World of X

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Zerstörungen

von Jill Formella

Kapitel 1

Ethan Minette saß im Ahmanson Theater in Annapolis, Maryland und langweilte sich zu Tode. Es gab nichts, was er mehr haßte als Theater und besonders "The Moonlightdancer", das hatte er soeben beschlossen. Dieses Stück handelte von einem Mädchen, das sich in einen Jungen verliebt, der von allen als 'nicht normal' eingestuft wird, weil er nur das Tanzen im Kopf hat, das hatte Minette gerade noch mitbekommen. Seine Gedanken kreisten um ganz andere Dinge. Es war sein neuster Fall, der ihm Sorgen bereitete. Er kam einfach nicht weiter.

Es ging dabei um einen psychisch gestörten Täter, der Menschen, vor allem Frauen, auf eine drastisch perverse Art zerstückelte. Doch bis jetzt war Minette noch nicht auf sein Motiv gekommen. Er mußte einfach tatenlos mit ansehen, wie immer neue Leichen gefunden wurden, immer wieder auf dieselbe Art und Weise massakriert.

Vor dem Problem des Nichtwissens stand Minette als Agent des Federal Bureau of Investigation zwar nicht zum ersten Mal, doch in diesem Fall war es wirklich besonders extrem. Es gab keine Indizien, geschweige denn Verdächtige. Kurz gesagt, er bewegte sich die ganze Zeit über im Kreis.

Andererseits regte die aktuelle Umgebung auch nicht gerade zum erfolgreichen Nachdenken an. Der einzige, zugegebener Maßen auch bezaubernde, Grund für seine Anwesenheit in diesem Kasten, war seine zauberhafte Begleitung, die FBI-Agentin Dana Scully. Sie war die erste Frau, mit der er seit etwa 2 1/2 Jahren wieder engeren Kontakt hatte - sehr engen. Jedenfalls war das von seiner Seite aus so. Sie gingen nun seit fast drei Wochen miteinander aus, doch Minette wußte, daß da schon jetzt viel mehr war, als normalerweise zwischen einem Paar nach drei Wochen vorhanden sein konnte. Diese Frau bezauberte ihn, mit ihren strahlend blauen Augen und dem niedlichen Zucken um die Mundwinkel, wenn sie versuchte, sich ein Lächeln zu verkneifen.

Minette fuhr sich mit der Hand durch sein haselnußbraunes Haar und drehte den Kopf, um sie anzusehen. Das Licht der bunten Theaterscheinwerfer wurde von ihrer hellen Haut über den hohen Wangenknochen zurückgeworfen und ihre Augen blickten starr geradeaus.

Für Minette war es klar. Er liebte sie. Auch wenn sie erst seit kurzer Zeit miteinander ausgingen, kannte er sie, seit sie in Washington war. Sie war ihm schon aufgefallen, als er sie zum allerersten mal gesehen hatte.

Mit wehenden, zu diesem Zeitpunkt noch längeren Haaren, war sie an ihm vorbei gerauscht und der Hauch ihres Parfums, der sie begleitet hatte, hatte seine Aufmerksamkeit erregt.

Später hatte er erfahren, daß Scully von Scott Blevins, dem damaligen Section Chief, den X-Akten und gleichzeitig Fox Mulder als Partnerin zugeteilt worden war. Zuvor hatte sie als medizinische Ausbilderin im FBI-Ausbildungszentrum in Quantico, Virginia gearbeitet.

Ihr Partner Fox Mulder, beim FBI auch 'Spooky Mulder' genannt, war ein merkwürdiger Mann, der nicht gerade dafür bekannt war, sich an Regeln und Ordnungen zu halten. Sein Ruf beim Bureau war dementsprechend schlecht. Scullys Aufgabe war es gewesen, von seinen Ermittlungen zu berichten und da sie eine ausgesprochen skeptische Person war, hatte man ihr diese Aufgabe wegen ihrer hervorragenden Voraussetzungen zugewiesen. Allerdings hatte sie sich im Laufe der Jahre auf Mulders Seite geschlagen, was den Chefs des FBI nicht so gut gefiel.

Auch Minette war davon nicht sehr begeistert, denn in gewisser Weise stand Mulder damit zwischen ihm und Scully.

