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After the Rain

von Imajiru Mackenzie

Kapitel 1

After the rain washes away the tears
And all the pain
Only after the rain
Can you live again


(Nachdem der Regen die Tränen wegspült
Und all den Schmerz
Nur nach dem Regen
Kannst du wieder leben)

*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*

Das Apartment lag im 2. Stock, gleich neben einer der letzten
Hochbahnlinien der Stadt; jede vorbeifahrende Bahn entsandte ein
kreischendes Dröhnen, das durch das Gebäude widerhallte. "Apartment": eine
hochtrabende Bezeichnung für einen einzigen Raum mit einem winzigen
Badezimmer. Letzteres kaum groß genug eine Toilette, ein Waschbecken und
eine Dusche unterzubringen, Ersteres gerade groß genug, ein paar
Küchenutensilien, eine zusammengebrochene Anrichte, einen kleinen Fernseher
auf einem Pappkarton und eine Doppelmatratze zu fassen.

Tom Davis erwachte am Montagmorgen durch den schrillen Alarm des Weckers,
der mit dem Tosen eines vorbeifahrenden Zuges zusammenfiel - der Heizung
des Hauses war wieder einmal ausgefallen und das Apartment war kalt - aber
da war eine wundervolle solide Wärme an ihn gekuschelt und das erleichterte
die Pein des Morgens gerade so weit, dass sie erträglich wurde.

"Unghh." Hellbraune Locken regten sich auf ihrem Kissen, ihre Augenlider
schlugen auf und verschlafene Augen schauten in seine. "Morgen? Jetzt
schon?"

"Ja," murmelte er und überbrachte die schlechte Nachricht mit einem Kuss -
zur Hölle mit dem Morgenatem, Lisa zu küssen, war immer schön.

Dann war es eine furchtbare Eile, fertig zu werden. Sie duschten zusammen
wie gewöhnlich, nicht als erotische Handlung, sondern aus purer, schneller
Zweckmäßigkeit - es gab nie genug heißes Wasser für zwei, um nacheinander
zu duschen. Sie zitterten gemeinsam, als sie ihre dürftige Sammlung an
Second-Hand-Klamotten durchstöberten, auf der Suche nach etwas zum
Anziehen, und sprangen in Jeans und Sweatshirts so schnell sie konnten.
Gemeinsam zogen sie ihre Mäntel an, schnappten sich Brief- und Handtaschen
und andere Dinge und verließen das Apartment, Lisa blieb stehen, um die
drei einzelnen Türschlösser hinter ihnen zu schließen.

Ein rauher Morgensturm blies eisig durch ihre viel zu dünnen Mäntel, als
sie händchenhaltend und sich durch den Wind kämpfend auf dem Weg zur U-Bahn
waren. Nachdem sie drei Blocks so gegangen waren, erreichten sie
schließlich das Lokal, das sie an vier von fünf Tagen mit Frühstück
versorgte: Zehn luxuriöse Minuten verweilten sie über Kaffee und Donuts an
einem der warmen Tische im hinteren Teil, in denen sie händchenhielten und
leise über die Trivialitäten ihres Lebens sprachen. Welches
Fertignudelgericht fürs Abendessen? Hatten sie genug U-Bahn-Tickets, um zur
Arbeit zu kommen bis zu ihren nächsten Lohnzahlungen? Konnten sie es sich
leisten, sich mit einer verbilligten Filmmatinee dieses Wochenende in
Unkosten zu stürzen?

Dann erkämpften sie sich ihren Weg durch den überfüllten Bahnsteig,
bahnten sich ihren Weg in einen vollgestopften Zug, Bauch an Bauch
aneinander gedrängt durch die Menschenscharen der Rush hour. Tom
überlegte, dass es eigentlich unglaublich erregend wäre, wenn der Zug nicht
so verdammt klaustrophobisch gewesen wäre. So wie die Situation lag, war
der Zug so überfüllt, dass es für ihn nur geringfügig erregend war, gegen
seine Frau gepreßt zu werden. Lustlos lehnte sie ihren Kopf an seine Brust
und er legte einen Arm fest um sie und hielt sich mit dem anderen an einem
Griff über ihm fest, wobei er versuchte das Gleichgewicht zu halten,
während der Zug hin und her schwankte.

