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Zerstörungen

von Jill Formella

Kapitel 4

Scully war eine Art medizinisches Wunder. Trotz der schweren Gehirnverletzung hatte sie sich in kürzester Zeit beeindruckend gut erholt und das Bewundernswerteste war: Sie hatte keine bemerkenswerten körperlichen Schäden davongetragen und war in einer, den Umständen entsprechenden, phantastischen physischen Verfassung. Ihr Körper war voll funktionsfähig und schon bald konnte sie sogar wieder aufstehen.

Doch Minette war geschockt. Die Frau, die er über alles liebte und mit der er glücklich gewesen war, kannte ihn nicht mehr. Für sie war er ein fremder Mann. Aber das, was ihn am meisten frustrierte, war, daß sie sich dafür um so besser an Mulder erinnerte.

Minette stand am Fenster und sah hinaus. Hinter ihm saß Mulder an Scullys Bett und redete mit ihr. Sie schien abwesend zu sein, wenn er selbst mit ihr redete, aber das kam wohl daher, daß sie sich noch nicht an ihn erinnerte. Wenn er genau darüber nachdachte, konnte er das eigentlich auch verstehen, denn wenn er sich in ihrer Lage befände, würde er genauso reagieren. Sie würde sich an ihn erinnern, sie brauchte halt einfach nur Zeit. Aber warum erinnerte sie sich verdammt noch mal an Mulder. Das verstand er wiederum überhaupt nicht.

Da hörte er plötzlich ihr Lachen. Sie war vor einem Tag aus dem Koma erwacht und das war das erste Mal, daß sie wieder lachte. Und natürlich war Mulder der Grund dafür. Mulder war sowieso für alles der Grund. Er schien sie regelrecht zu heilen. Das merkwürdige an der Sache war allerdings, daß die beiden eigentlich eine auf Respekt ruhende, fast distanzierte Beziehung führten. Das hatte Scully ihm selbst gesagt. Wie konnte dieses Verhältnis plötzlich so innig werden? Scully war irgendwie verändert, wenn Mulder bei ihr war und dies war nicht einfach für ihn. Ganz und gar nicht einfach. Schwierige Lagen meisterte er normalerweise ziemlich leicht. Nichts konnte ihn so schnell aus der Ruhe bringen. Doch langsam wurde er ungeduldig.

Noch einmal ermahnte er sich selbst, geduldig zu sein. Sie würde bald wieder zu hause sein und er hatte sich vorgenommen, so viel wie möglich mit ihr zu unternehmen. Irgend etwas mußte er doch tun können, um ihr Gedächtnis zurück zu holen. Seit ihrem Aufwachen drehten sich seine Gedanken nur noch um diese Sache. Es machte ihn wahnsinnig.

"Ethan, würden Sie uns bitte allein lassen." bat Scully plötzlich. Minette drehte sich ruckartig um und starrte sie an. Das traf ihn wie ein Schlag. Der Tonfall, das Siezen, die eigentliche Bitte. Sie wollte mit Mulder allein sein und schickte ihn aus dem Zimmer. Er hatte sich die ganze Zeit über wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt, doch dies war eindeutig.

"Ja natürlich." sagte er schnell und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Draußen setzte er sich auf einen Stuhl und stützte die Ellbogen auf die Knie. Wenn dieser Kerl seine Beziehung mit Scully kaputt machte, würde er... . Er mußte erst einmal einen klaren Gedanken fassen.

"Mulder, wer ist dieser Mann überhaupt?" fragte Scully schließlich, als Minette die Tür geschlossen hatte. "Er kommt mir bekannt vor, aber ich kann ihn irgendwie nicht einordnen."

Mulder sah sie überrascht an. Sie hatte sich, seit dem sie erwacht war, ihm gegenüber nie über Minette geäußert und auch nie vernünftig mit ihm gesprochen. Das wunderte ihn schon. Aber so etwas... In irgend einer Weise amüsierte ihn das sogar. "Bitte Scully." sagte er lächelnd. "Was ist denn das für eine Frage?"

Doch als er Scullys Gesichtsausdruck sah, wurde ihm bewußt, daß diese Frage durchaus ernst gemeint war. "So weit ich weiß sind sie mit diesem Mann zusammen." antwortete er schließlich mit einem immer noch ironischen Unterton. Er konnte einfach nicht glauben, daß sie sich nicht an Minette erinnerte. Das war geradezu unmöglich.

"Wie bitte? Aber das kann nicht... ." Sie schloß für einen Moment die Augen.

"Seit wann denn?" fragte sie schließlich.

Mulder lachte kurz. Er wußte immer noch nicht, mit was er hier eigentlich konfrontiert wurde. Es kam ihm alles reichlich merkwürdig vor.

"Ich habe keine Ahnung, vielleicht vier oder fünf Wochen, vielleicht auch länger. Ich weiß nicht."

"Bitte erzählen sie mir alles, alles was sie über ihn und mich wissen." forderte Scully.