Plötzlich durchfuhren stechende Schmerzen seinen Schädel und er rieb sich mit den Fingern beider Hände die Schläfen. Das war die einzige Sache, die ihre Beziehung wirklich zerstören konnte - wahrscheinlich würde sie es auch tun. Seine Krankheit, der Krebs. Er wucherte bereits seit einem Jahr in seinem Kopf, doch er wußte es erst seit ein paar Wochen. Und er war, abgesehen von den Ärzten, auch der einzige, der davon wußte. Er wollte es Scully nicht sagen - nicht jetzt. Es würde alles kaputt machen und es gäbe noch jemanden, der ihn bemitleidete, so wie die Ärzte.

Er verabscheute Ärzte. Klugscheißer, die glaubten sie wären Gott und die sich einen Dreck für ihre Patienten interessierten. Das einzige, was zählte war Geld. So viel Geld verdienen wie möglich. Durch unnötige Operationen und Behandlungen.

Was hätte er dafür gegeben, wenn seine Krankheit durch eine Operation zu heilen wäre. Alles. Doch es ging nicht, "unmöglich, durch die kritische Lage des Tumors".

Im Geist betrachtete er die Röntgenbilder, die er mittlerweile bereits im Traum vor sich sah und verzog angewidert das Gesicht. In der linken Hälfte seines Kopfes war immer wieder deutlich ein großer weißer Fleck zu erkennen, und bei jeder neuen Aufnahme wurde er größer und deutlicher. Kritische Lage. In welchem Teil des Kopfes sollte so ein Ding denn stecken, damit man ihm eine Chance gab?

Plötzlich riß tosender Applaus ihn aus seinen Gedanken. Die Vorstellung war vorbei. Minette atmete erleichtert durch und fiel in den Beifall ein. Scully sah ihn strahlend an und er lächelte zurück. Er war froh, daß er endlich aus diesem Gebäude heraus kam. Diese Atmosphäre machte ihn wahnsinnig und er konnte förmlich spüren, wie sein Tumor in dieser Umgebung einen Wachstumsschub nach dem anderen bekam. Doch er versuchte seinen Unbehagen zu überspielen. Und das gelang ihm auch, bei allen, nur bei Scully nicht. Sie hatte eine ihm unverständlich gute Menschenkenntnis und als sie ihn ansah, wußte sie sofort, daß die Vorstellung ihn gelangweilt hatte. Er überlegte, wie Mulder das nur aushalten konnte, wenn eine Frau einen die ganze Zeit ohne Mühe durchschaute.

Scullys Gesicht wurde schlagartig ernst. "Es hat dir nicht gefallen!" bemerkte sie.

"Doch, natürlich. Wie kommst du darauf?" Er versuchte ein überzeugendes Gesicht zu machen. Doch für sie reichte seine Überzeugungskraft nicht aus.

Als sie die Western Avenue herunter gingen, steckten sie immer noch in der Diskussion über das Theaterstück und Scully machte sich ernsthaft Sorgen darum, ob dies ein guter Grundstein für eine Beziehung war. Natürlich waren Diskussionen und Streitigkeiten völlig normal und auch manchmal notwendig, um eine Beziehung in Gang zu halten. Doch trotzdem störte sie etwas daran. Sie wußte selbst nicht, warum und was es genau war, aber irgend etwas war an der Sache nicht in Ordnung.

Scully sah Minette von der Seite an. Vielleicht irrte sie sich aber auch und dies alles war nur ein Hirngespinst ihres übermüdeten Gehirnes. Vielleicht hatte sie nun wirklich endlich den Richtigen gefunden und ihre Sorgen waren völlig unbegründet. Das wird es sein, dachte Scully und hakte sich bei Minette ein.

Auf einem Seminar etwa einen Monat zuvor hatten sie sich angeregt unterhalten und ihre Sympathie füreinander entdeckt. Minette hatte ihr erzählt, daß sie ihm schon vorher aufgefallen war, doch eigentlich mußte sie sich eingestehen, daß sie ihn, wenn sie sich recht erinnerte, noch nie zuvor gesehen hatte, obwohl sie normalerweise jeden hiesigen Agenten zumindest vom Sehen her kannte.

"Dana, ich versichere dir, daß mich dieses Stück nicht gelangweilt hat, jetzt glaub' mir doch endlich!"

"Ich möchte einfach, daß du es wenigstens zugibst. Du mußt dich nicht rechtfertigen!" forderte Scully und untermalte ihre Aussage mit einer Geste. Sie bogen in eine kleine, dunkle Seitengasse ein und Scully schmiegte sich enger an Minetts Seite. Irgendwie wurde das mulmige Gefühl in ihrem Bauch jetzt noch unheimlicher.