Umsteigen : Tom und Lisa stiegen in den viel weniger vollen Lokalzug, wo
sie Seite an Seite in die Sitze sanken für die zweite Etappe der Reise.
Wiederum eine kurze Gelegenheit, sich nahe zu sein, sich in die Arme des
anderen zu kuscheln - dann kam ihre Haltestelle und es war Zeit, den
Bahnhof zu verlassen und den Bus zu erreichen. Manchmal, wenn das Wetter
gut war und sie genug Zeit hatten, liefen sie und sparten das Fahrgeld,
aber bei der heutigen Kälte stellte sich diese Frage gar nicht erst, nicht
wo Lisa in der letzten Woche erst knapp über eine schwere Erkältung
hinweggekommen war; Glücklicherweise wartete der Bus, sie zahlten das
Fahrgeld und eilten hinein.

Der Bus schlingerte und ratterte über Straßen, die voller Schlaglöcher
waren, fuhr vorbei an schäbigen Gebäuden und Wohnhäusern, aus Ziegelstein
gebaut, hinein in den Lagerhaus-Bezirk. Gemeinsam stiegen sie aus dem Bus,
gemeinsam gingen sie einen halben Block - vorsichtig, denn der Gehsteig war
eisbedeckt und trügerisch - gemeinsam standen sie in der Schlange, um ihre
Zeitkarten zu stempeln, und trennten sich an der Treppe mit einem zu kurzen
Kuss. "Bis später, Lisa," murmelte er, ihre Hand festhaltend, um die
Berührung eine Sekunde länger auszukosten.

"Bis Später, Tom," antwortete sie und ließ seine Hand mit Bedauern los.

Lisa stieg die Treppe zum Büro hinauf, wo sie arbeitete und Tom verweilte
noch eine zusätzliche Minute, um sie gehen zu sehen - dann hastete er die
Treppe hinab in die Fabrik und schaffte es gerade noch vor dem Läuten der
Morgensirene zu seinem Arbeitsplatz.

Die anderen Jungs waren schon da: Larry, der mit Juanita aus der Fabrik
schlief, aber eine Frau daheim hatte. Joe, der gerade die High School
hinter sich gebracht hatte, immer in Gedanken bei der Band, in der er
Gitarre spielte. Mike, verheiratet, zwei Kinder, der nie aus der "Gegend"
herausgekommen war, der sein ganzes Leben im selben zehn
quadratkilometergroßen Gebiet gearbeitet und gewohnt hatte. Carlos, der
immer darüber tönte, aus dem Haus seiner Mutter auszuziehen und es nie wahr
machte. Das Radio war an, eingestellt auf einen Latinosender, den Carlos
und Larry lieber mochten; am Nachmittag würden Joe, Mike und er selbst die
Oberhand gewinnen und statt dessen einen Rocksender einstellen, aber im
Moment gab es nur den unablässigen Takt der spanischen Musik, der die
Geräusche der Fabrik übertönte.

Dann brachte Erin McKesson die erste Fuhre und der Arbeitstag begann.

Seit den letzten sechs Wochen war es ein und die selbe Sache, vier Stunden
pro Schicht, zwei Schichten pro Tag, fünf Tage die Woche: kleine
Plastikbeutel voller Nägel versiegeln. Nicht alle Aufträge waren gleich -
manchmal waren es Schrauben oder Bolzen, manchmal waren es große
Plastikbeutel. Aber im wesentlichen war der Job immer der selbe, weil es
war, was die Firma tat: sie verpackten Dinge in kleine Beutel, versahen sie
mit Strichcodeaufklebern und dann packten sie sie in größere Beutel und
versahen *diese* dann mit Strichcodeaufklebern und danach - und das war die
eigentliche Ironie- verschifften sie das Ganze zu einem militärischem
Verteilungszentrum.

Nach allem, was sie durchgestanden hatten, endeten sie als Arbeiter für
einen *Regierungs-Unterlieferanten*. ‚Wer sagt, Gott hatte keinen Humor?,'
dachte Tom mit einem kleinen Grinsen.

Lisas Job war wenigstens geringfügig interessanter als seiner. Sie war oben
im Büro, tippte DD250-Formulare für die Verschiffung, machte Rechnungen
fertig und so weiter. Ihr Job war es, der den Löwenanteil der Miete
bezahlte, denn sie verdiente fast das Doppelte von ihm. Der
zusammengerechnete Gesamtbetrag ihrer Gehälter war weniger als der
Durchschnitts-College-Absolvent bei einem Teilzeitjob verdiente...