"Kommen sie Scully." protestierte Mulder endgültig. "Sie können mir nicht erzählen, daß sie das alles nicht selbst wissen. Schluß jetzt." Er selbst war durchaus jemand, der andere mit seinem Verhalten überraschen konnte. Manchmal war er geradezu spooky, wie Außenstehende es nannten. Doch was Scully sich ihm gegenüber leistete, war mehr als spooky. Er machte Anstalten sich vom Bett zu erheben, doch Scully faste nach seinem Arm und sah ihn energisch an. "Ich kann mir das nicht erklären, aber es scheint, als ob sie im Moment mehr über mich wissen als ich selbst. Ich weiß nicht, ob sich das nur auf diese Sache beschränkt. Das werden wir sehen." Sie machte eine Pause. "Sie sind der einzige, der mir jetzt helfen kann und auch wenn ich mich nicht an Ethan Minette erinnere, ich kenne sie und ich weiß, daß das wichtig ist. Für uns beide."

Sie sahen sich einen Moment lang an, bevor Mulder sich wieder auf die Bettkannte setzte.

"Na ja, sein Name ist Ethan Minette. Und..." Mulder hielt einen Moment lang inne und überlegte, was genau er eigentlich über diesen Mann wußte. Wenn er sich das recht überlegte, war es eigentlich... "Ich weiß es nicht. Wirklich. Ich kenne diesen Mann nicht. Ich habe ihn das erste Mal gesehen, als ich ins Krankenhaus gekommen bin. Alles, was ich von ihm weiß, ist, daß er einer unserer Agenten ist."

"Habe ich ihnen denn nichts von ihm erzählt?" fragte Scully. Mulder sah sie an. Dann starrte er auf den Boden. "Nein, das haben sie nicht. Aber..." Wieder machte er eine Pause. "Sie waren so verändert vor ihrem Unfall." Genau das war der Fall gewesen. Er arbeitete nun schon fast sechs Jahren mit Scully zusammen und er wußte genau, was für sie ein normales oder unnormales Verhalten war. Und Scully war verändert gewesen, das war für ihn eindeutig gewesen.

Scully senkte den Blick.

"Scully, ich glaube sie beide waren sehr glücklich. Sie müssen einfach versuchen sich daran zu erinnern."

Sie hörte ihm gebannt zu. "Und was ist mit uns?" fragte sie vorsichtig.

"Uns?" hakte Mulder nach er und sein Herz begann zu rasen. "Wie soll ich das verstehen?"

"Unsere....Beziehung. Wie ist die?"

"Oh. Nun ja, wir sind Partner und arbeiten beim FBI."

"Ja, ich weiß." sagte sie lächelnd.

Mulder legte den Kopf schief und sah sie fragend an. "Dann weiß ich nicht, worauf sie hinaus wollen."

Scully öffnete den Mund um etwas zu sagen, doch dann schloß sie ihn wieder und schüttelte den Kopf. "Ich..." begann sie.

"Ist schon in Ordnung." sagte Mulder schnell und schaute auf die Uhr. "Ich muß jetzt leider gehen. Sprechen sie mit Minette. Es renkt sich schon alles wieder ein, keine Sorge." Er drückte ihre Hand, erhob sich und begab sich in Richtung Tür. Doch dann drehte er sich noch einmal um. "Und Scully!" sagte er und hob die Hand. "Ich freue mich schon, wenn sie wiederkommen, zum FBI." Er lächelte ihr noch einmal zu und ging aus dem Zimmer.

Gegenüber sah Mulder Minette auf einem Stuhl sitzen.

"Wir sehen uns." sagte er und wollte sich gerade in Bewegung setzen, als Minette aufsprang, ihn am Kragen packte und gegen die Wand schleuderte. "Ich sage ihnen eines, Mulder!" zischte er. "Wenn sie sie mir wegnehmen, dann gibt es großen Ärger!" Langsam lies er Mulder los. Er kochte vor Wut.

"Schon gut." sagte Mulder gepreßt und versuchte ihn zu beruhigen. "Ich habe nicht die Absicht ihnen ihre Freundin wegzunehmen. Nur...sie ist meine Partnerin und in gewissem Sinne ist sie...wie eine Freundin für mich, Minette, und ich mache mir Sorgen um sie. Vielleicht können sie das ja verstehen."

Minette blitzte ihn an und verschwand schließlich in Scullys Zimmer.

Mulder starrte ein paar Sekunden vor sich hin und dachte über die Worte nach, die er soeben gesagt hatte. Dann setzte er sich auf den Stuhl, auf dem Minette vorher gesessen hatte, vergrub das Gesicht in seinen Händen und begann zu weinen. Er wollte es nicht, aber er konnte nicht anders. Seine Gefühle spielten verrückt. Sie war schon lange mehr für ihn, als nur die gute Freundin. Seit dem Moment, in dem ihm klar geworden war, daß er weit mehr für Scully empfand, als bloß kollegiale Empfindungen, hatte er diese unterdrückt und nicht länger darüber nachdenken wollen. Und jetzt kam dies alles ganz plötzlich in ihm hoch, wie das kochende Wasser eines Geysirs. Er erinnerte sich an all die Dinge, die zwischen ihnen geschehen waren. Ihre Eifersucht, die er manchmal gespürt hatte, ihre Fürsorge. Und er, er hatte ihr in dieser Hinsicht keinerlei Beachtung geschenkt. Er hatte es nicht begriffen.