"Nein!" widersprach Minette. Normalerweise hielt er nicht viel vom Lügen, doch jetzt hatte er sich zu sehr in die Sache hereingeritten, als daß er all seine Behauptungen zurücknehmen konnte. Er wollte nicht, daß sie jetzt schon wütend auf ihn war. Dazu war diese Diskussion zu unwichtig, zu belanglos um etwas aufs Spiel zu setzen.

"Dann können wir es uns ja noch einmal ansehen." schlug sie vor und Minette merkte ihr an, daß sie ein wenig gereizt war. Doch trotzdem wich er nicht von seinen Behauptungen ab.

"Ja!" entgegnete er, doch seiner Stimme zitterte etwas und ihm war sein Unbehagen deutlich anzumerken.

Scully blieb ruckartig stehen und drehte sich zu Minette um. Er hatte ein Donnerwetter erwartet, doch sie blieb ruhig.

"Ethan, du brauchst es doch nur zuzugeben. Du kannst mir nichts vorspielen und das weißt du. Glaubst du denn, ich würde dich in den Wind schicken, nur weil du Theater nicht magst?"

Er wollte protestieren, doch dann schloß er den Mund wieder. So absurd es klang, aber er hatte schon seit dem ersten Tag darüber nachdenken müssen, wie es wäre, wenn sie ganz plötzlich sagen würde, daß es vorbei sei. Das Theater hatte in seinen Überlegungen nichts damit zu tun, aber er konnte nichts unüberlegt lassen. Schließlich waren sie noch nicht lange zusammen und sie hatten sich noch nicht einmal geküßt. Manchmal hatte er sich gefragt, ob sie überhaupt zusammen waren.

"Du spinnst!" sagte sie kopfschüttelnd und nahm seine Hand.

Ein Schauer lief über seinen Rücken, als sie ihn berührte und insgeheim hoffte er, daß es nun endlich passieren würde, daß er sie zu ersten Mal küssen durfte und er näherte sich ihr zögernd. Sie war seine absolute Traumfrau. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte es bei ihm gefunkt. Daß ausgerechnet sie mit ihm zusammen sein wollte, konnte er immer noch nicht richtig glauben. Er hatte schon immer Probleme mit Frauen gehabt, solange er zurück denken konnte, hatte er nie diejenige bekommen, mit der er wirklich glücklich werden wollte.

Am anderen Ende der Gasse trat ein Mann aus dem Schatten einer Straßenlaterne und kam langsam und fast unbemerkt auf sie zu. Doch Scully registrierte die Bewegung sofort und während Minetts Lippen die ihren berührten, erkannte sie aus den Augenwinkeln die Umrisse des Mannes. Es war nicht hell genug, um ihn ganz zu sehen - doch das, was sie sah, war genug für Scullys geschulte Augen um sie wissen zu lassen, daß irgend etwas nicht stimmte.

Er verschränkte seine Arme hinter dem Rücken und schlenderte weiter auf sie zu. Sein dunkler, billiger und viel zu großer Mantel wurde durch den leichten Wind und den Schwung seiner Schritte immer wieder in die Höhe gehoben und an seinen wankenden Schritten konnte Scully erkennen, daß der Mann wohl betrunken war.

Plötzlich blieb er mitten in der Gasse stehen und steckte die Hände in die Taschen. Erneut stand er im Schatten und Scully konnte sein Tun nicht mehr verfolgen.

Im selben Moment umfaßten Minetts Hände ihre Hüften und zogen sie mit einem Ruck näher an sich heran. Er hatte sie die ganze Zeit über geküßt und nichts von den Geschehnissen um sich herum bemerkt.

Einerseits fühlte Scully sich in seinen Armen sicher, andererseits fühlte sie sich wie das abendliche Unterhaltungsprogramm für den betrunkenen Kerl, dessen Blicke sie nahezu auf ihrer Haut spürte.

Sie beendete schließlich ihren ersten richtigen Kuß seit zwei Jahren, um sich endgültig aus allen Programmheften zu streichen.

"Laß uns gehen!" sagte sie und hakte sich bei Minette ein, der den Mann immer noch nicht bemerkt hatte. Er blickte über seine Schulter hinweg um zu sehen, was Scully derart beunruhigt hatte.

"Hast du ein Problem damit? Ich jedenfalls nicht!" rief er, als er den Mann entdeckt hatte und er machte Anstalten stehen zu bleiben.

"Bitte nicht jetzt, Ethan. Tu mir den Gefallen und komm!" drängte Scully ihn. Sie hatte an diesem Abend wirklich keine Lust mehr auf Auseinandersetzungen und besonders nicht mit irgendwelchen herumstreunenden Spannern.