Doch Tom und Lisa hatten keinen Collegeabschluß. Tom und Lisa hatten gerade
einmal Geburtsurkunden und Sozialversicherungsnummern. Und so hatten Tom
und Lisa Davis schlecht bezahlte Jobs in einer Fabrik in Brooklyn, ein
mieses Appartement in einer ausgesprochen schlechten Gegend in Queens, ein
Bankkonto, das sich nie über eine dreistellige Summe hinausbewegte und eine
Kreditkarte, die immer am Limit war...

Andererseits hatten Tom und Lisa sich gegenseitig.

Die erste Schicht verging schnell, die Sirene ertönte und während die
anderen Jungs sich am Imbißwagen anstellten, der draußen parkte, erklomm
Tom die Stufen zum Büro. Lisa saß an ihrem Schreibtisch, fleißig Daten in
den Computer tippend - sie fühlte seine Anwesenheit, wie sie es immer tat,
und drehte sich herum, um ihn mit glänzenden Augen und einem warmen Lächeln
zu begrüßen. Während die anderen Büroarbeiter sich die Pizza teilten, für
die sie zusammengelegt hatten, suchten sich Tom und Lisa eine ruhige Ecke
und teilen sich ein mageres Räucherwurst-Sandwich, was alles darstellte,
das sie fürs Mittagessen im Kühlschrank hatten- es war nicht genug Essen
für eine Person, nicht annähernd genug, um zwei satt zu kriegen.

Sie nahmen die Liebe in den Augen des anderen in sich auf und waren
zufrieden.

Vier weitere Stunden und es war vorbei, Lisa traf ihn an der Stechuhr wie
sie es immer tat. Der Zug war während der Heimfahrt genauso überfüllt und
der Wind sogar noch heftiger, als sie sich die Straße hinunter mühten. Sie
hielten an dem kleinen Lebensmittelgeschäft an der Ecke, gerade solange um
sich aufzuwärmen und ein paar Sachen zu kaufen: ein paar Dosen
Pseudo-Markencola, ein Laib Brot zum halben Preis, mehrere Tage über dem
Haltbarkeitsdatum, ein viertel Pfund Bologna fürs Mittagessen, ein drittel
Pfund geschnittenes Nackenfleisch und eine eingebeulte Dose mit gemischtem
Gemüse. Tom trug die Tasche und Lisa schloß die Eingangstür auf und müde
trotteten sie die Treppen hoch zu ihrem Appartement.

Eine halbe Stunde später, gab es Abendessen: ein Fertignudelgericht
zusammen mit Erbsen, Karotten und Hamburgern, um es wenigstens einer
Mahlzeit ähneln zu lassen. Lisa verteilte das Gemisch auf die zwei einzigen
Teller, die sie besaßen, dann aßen sie im Schneidersitz auf der Matratze -
wieder war es kalt, also kuschelten sie sich eng aneinander mit der
durchgewetzten Decke um ihre Schultern, während die Abendnachrichten
unbeachtet im Hintergrund im Fernseher ertönten.

Nach kurzer Zeit stand Lisa auf, ging in Richtung Bad und tauchte
verwandelt wieder auf: das Satinnachthemd war in einem Wohlfahrtsladen
gekauft, aber es saß angegossen wie eine zweite Haut. "Du wirst darin
erfrieren," warnte Tom, auch wenn seine Augen die Erscheinung vor ihm
verschlangen und ihr Anblick sofort Blut in seine Leistengegend schickte.

"Du wirst mich warmhalten," sagte sie ironisch, während sie sich neben ihm
auf dem Bett niederließ.

Er schlang die Decke und seine Arme um sie; Lisa schmiegte sich eng an ihn
und küsste ihn. Sie kicherte bei ihren Atemzügen, als sein Bart ihr Gesicht
kitzelte. Sie schob ihn rückwärts auf das Bett und landete auf ihm...

Und obwohl es kühl war in dem Apartment, bemerkte keiner von ihnen diese
Tatsache für einige Zeit.

*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*

Fox Mulder war tot.

In schwarz gekleidet, stand sie an dem Grabstein, der seinen Namen trug,
hörte kaum die Platitüden, die der Priester von sich gab, als er den
Gottesdienst hielt. Nach allem, was sie gesehen und getan hatten, nach
allem, was sie durchgemacht hatten, mußte es so enden...

