich habe mit Polizisten gesprochen und Anwälten und Ärzten und nun mit Ihnen. Ich habe einfach genug kooperiert, danke."

Mulder übte weiter Druck aus. "Nun, dann muß ich Ihnen nicht erzählen, daß Sheriff Carmichael darauf brennt, Ihnen diese Morde anzuhängen. Und Sie haben recht, er glaubt nicht eine Sekunde daran, daß Sie nicht irgendwie damit zu tun haben. Berücksichtigt man, daß meine Partnerin und ich nicht unbedingt die Art von Hilfe sind, die er erwartet hat, hat er im Moment die Nase ziemlich voll. Nun ich weiß, wie Sie sich fühlen..."

Tristan legte seine Hände auf den Tresen, seine Stimme war leise und ärgerlich. "Sie haben nicht die leiseste Ahnung davon, wie ich mich fühle. In dieser Stadt sind Homosexuelle die komischen Freunde in den TV Sitcoms und das ist gut. Aber sie kommen besser nicht zur Tür herein. Sie leben besser nicht offen zusammen oder berühren sich in der Öffentlichkeit. Sie arbeiten besser nicht dort, wo es jedermann weiß. Homosexuelle sind in dieser Stadt nicht willkommen, Agent Mulder. Der einzige Grund, warum ich diesen Job hier behalten kann, ist der, daß die meisten Gäste Trucker auf der Durchreise sind. Sie wissen es nicht."

Mulders Erwiderung war ruhig. "Ich wollte damit nicht andeuten, daß ich verstehe, wie es ist, in einer Kleinstadt homosexuell zu sein. Das tue ich ganz offensichtlich nicht. Das ist es überhaupt nicht, was ich meinte."

Tristan sah ihn gefühllos an, bevor er sich abwandte. Einen Moment mußte er über die Dinge nachdenken, also entfernte er sich von dem FBI-Agenten. Er ging hinüber zum Kühlschrank und nahm ein weiteres Tecate-Bier heraus. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit wollte er glauben, daß dieser Mann ihm nicht schaden wollte und er war sich nicht sicher warum. Vielleicht war er jetzt einfach so kaputt, daß er bereit war, nach allem zu greifen, das wie eine ausgestreckte Hand aussah. Er ging zurück zu Mulder, stellte das Bier vor ihm hin und nahm die leere Flasche fort. "Das geht aufs Haus."

Mulder nickte dankbar und nahm einen Schluck.

Tristan legte seine Hände wieder auf den Tresen. "Sehen Sie, die meiste Zeit meines Lebens in dieser Stadt war ich einfach Tristan und ich habe hart daran gearbeitet, daß es so ist. Ich war wirklich sehr zufrieden damit, meinen eigenen kleinen Bereich zu haben, in dem ich meinen Lebensstil leben konnte, abseits und in der Dunkelheit. Aber nun bin ich dieser homosexuelle Kellner, der möglicherweise auch ein Mörder ist. Ich kann nicht in ein Lebensmittelgeschäft gehen, ein Video ausleihen oder in einem Restaurant essen, ohne daß man mich anstarrt, über mich flüstert und mit Fingern auf mich zeigt. Menschen, die ich mein ganzes Leben lang kenne, nehmen ihre Kinder zur Seite, wenn ich zu dicht vorbeikomme. Und selbstverständlich haben einige unserer kreativeren Mitmenschen das Bedürfnis, mir Haßpost und Todesdrohungen zu schicken. Ich habe bereits eine hübsche kleine Sammlung davon."

Mulder sah den beunruhigten jungen Mann an. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mr. Hunt. Es tut mir leid. Es tut mir leid, daß das mit Ihnen geschieht. Aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich kann es nicht allein tun und ebensowenig können Sie es." Mulder hielt inne, dann versuchte er es erneut. "Wollen wir uns morgen am Büro des Sheriffs treffen?"

Und gerade als er sich fragte, ob er den Fehler seines Lebens begangen hatte, nickte Tristan.

Rezensionen