"Was für ein hübsches Paar!" rief der Mann. "Junge, junge, da können sie aber stolz sein, daß sie so einen bezaubernden Fang gemacht haben, mein Herr." Trotz Scullys Vermutung, daß der Mann betrunken sei, war seine Stimme fest und er schien hundertprozentig bei der Sache zu sein.

Auch als Minette und Scully keine Anstalten machten stehen zu bleiben, versuchte er es weiter. "Warum wollt ihr denn schon gehen. Ich beiße doch nicht!" Der Mann verfiel in schallendes Gelächter.

Scully fühlte sich verdammt unwohl bei der Sache. Sie hatten noch etwa zehn Meter vor sich, bis sie das Ende der Gasse erreicht hatten. Sie wußte genau, daß man diese Art von Typen auf keinen Fall unterschätzen durfte und außerdem sagte ihr schlagartig ihr Gefühl, daß mit diesem Mann irgend etwas nicht stimmte.

"Wie gefällt euch denn das hier?" meldete sich der Mann erneut. Dieses Mal konnte Scully einen merkwürdigen Unterton aus seinen Worten heraushören und dann folgte ein mechanisches Klicken. Es gab niemanden auf der Welt, dem dieses Geräusch vertrauter war, als Special Agentin Dana Scully. Sie kannte es ganz genau und sie wußte auch, was sie zu tun hatte, wenn ihr Gegenüber seine Waffe entsicherte. Sie blieb stehen. Minette tat es ihr gleich, denn auch er hatte das Geräusch sofort erkannt.

"Sehr gute Reaktion, Kleines. Und jetzt nehmt die Hände hoch und dreht euch ganz langsam zu mir um! "

Scully folgte seinen Anweisungen und sie hielt den Atem an, als sie die Pistole entdeckte, die der Mann ruhig in der Hand hielt und geradewegs auf sie gerichtet hatte.

"Was wollen sie?" fragte Minette, der es Scully erneut gleich getan hatte. Sie beide wußten, daß sie auf keinen Fall zu viel riskieren durften. Schließlich standen sie einem Mann gegenüber, der mit einer der modernsten Waffen bewaffnet war.

"Legen sie sich auf den Boden, mein Herr!" Der Mann zielte mit seiner Waffe nun auf Minette. Doch dieser hatte genug. Er hatte eine Dienstmarke in der Tasche, die ihn als ausgebildeten FBI-Agenten auswies und er lies sich in einer Seitengasse von Annapolis von einem Besoffenen fertigmachen. "Wir sind Bundesagenten und wenn sie meinen, sie...."

"Das weiß ich, mein Herr. Oder sollte ich besser sagen, Mr. Minette?"

Minette sah Scully erschrocken an und sie erwiderte den Blick. Woher, zum Teufel, kannte dieser Mann seinen Namen?

"Wissen sie, sie ermitteln in die falsche Richtung." fuhr der Mann fort, während er sich lässig gegen die Wand lehnte, die Waffe jedoch immer noch starr auf Minette gerichtet.

"Wenn ich mir das recht überlege, dann machen sie überhaupt einen Fehler. Und wissen sie auch, was das ist, Mr. Minette?"

Minette starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

"Ihr Fehler ist ihre Ermittlung." Der Mann machte eine Pause und wartete auf Minetts Reaktion - doch dieser rührte sich nicht.

"Ich gebe ihnen einen Tip, Minette. Sie brauchen keine Ermittlungen um ihn zu finden, denn er wird sie finden!"

"Wovon reden sie, verdammt noch mal? Und wer ist 'er'?" schrie Minette.

"Sehen sie, das ist die falsche Einstellung. Um sicher zu sein, muß ihre Frage 'Wo ist er?' lauten, Minette." Der Mann sprach mit einem fast unerträglich ironischen Unterton, es hörte sich beinahe kindlich an.

Scully lauschte seinen Worten, als ob aus ihnen eine verschlüsselte Botschaft zu lesen wäre. Für sie klang das alles zutiefst unlogisch. Dieser Mann widersprach sich selbst. Für sie gab es zwei Möglichkeiten. Entweder war ihr Gegenüber - milde ausgedrückt - einfach nur auf den Kopf gefallen, oder aber verdammt intelligent.

"So, jetzt aber Schluß mit den Tips, Minette. Schließlich sind sie ja ein gewitzter FBI-Agent." Seine Stimme spannte sich und er wurde energisch. "Und deshalb sind sie auch so klug sich hinzulegen, wenn ich das sage!"