Die Anteilnahme an dem Begräbnis war spärlich. Wer würde sich schon damit
belasten wollen, um die unerwünschteste Person des ganzen FBI's zu
betrauern? Skinner hätte es, aber er war schon gegangen... Bitterkeit
durchströmte sie, und Bedauern. So sollte es nicht sein. Nur wenige
einzelne Gestalten standen im Regen und ein paar dunkle Schatten, die den
Rand des Friedhofs in zurückhaltender Beobachtung aufsuchten.


So hätte es nicht enden sollen.

Sie stand allein und niemand wagte es, näher zu kommen; sie trug ihren
Kummer wie ein Kleid. Sie stand lange genug, um mit der Hand über den neuen
Grabstein zu streichen, in einem endlosen Augenblick des Kummers.

Und dann verließ sie den Friedhof, lief zügig durch den Regen, als ob sie
so alles hinter sich lassen könnte, Tränen mischten sich mit den
Regentropfen auf ihrem Gesicht.

Die gemietete Limousine sollte sie nach Hause bringen, statt dessen ließ
sie sich am Park absetzen. Sie lief eine Weile in Gedanken versunken, dann
nahm sie die U-Bahn nach Virginia. Dort an der Bahnstation winkte sie ein
Taxi heran und ließ sich trotz dieser teueren Fahrt zu einem kleinen
Einkaufszentrum in Maryland bringen.
Wieder lief sie eine Weile, sichergehend, dass ihr niemand gefolgt war,
bevor sie auf ein unscheinbares Haus zusteuerte.

Mit dem Schlüssel, den sie bekommen hatte, ließ sie sich hinein, lief durch
ein lächerlich normal aussehendes Wohnzimmer auf die Kellertür zu und
trottete müde die Treppe hinunter.

"Es ist vorbei," berichtete sie mit einer Stimme, die rauh war vom Weinen.

Zwei von ihnen sahen nicht von ihrer Arbeit auf, sie tippten weiter
geschäftig an den Computern, um die nötigen Arrangements zu treffen. Der
Dritte sah gerade lange genug von seinem behelfsmäßigen Arbeitsplatz auf,
um ihr einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen - und der Vierte im Raum
Anwesende erhob sich von der Couch, auf der er sich ausgestreckt hatte, und
kam zu ihr. Sie fiel in seine Arme und schmiegte sich an ihn. Sie war zu
ausgelaugt von der emotionalen Achterbahn der letzten paar Tage, um sich
darum zu scheren, was man von der Umarmung denken könnte; und einmal mehr
schmerzten Tränen, die sie kaum unterdrückte, in ihren Augen.

"Schhhh," murmelte er und streichelte ihr Haar langsam in sanften Zügen.
"Es ist alles o.k., Scully. Es ist alles o.k."

Aber es würde nie mehr alles o.k. sein. Nicht wirklich.

"In Ordnung, wir sind fertig, "informierte einer ihrer Verbündeten, während
er nach oben griff, um mit einem Finger seine Brille zurück in ihre
Position auf seinem Nasenrücken zu schieben. Seine Augen fanden einen
Moment lang die ihren, dann glitten sie weg, unfähig ihrem Blick zu
begegnen. "Ich weiß, Sie sagten, dass Sie es nicht auf diese Weise wollten,
aber... die einzige plausible Art, um das zu tun, ist es daraus einen
Selbstmord zu machen."

Sie seufzte, "Das wird meine Mutter umbringen," murmelte sie, in der
verzweifelten Hoffnung, dass ihre Worte lediglich so dahergesagt waren,
dass ihre Mutter den Verlust noch eines anderen Kindes aushalten könnte...


"Tut mir leid," murmelte Langly, drehte sich rasch zurück zu seinem
Computer, als ob es ihm recht war, der unangenehmen zwischenmenschlichen
Kommunikation zu entkommen.
Und sie drehte sich zurück zu dem Mann, der sie noch immer eng an sich
gedrückt hielt, vergrub ihr Gesicht an seinem Brustkorb, als ob sie dem
Schmerz darüber, was gerade vor sich ging, entfliehen könnte.

Es konnte keinen Trost zur Linderung der Schmerzen geben - und trotzdem,
das Gefühl seiner Arme, die sie umfassten, war irgendwie beruhigend. 'Was
auch immer passiert,' dachte sie, ‚wir werden zusammen sein.' Das sollte
eigentlich nicht ausreichen, um die Qualen, die sie durchlebten, zu
mindern...aber das tat es.