Scully stand am Fenster als Minette das Zimmer betrat und starrte hinaus. Minette wußte nicht, ob sie ihn überhaupt bemerkt hatte. Er schloß die Tür und ging ein paar Schritte auf sie zu.

"Dana?" Eigentlich wußte er gar nicht, was er jetzt sagen sollte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er gleich nach hause gefahren wäre. Wahrscheinlich fühlte sie sich bedrängt. Sie rührte sich nicht und starrte weiterhin gedankenverloren aus dem Fenster. Dieser Mann war also ihr Freund. Aber warum konnte sie sich nicht an ihn erinnern? Sie mußte ihn doch geliebt haben. Warum zum Teufel dann keine Erinnerung?

Draußen hörte Mulder plötzlich Schritte im Hauptgang, der genau neben ihm auf den Quergang führte, auf dem Scullys Zimmer lag. Die Person blieb stehen und fragte eine Krankenschwester nach Scullys Zimmer. Es war der stellvertretende Direktor Skinner, Mulders und Scullys direkter Vorgesetzter, das erkannte Mulder sofort.

Er rieb sich hastig über die Augen und hoffte, daß Skinner nichts von seinem Gefühlsausbruch bemerken würde.

Der große stattliche Mann mit Halbglatze und einer einfachen Drahtgestellbrille bog um die Ecke.

"Guten Tag Agent Mulder." sagte er beinahe selbstverständlich, als ob er Mulder bereits hier erwartet hätte. "Wie geht es ihr?"

"Schon viel besser. Sie darf bereits aufstehen und ihre Verletzungen scheinen schnell zu heilen." berichtete Mulder.

"Hat sie Besuch?" fragte Skinner und deutete auf ihre Zimmertür.

"Ja, Agent Minette ist bei ihr." antwortete Mulder. Skinner nahm neben ihm Platz und betrachtete ihn genauer. Natürlich hatte er Mulders gerötete Augen bemerkt, aber er wußte, daß er nicht zu voreilige Schlüsse ziehen durfte und er wußte auch, daß es besser war, Mulder nicht darauf an zu sprechen.

"Ich gehe dann besser. Ich komme dich morgen wieder besuchen, ja?" sagte Minette.

Scully nickte teilnahmslos und er drehte sich um.

Er war, trotz ihrer Reaktionen an diesem Tag, immer noch davon überzeugt, daß alles so werden würde wie früher. Es brauchte nur seine Zeit.

Minette verließ das Zimmer und sah die beiden FBI-Beamten. "Guten Tag Sir." begrüßte er Skinner im Vorbeigehen und warf Mulder einen vielsagenden Blick zu. Plötzlich blieb er stehen und drehte sich um. "Ach Mr. Skinner, ich wollte..."

Skinner stand auf. "Entschuldigen sie," unterbrach er ihn, "aber ich wollte nur kurz bei Agent Scully vorbeisehen. Ich habe leider nicht viel Zeit." Er wandte sich zu Mulder um. "Kommen sie mit?"

Mulder sah auf. "Nein, nein, gehen sie ruhig." Dann sah er Minette hinterher, der mit schnellen Schritten den Gang hinunter eilte.

Skinner musterte Mulder. Er sah wirklich nicht gut aus. "Sie sollten ihren Urlaub so schnell wie möglich fortsetzen, Mulder. Ich möchte sie in den nächsten fünf Wochen nicht in ihrem Büro sehen, verstanden." Mulder nickte ohne ihn an zu sehen, schob sich einen Sonnenblumenkern in den Mund und starrte weiterhin auf den Boden.

"Mulder?" fragte Skinner. "Sind sie in Ordnung?" Was war nur mit seinem Agenten los?

"Mir geht es gut. Gehen sie lieber rein." antwortete Mulder ruhig und kaute auf seinem Sonnenblumenkern.

"Das können sie mir nicht erzählen. Haben sie ein Problem?" hakte Skinner nach.

Plötzlich sprang Mulder auf und sah Skinner wütend an. "Nein verdammt! Und auch wenn ich eines hätte, würde ich damit ganz bestimmt alleine fertig!" Zornig griff er nach seinem Mantel und eilte den Gang hinunter.

Skinner sah ihm nach und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Mit den meisten seiner Probleme kam Mulder in der Tat allein zurecht, und er hoffte, daß es diesmal keines war, bei denen er Hilfe brauchte. Denn er hatte das Gefühl, daß Mulder sich hierbei nicht helfen lassen würde. Wahrscheinlich konnte ihm dieses Mal aber auch niemand helfen. Es war allein seine Sache. Seine, und Agent Scullys.

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