Während Minette damit beschäftigt war, all die Dinge, die der Mann von sich gegeben hatte, zu verknüpfen, ging er langsam zu Boden. Er hatte nicht viel Ahnung von Psychologie, und das war es wohl, was man hierbei besonders brauchte.

Scully ging ebenfalls in die Knie um sich hinzulegen, doch da stürzte der Mann plötzlich auf sie zu.

"Nein, nein. Eine Lady legt sich doch nicht auf den dreckigen Boden einer Seitengasse." er verlangsamte seine Schritte, und kam ihr so nahe, daß sie seinen feuchten Atem im Gesicht spürte. "Wer das von einer Frau verlangt," er streichelte ihr über die Wange, "und vor allem von so einer Schönheit wie sie es sind, der ist kein Mann."

Scullys Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Mann kam ihr noch näher und sie drehte schließlich blitzartig den Kopf zur Seite, um seinem widerlichen Anblick zu entgehen. Sein Gesicht war von Bartstoppeln übersät und sein schwarzes Haar war fettig. Scully konnte ihm nicht länger in die Augen sehen.

Doch der Mann ergriff mit einer Hand ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu sich herum. In der anderen Hand hatte er die Waffe und hielt damit Minette in Schach, der immer noch regungslos auf dem Boden lag und sich immer wieder schwor, den Kerl fertig zu machen, der Scully derart erniedrigte.

Plötzlich umfaßte der Mann Scullys Hüfte und zog sie an sich. Sein Kopf schoß hervor und er preßte seine dreckigen Lippen auf Scullys. Die Wucht, mit der er hervorgeschossen war, riß Scully ein wenig nach hinten. Doch sofort hatte sie wieder festen Stand und trat ihrem Angreifer mit voller Wucht gegen das Schienbein.

Dieser schrie auf und schleuderte Scully mit voller Kraft von sich weg auf den Boden.

Für kurze Zeit blieb sie regungslos am Boden liegen. Sie war mit dem Kopf hart auf den Beton aufgeschlagen. Der Aufprall hatte ihr die Luft aus den Lungen gepreßt und sie kämpfte verzweifelt darum, wieder frei atmen zu können. Der Geschmack von Blut erfüllte ihren Mund, während ein stechender Schmerz durch ihren Leib jagte. Nach Luft ringend hob sie den Kopf und erblickte Minette, der etwa fünf Meter von ihr entfernt auf dem Boden lag. Für ihn waren es quälende Strapazen, mit ansehen zu müssen, wie dieser Bastard Scully mißhandelte. "Dana, ist alles in Ordnung?" rief er. Doch da spürte er den Fuß des Mannes auf seinem Kopf, der in gewaltsam wieder nach unten drückte. Dann plazierte er den Fuß auf Minetts Rücken, um sicher zu gehen, daß dieser sich nicht bewegen konnte. Die Mündung seiner Automatik war nun auf Scully gerichtet, die sich mühsam und an der Wand abstützend aufrichtete. Der stechende Schmerz in ihrem Körper trieb ihr Tränen in die Augen, doch sie durfte jetzt nicht aufgeben.

Sie würde ohne Waffe gegen diesen Mann nichts ausrichten können. Aber sie war sich sicher, daß dieser Kerl nicht auf sie schießen würde, dabei vertraute sie ganz auf ihre eigene Erfahrung. Dazu war sie ja FBI-Agentin. Und deshalb zwang sie sich selbst zum Durchhalten.

"Bleib ja da stehen und keine Bewegung du dämliches, undankbares Biest!" zischte der Mann.

"Was wollen sie von uns?" fragte Scully mit so ruhiger und bestimmter Stimme, wie sie nur konnte.

"Halt die Klappe!" schrie der Mann.

Vielleicht konnte sie ihn irgendwie dazu bringen aufzugeben. Dieser Kerl war zwar psychisch stark, und sie konnte ihn auch nicht gut genug einschätzen, um ihm selbst das Handwerk zu legen, doch je länger sie durchhielt, desto größer war ihre Chance, daß der Mann bald aufgab oder das wenigstens Hilfe kam.

Scully ging einen Schritt auf ihn zu und blickte ihm ins Gesicht, als wollte sie ihn mit ihrem steinharten Blick durchbohren.