Sie dachte daran, wie ihre Mutter trauern würde auf ihrer Beerdigung und
schämte sich dafür.

"Wir werden einen Weg finden, sie es wissen zu lassen," sagte ihr Partner
sehr, sehr sanft in ihr Ohr. "Wir werden einen Weg finden, Scully," obwohl
er von ihnen allen der hartnäckigste war, wenn es darum ging, keine losen
Enden zurückzulassen, über die sie später stolpern könnten.

Sie legte ihren Kopf in den Nacken, um seinem Blick zu begegnen, zwang sie
sich um seinetwillen zu einem schwachen Lächeln und er hauchte ihr einen
sanften Kuss auf die Stirn.

"So," sagt Frohike ohne aufzuschauen, in seiner Stimme schwang Ironie und
ein wenig Mitleid, "bereit, zu sterben, Scully?"



Wie gewöhnlich weckte sie das tosende Donnern des Zuges. Sie fühlte Tom ein
wenig stöhnen, als sie von der Erkenntnis getroffen wurden, dass es Morgen
war.


Für Lisa gab es noch eine andere Erkenntnis. Erschöpfung, anhaltend und
spürbar, und ein wirbelndes Gefühl in ihrem Inneren...

Sie schaffte es kaum, aus dem Bett zu klettern und ins Badezimmer zu laufen
bevor die Übelkeit hochkam.

Mitten im Erbrechen merkte sie, dass ihr jemand eine Decke um die Schultern
legte, die sie vor der durchdringenden Kälte schützte, dass dieser Jemand
ihr das Haar aus dem Gesicht strich, es dort hielt, während sie Galle und
das, was vom Abendessen übrig war, von sich gab. Sie hörte, wie er ein
würgendes Geräusch von sich gab, als ob ihr Brechanfall dieselbe
unfreiwillige Reaktion bei ihm selbst hervorrief. Bis jetzt hatte er nie
gezögert, war nie von ihrer Seite gewichen.

Zum tausendsten Mal schwoll das Bewußtsein, wie sehr sie diesen Mann
liebte, wie sehr sie geliebt wurde, lebendig in ihr an. Zum tausendsten Mal
machte dieses Wissen eine schwierige Situation ertragbar.
Als ihre Übelkeit schließlich abklang, wischte sie sich mit einem Bündel
Toilettenpapier, das er ihr reichte, über den Mund, spuckte noch einmal in
die Toilettenschüssel, um den schrecklichen Geschmack loszuwerden, nippte
zögernd von dem Glas kalten Wasser, das er für sie bereit gehalten hatte.

Zurück in der Hocke, fühlte sie seine Arme, die sie locker umfassten, sie
einhüllten in seine Wärme. "Geht es dir wieder gut?" kam seine Stimme, wie
aus weiter Ferne.

"Ich denke schon," murmelte sie, sich an ihn zurücklehnend. "Ich hoffe, du
hast keinen Rückfall," sagte er besorgt, wegen der Wintergrippe, die sie
einige Tage ans Bett gefesselt hatte.


"Das hoffe ich auch." Sogar die kleinste Krankheit war fatal. Sie hatten
keine Krankenversicherung, ihr mageres Einkommen war noch zu hoch, um ihnen
Zugang zu den freien Kliniken zu ermöglichen, die waren aber sowieso
überfüllt, und jeder Tag, den sie ausfielen, schnitt belastend in dieses
ohnehin schon zu kleine Einkommen. Sie lebten schon von der Hand in den
Mund. Sie konnten es sich nicht leisten, Einkünfte zu verlieren.

Bis jetzt hatte Tom sich nicht beklagt, auch nicht als sie sich für den
vierten Tag in Folge krank melden musste. Er schob Zusatzschichten ohne die
geringste Klage, nur um einen Teil der Lücke zu überbrücken, rief in jeder
Pause daheim an, um sicher zu gehen dass mit ihr alles in Ordnung war. Er
ließ den Morgenkaffee und den morgendlichen Donut ausfallen, um ein paar
Extrapennies zu sparen, um die teueren Erkältungsmedikamente zu kaufen, die
ihre Symptome linderten.