Seine Augen zuckten nervös hin und her und die 9 Millimeter - Magnum hielt er mit verkrampften Fingern fest. Sein Körper war verspannt und Schweiß lief ihm von der Stirn. Kein Zweifel, der Mann war ein Psychopath. Doch er schien auch sehr intelligent zu sein, das erschwerte die Sache erheblich. Eigentlich war dies auch absolut nicht Scullys Spezialgebiet, aber ihr Partner beim FBI - Fox Mulder - hatte Psychologie studiert und sie hatte in dieser Hinsicht viel von ihm gelernt. Wenn alles glatt lief, würde dieser Mann noch heute Nacht durch Gitterstäbe blicken. Allerdings fühlte sie sich in ihrem langen Abendkleid und den hohen Schuhen nicht ganz wohl. Obwohl die Schuhe ihr bei ihrem Tritt gegen sein Schienbein großen Beistand geleistet hatten.

"Was wollen sie von uns?" fragte sie noch einmal. Ihre Stimme blieb fest und lies keinen Einblick in ihre Gefühle.

Minette lag immer noch auf dem Boden. Das war das erste Mal, daß er Scully im Einsatz sah und er war beeindruckt, wie gut sie das machte. Sie konnte ein Vorbild für alle werdenden FBI-Agenten sein. Aber trotzdem machte er sich Sorgen. Große Sorgen sogar. Sie war nicht bewaffnet oder gesichert und stellte sich einfach so einem bewaffneten Mann gegenüber.

Der Mann wurde immer nervöser und seine Stimme begann zu zittern.

"Ich sagte Klappe halten, verdammt!" schrie er und schob sich ein Stück an der Wand entlang. "Ich mache dich platt!"

Scully ging immer weiter auf ihn zu. "Du würdest doch nicht auf mich schießen, das traust du dich nicht. Vergiß nicht, ich bin eine Lady und du ein Gentleman, daß hast du doch gerade noch selber gesagt." sagte sie.

"Oh doch, das würde ich. Und jetzt bleib stehen!" schrie er.

Scully ging weiter. Sie hatte die Oberhand und das war ein verdammt gutes Gefühl. Adrenalin schoß durch ihre Adern und lies sie die stechenden Schmerzen in ihrem Körper vergessen.

"Du würdest mich doch gar nicht treffen." sagte sie in einem schon fast gespenstischen Ton. Die Augen des Mannes fixierten Scully. Er umfaßte seine Pistole zusätzlich mit der zweiten Hand und es zuckte um seine Mundwinkel herum.

"Schau dir deine Hände an, du bist viel zu unruhig. So wirst du bestimmt nicht treffen."

Sie wunderte sich über sich selbst. So etwas hatte sie noch nie gesagt, sie hatte sich jemandem gegenüber noch nie so überheblich verhalten.

"Paß mal auf, Kleine. Ich habe ein volles Magazin und mindestens eine von diesen Kugeln wird dich durchbohren, wenn du nicht sofort stehen bleibst und deine widerliche Klappe hältst." Dann wandte er sich an Minette. "Hey Minette, an deiner Stelle würde ich ihr sagen, daß sie tun soll, was ich sage, sonst findet er sie zuerst."

Minette starrte ihn an. Schon wieder dieses 'er'. Was zum Teufel... Unzählig viele Gedanken schossen durch seinen Kopf und plötzlich verstand er. Er war es. Er war sein unlösbar zu sein scheinender Fall, indem er nicht weiter wußte. Deshalb kannte der Mann seinen Namen. Er hatte ihn beobachtet, sich über ihn lustig gemacht. Und nun bedrohte er Scully. Er sah die Bilder der zerstückelten Frauen vor den Augen, die dem Mann über sich zum Opfer gefallen waren, und mit panischem Blick sah er zu Scully herüber. Sie stand da, in ihrem langen, schwarzen Abendkleid, das von ihrem Sturz einige Schäden abbekommen hatte. Schweißperlen liefen über ihre Stirn und einige Strähnen des rotbraunen Haares hingen in ihrem Gesicht. Mit Schrecken sah Minette das Blut, das ihr an Mund und Kinn klebte. Doch trotz all dem strahlte für Minette die Schönheit aus ihr heraus, als ob sie die Sonne in der Brust trug. Die Sonne, die er zum Überleben brauchte.

Plötzlich lösten sich Schüsse und sie zuckte zusammen. Der Mann hatte in die Luft gefeuert. Ihr Blick viel über ihre Schulter nach hinten und sie sah die Stelle an der Wand, an der eine der Kugeln abgeprallt war. Diese Stelle befand sich etwa 15 Zentimeter seitlich von ihr entfernt.

Sie drehte den Kopf wieder nach vorne und ging weiter auf ihn zu. Doch der Mann kniff die Augen zusammen und grinste sie an.

Minetts Herz raste. Am liebsten wäre er jetzt aufgesprungen und hätte sie schützend in die Arme genommen.

"Ich zähle jetzt bis drei und wenn du dann nicht stehen bleibst und dich hinlegst, knalle ich dich ab!" rief der Mann und betonte dabei jedes Wort.

"Ach ja?" fragte Scully.

Minette erschrak. Gerade noch war ihre Stimme so überheblich gewesen, daß er gedacht hatte, es wäre eine andere Frau gewesen, doch jetzt klang sie plötzlich verdammt hilflos. Diese Veränderung war gefährlich, denn sie machte Scully schwächer, aber ihren Gegner dafür um so stärker. Aus der Erfahrung des FBI-Agenten wußte Minette, daß man in solch einer Situation die Schwäche des Gegners fast sehen konnte. Doch Scully mußte das ebenfalls wissen und auch, daß sie damit ein großes Risiko einging. Es sei denn, sie hatte wirklich Probleme.

Scully schluckte schwer. Plötzlich registrierte sie den Schmerz in ihrem Körper wieder und er brachte sie um den Verstand. Das viele Blut, daß sie bereits geschluckt hatte, lies ihren Magen sich zusammenziehen. Das Blatt hatte sich gewendet. Der Mann war noch stärker, als sie bereits erwartet hatte, und sie noch schwächer. Vielleicht hatte sie sich wirklich zu viel zugemutet. Sie war nicht bewaffnet und sie hatte auch keine schußsichere Weste; sie war diesem Mann schutzlos ausgeliefert. Sie hatte die Situation maßlos überschätzt.

Scully blickte Minette an, der noch immer am Boden lag. Angstschweiß stand auf seiner Stirn und sie konnte ihm die Bitte, doch endlich nachzugeben, förmlich von den Augen ablesen. Und sie wußte, daß er recht hatte. Sie hatte sich unnützer Gefahr ausgesetzt.

Plötzlich kam sie sich diesem Killer gegenüber verdammt klein vor. Angst schoß in ihr hoch. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn Mulder jetzt bei ihr gewesen wäre. Er hätte ihr helfen können. Sie waren ein unschlagbares Team, was die Arbeit beim FBI anging. Sie vertraute ihm mit ihrem Leben, dem Leben, das sie jetzt in diesem Moment aufs Spiel setzte. In der Zentrale gab es Leute, die ihnen eine Affäre nachsagten: Spooky-Man und Spooky-Woman. Als ob ein männlicher Agent mit seiner weiblichen Partnerin sofort ins Bett steigen würde. Das war doch lächerlich. Sie könnte Mulder niemals lieben. Dazu waren sie viel zu verschieden.

"Eins..."

Scully erschrak. Der Kerl machte Ernst. Aber was war nur mit ihr los? Sie konnte keinen Schritt mehr tun, sie war wie gelähmt, ihr Körper verkrampfte sich und ihre Kehle schnürte sich zu. Warum tat sie nichts, sagte nichts und gab nicht einfach auf? Sie wollte es doch.

"Zwei..."

Minette hielt es nicht mehr aus. "Dana verdammt, tu es! Leg dich hin!"

Scully starrte ihn an. Wo zu Teufel steckte Mulder?

"Drei!"

Zwei Schüsse zerrissen die nächtliche Stille und kurz darauf brach Scully zusammen. Für Minette war es, als ob eine Bombe explodieren würde, obwohl ein Experte dabei war, sie zu entschärfen. Das durfte nicht passiert sein. "Nein!" schrie er, sprang auf und lief los. Der Mann stand mit immer noch ausgestreckter Waffe da, und als sich Minette vor ihm aufrichtete zog er den Abzug erneut durch. Immer und immer wieder feuerte er auf Minette, der einfach nur drauflos lief. Rechts und links neben ihm prallten die Kugeln vom Beton ab und Minette hatte das Gefühl nicht von der Stelle zu kommen. Er konnte nicht einmal mehr denken, lief einfach drauf los, Scully entgegen.

Plötzlich stoppten der Lärm und der Kugelregen und es war nur noch das mechanische Klicken eines leeren Magazins zu hören.

Minette kniete neben Scully. Sie lag in einem See aus Blut und er sah, daß sie zwei mal getroffen worden war: in den Oberkörper und am Kopf. Hinter sich hörte Minette, wie der Mann die Waffe fallen lies und anfing zu lachen.