"Ich liebe dich so sehr," flüsterte sie und fühlte wie seine Arme sich in
stummer Antwort enger um sie schlossen.
Als sie ihr morgendliches Ritual sich fertig zu machen durchliefen, blickte
sie sorgenvoll in ihr Innerstes, wachsam für jedes Zeichen der
zurückkehrenden Krankheit. Die Übelkeit war verschwunden, ohne eine Spur
von Schwindel oder Schmerz zu hinterlassen, was sie eigentlich erwartet
hatte - aber etwas war anders. Etwas undefinierbares, aber dennoch
eindeutiges.

Mit Vorsicht hielt sie es von ihm fern, verriet es ihm nicht- aber sobald
sie im Büro an ihrem Schreibtisch war, rief sie in der Klinik in der Nassau
Avenue an, um einen Termin auszumachen. Sogar die symbolische Gebühr von
zwanzig Dollar würde ihr Budget belasten, aber es musste getan werden. Sie
musste es wissen.

Natürlich, wenn das Problem ... exotischer war als eine gewöhnliche
Erkältung oder Grippe, dann würde sie die untersubventionierte Klinik
sicher nicht entdecken...

Mit einem Seufzen vertrieb sie diese Sorge aus ihren Gedanken.

Eine Absage in letzter Minute ließ eine Lücke um zwei Uhr nachmittag des
selben Tages - es würde sie mehr Arbeitszeit kosten, Geld, das sie sich
nicht leisten konnten zu vergeuden. Andererseits würde Tom nicht wissen
müssen, dass sie dorthin ging, ihm würde die Sorge erspart bleiben...das
war ausschlaggebend, sie nahm den Termin an.

Sie hängte den Hörer ein, drehte sich zu dem Stapel Schreibarbeit auf ihrem
Tisch, begann zu arbeiten, - aber sie konnte die Furcht nicht abschütteln,
die Angst, die sich in ihrem Bauch festklammerte in kleinen,
wiederkehrenden Krämpfen.

*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*

Die Kleidung, die er trug: Jeans, ein T-Shirt, eine unauffällige Windjacke,
Socken und Unterwäsche. Eine neue Brieftasche, die eine
Sozialversicherungskarte und eine Geburtsurkunde enthielt, beide sorgsam
auf alt gemacht, um Abnutzung zu vorzutäuschen.
Zweihundertunddreiundsechzig Dollar und eine unbestimmte Menge Kleingeld
steckten sicher in seiner rechten Vordertasche. Ein Busticket, ohne
Rückfahrt, nicht zurückerstattbar.

Das war alles, war er nun besaß. Alles, was er hatte.

Außer der Frau, die dicht an ihn gedrängt neben ihm in der Halle des
Busbahnhofes saß und in der Kälte fror.

Er legte seinen Arm um ihre Schultern, zog sie eng an sich, im Versuch
Wärme zu spenden. Nach einem Augenblick legte er auch den anderen Arm um
sie und sie lehnte sich an ihn, als ob sie dorthin gehören würde.

Was sie tat.

"Hey," sagte er leise - wobei er nicht ihren Namen benutzte. Er war nicht
mehr ihr Name und die neuen Namen, die ihnen gegeben wurden, fühlten sich
noch nicht nach ihnen an.

Sie blickte zu ihm auf und brachte ein unsicheres Lächeln zustande. "Selber
hey!," antwortete sie und ließ dabei die alte unerschütterliche Courage
anklingen.

Ihm gefiel das, es brachte ihn dazu, sich besser zu fühlen. Sie war
ungewöhnlich still gewesen, seitdem ihre Verwandlung begonnen hatte und das
beunruhigte ihn enorm.

"Wir werden o.k. sein," versicherte er ihr, obwohl er es keinesfalls
sicher sagen konnte. "Uns wird es gut gehen," versprach er, entschlossen es
zu wahr zu machen.

Es erschien so, als ob sich ihr Lächeln verstärkte in eine Entschlossenheit
so glühend wie die seine. "Das wird es," stimmte sie mit stiller Stärke zu.

Er preßte seine Lippen an ihre Stirn, strich ihr behutsam einige verirrte
einzelne Haarstähnen mit sanften Fingerspitzen aus dem Gesicht - es
erschreckte ihn noch, dass ihr Haar nicht mehr feuerrot war; nur eine
andere Veränderung, an die er sich gewöhnen musste, ganz oben auf der Liste
von so vielen Dingen.

Aber sie war noch immer sie selbst. Eine Rose mit einem anderen Namen
bleibt eine Rose...

"Da gibt es etwas, worüber wir reden müssen," sagte sie leise, so dass er
sich anstrengen musste, sie zu hören bei dem geschäftigen Treiben der
Massen auf dem Busbahnhof und den unverständlichen Ankündigungen, die über
die Lautsprecher erfolgten.

"Worüber?" Alle Vorbereitungen waren getroffen worden - wohin sie gehen
würden, was sie tun würden, wenn sie dort angekommen wären, wie sie ihre
undurchsichtige Tarnung untermauern würden, damit ihre neuen Identitäten
wasserdicht sein würden und so unerschütterlich wie möglich. Alle möglichen
Anstrengungen waren unternommen worden, um alle klaffenden Lücken zu
schließen - und ihm gefiel die Richtung nicht, die diese Unterhaltung
einschlug, die Andeutung, dass es noch etwas zu klären gab.

Ihre Augen begegneten den seinen, ein klares kristallblau, das scheinbar
tief in seine Seele eindrang. "Wir haben keine Arbeitsplatzversicherung,
die uns jetzt unterstützt," murmelte sie. "Wir müssen herausfinden, was das
für uns bedeutet."

Die Zeit stand still; er war nicht in der Lage zu atmen. "Ich weiß, was das
für mich bedeutet," flüsterte er erschrocken jenseits der Vernunft darüber,
was sie als nächstes sagen könnte, dass sie nicht dasselbe empfinden
könnte...

Aber als er sie ansah, wurde ihr Blick weicher zu einem Ausdruck, von dem
er nicht einmal gewagt hatte zu träumen, ihn dort zu finden. "Für mich
auch," flüsterte sie.

Netterweise fuhr die Zeit fort, still zu stehen, als er in ihren Augen die
einzige Wahrheit, die ihm noch wichtig war, suchte und auch fand.

Ihr erster Kuss war zart und schüchtern, ein leichte Berührung ihrer
Lippen, was weniger der Vollzug von Leidenschaft war als vielmehr ein
Versprechen, das noch kommen würde - doch dieses stumme Versprechen setzte
ihn unter Strom, indem es kaskadenartige Wellen des Glücks durch ihn
schickte.

Dann begann die Zeit, wieder weiterzulaufen und unterbrach unsanft diesen
Moment des Glücks mit der plärrenden Ankündigung, dass ihr Bus bereit war
zum Einchecken.

Er brach den Kuss mit einem tiefempfundenen Seufzen ab, mühte sich auf
seine Füße, reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen zu helfen - er zog
sie auf die Füße und in seine Arme in einer einzigen glatten Bewegung. Um
sie herum setzten sich die anderen Passagiere in der Schlange in Bewegung
und griffen nach ihren Koffern, als der Busfahrer zur Tür kam und dazu
aufrief, die Tickets bereitzuhalten; er grub in seiner Tasche nach seinem
Ticket, als sie die Hand nach ihrem ausstreckte, und gleich darauf ordneten
sie sich mit dem Rest in die Reihe vor dem Bus ein.

Er war überfüllt, aber sie waren ausreichend weit vorne in der Schlange
gewesen, um zwei Sitze nebeneinander zu ergattern. Noch einmal ließ sie
sich in seinen Armen nieder - aber jetzt war es anders, auf irgendeine
Weise; sogar diese einfache Umarmung hatte sich verändert, durch die
beidseitige Erkenntnis, dass da weit mehr war, als nur platonische
Zuneigung und gemeinsame Ziele, was sie verband.

Pünktlich startete der Bus von der Haltestelle, der Dunkelheit
entgegenrumpelnd, auf leeren, mitternächtlichen Straßen auf seinem Weg aus
der Stadt hinaus. Er starrte über ihren Kopf hinweg, an ihr vorbei, so
durchdringend, dass sie sich in seinen Armen drehte, um zu erkennen, wo er
hinschaute.

Washington, D.C. Zuhause. Alles, was sie erfahren hatten. Alles, was ihnen
vertraut war, zog an ihnen vorüber, schlich sich weg, als ob alles ein
Traum gewesen wäre.

"Leb wohl," murmelte sie von sich hin. Ein ernster Abschied von den Leben,
die sie einmal geführt hatten.