Scully preßte ihre Hand auf die Schußwunde unter ihrer Brust und sah Minette mit mühevoll geöffneten Augen an. Der Ausdruck, der in ihnen lag, lies ihn schaudern.

"Mulder," flüsterte sie um Luft ringend. Minette beugte sich weiter zu ihr hinab um besser verstehen zu können, was sie sagte. Keuchend und unter Tränen kämpfte Scully darum, bei Bewußtsein zu bleiben. "Ich brauche ihre Hilfe." Doch dagegen kam sie nicht an, sie war zu schwach.

Als Minette in weiter Ferne das Heulen der Krankenwagensirenen hörte, erhob er sich. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, wer den Notarzt informiert haben könnte.

"Du Schwein!" rief er. "Du verdammtes Schwein!" schrie er dem immer noch lachenden Mann entgegen. Er wollte hin rennen und diesen Kerl verprügeln, doch plötzlich hielt ihn jemand am Arm und gleichzeitig rannten drei Polizisten an ihm vorbei und nahmen den Mann fest.

Minette drehte sich um. Auch der Mann, der ihn festhielt, war ein Polizist. Er und sein Kollege waren durch die Schüsse aufmerksam geworden und hatten vorsichtshalber einen Krankenwagen in Bereitschaft gerufen, der in diesem Moment eintraf. Der Mann, der Scully angeschossen hatte, wehrte sich gegen die Beamten noch nicht einmal. Im Gegenteil, er lachte weiter und lies sich abführen. Es war, als ob er einfach nur seine Rache an ihm hatte ausüben wollen. Oder ihm beweisen, daß er der Stärkere war. Er hatte ihn nicht getötet, nicht seinen größten Feind bei Seite geschafft, nicht aus einem Mann einen Kreuzzug werden lassen. Nein. Er hatte ihm das nehmen wollen, was er am meisten brauchte.

Minette wandte sich zu Scully um. Doch sie war schon von Sanitätern umgeben.

"Sie atmet nicht mehr. Kein Puls!" schrie einer der Männer. "Verdammt macht schnell, wir verlieren sie!"

Etwa 12 Stunden später saß Minette in Scullys Zimmer auf der Intensivstation des General Hospitals.

Der Arzt hatte gesagt, daß die Kugel nur knapp die Milz gestreift hatte, sie hatte Glück gehabt. Doch die andere Kugel hatte das Gehirn verletzt, eine Gehirnblutung verursacht und nun, nun lag sie im Koma.

Minette hatte sofort das FBI über den Vorfall informiert, nachdem er im Krankenhaus eingetroffen war. Das war Vorschrift. Er hatte auch überlegt, ob er Fox Mulder benachrichtigen sollte, doch diesen Gedanken hatte er sofort wieder verworfen. Darum würden sich seine Vorgesetzten schon selbst kümmern.

Minette hatte nicht vergessen, was Scully gesagt hatte, kurz bevor sie das Bewußtsein verlor.

Er hatte über die Sache nicht weiter nachgedacht, aber als er während Scullys Operation auf dem Gang gesessen hatte, war ihm der Satz noch einmal in den Sinn gekommen. Er konnte nicht sagen, daß er ihn beunruhigte, doch trotzdem störte ihn etwas daran.

Nun saß Minette an Scullys Bett und hielt ihre Hand, in der Hoffnung, daß sie wieder aufwachen würde. Doch der Arzt hatte die Umstände deutlich genug erklärt. Wenn sie aufwachen würde, dann bräuchte sie mehr Glück, als ein Mensch haben kann, um nicht in irgend einer Weise gelähmt zu sein. Minette konnte das alles einfach nicht glauben. Vor ein paar Stunden waren sie noch im Theater gewesen, sie hatten diskutiert und er hatte sie zum ersten Mal geküßt. Und nun lag sie da und...

Er atmete tief ein und verfluchte sich selbst.

Wenn er nicht tatenlos auf dem Boden verharrt wäre, sondern etwas gegen diesen Mann getan hätte, Scully nicht damit allein gelassen hätte, dann läge sie jetzt mit Sicherheit nicht hier. Es war seine Schuld, allein seine Schuld. Außerdem war der Mann sein Fall gewesen. Wieder etwas, wogegen er nichts, aber auch gar nichts unternommen hatte. Hätte sein verdammtes, von Krebs zerfressenes Gehirn schneller gearbeitet, wäre dieser Kerl noch vor diesem Abend im Knast gelandet.

Er blickte auf Scullys Körper herab. Warum passierte dies alles? Warum gerade jetzt?

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