Leben, die voll von Traumata, von Verlust gewesen waren. Mit endlosem
Streben das Unerklärliche zu entwirren. Verzweiflung, Enttäuschung, die
ihnen wieder und wieder und wieder ins Gesicht geschlagen hatten, Kampf bis
es keine Kraft mehr zum Kämpfen gab...

Zog an ihnen vorüber, schlich sich weg, als ob alles ein Traum gewesen
wäre.

Es war alles weg; sie hatten nichts zurückgelassen.

Außer dem stummen Versprechen, ausgedrückt in der Wärme einer Umarmung,
geäußert in einem einzigen sanften Kuss...

Mit einer Hand drehte er ihr Gesicht vom Fenster weg, zu ihm hin und er
nahm ihren Anblick begierig in sich auf - jetzt braunhaarig, aber noch
immer *sie*. "Hallo," flüsterte er. "Hallo, Lisa."

Für eine Sekunde schien es, als ob sie nicht verstand; und dann lächelte
sie - außergewöhnlich strahlend, ein Lächeln voller Wärme und Zärtlichkeit
und Liebe. "Hallo, Tom," flüsterte sie.

Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest als Washington an ihnen
vorüberzog, unbeachtet, unbemerkt.

*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*

"Hey, Davis!"

Der plärrende Ruf des Vorarbeiters hallte durch das Lagerhaus, war sogar
über der schallenden Rockmusik aus dem Radio hörbar. Tom setzte seinen
Hitzeversiegler ab und sah auf, wobei er sich fragte, was er denn dieses
Mal falsch gemacht hatte.

Aber Pat wirkte nicht wütend. Statt dessen, war da ein ernster Ausdruck in
seinen Augen. "Deine Frau hat gerade aus der Klinik in der Nassau Avenue
angerufen," sagte er. "Sie will, dass du sie gleich dort triffst."

‚Die Klinik? Gleich? Was...' Wilde, furchterregende Gedanken jagten durch
sein Hirn, als er sich seine Jacke schnappte und aus der Fabrik eilte. Er
rannte die neun Blocks ohne auch nur einmal anzuhalten und erst als er
fast da war, fiel es ihm ein: ‚Ich habe vergessen meine Zeitkarte zu
stempeln,' und es war nicht wichtig, nicht im geringsten.
Lisa war wichtig. Sonst gar nichts.

Er stürmte durch die Tür, keuchend, außer Atem, und sie stand da im ersten
Büro, ganz und am Leben und unverletzt - ein gewaltiger Knoten löste sich
in ihm bei ihrem Anblick, in einer großen Welle der Erleichterung - dann
zog er sich noch fester zusammen als zuvor, als er den Ausdruck schierer
Panik auf ihrem Gesicht sah.

"Mulder," flüsterte sie.

Seine Augen weiteten sich, erstaunt und ängstlicher als je zuvor -sie
wusste genau, dass sie diesen Namen nicht benutzen sollte, sie hatte diesen
Namen *nie* benutzt, nicht seitdem all das begonnen hatte - da musste etwas
ganz schrecklich verkehrt laufen, dass sie ihre Tarnung so durchbrach.
"Lisa," flüsterte er eindringlich, eine Erinnerung und eine flehende Bitte
an sie, ihm zu erzählen, was vor sich ging...


Sie eilte zu ihm, um nur in seine Arme zu fallen. Instinktiv, hielt er sie
eng an sich und merkte, dass sie aufs heftigste zitterte. "Was *stimmt
nicht*?"

Ihr Kopf kippte nach hinten, Augen, die die seinen suchten - und das war
der Moment, in dem er verstand, dass da mehr als einfache Panik in ihrem
Gesicht war. Etwas wie... Verwunderung?

"Ich bin schwanger," sagte sie.

Für einen langen Moment konnte er nur vor sich hin starren.

"Das... das ist unmöglich," schaffte er schließlich zu stammeln. "Oder doch
nicht?"

"Das dachte ich zumindest," antwortete sie mit beinahe ruhiger Stimme.

‚Schwanger.' Das konnte nicht sein. Diese Schweinehunde hatten dafür
gesorgt. Sie hatten ihr ihre Fruchtbarkeit genommen, als sie ihr Leben
zerstört hatten...
"Sind... sind sie sich sicher...?"

...in einem schäbigen Ein-Zimmer-Apartment zu leben, ohne
Krankenversicherung um die medizinischen Kosten zu decken, ohne Geld, um
die unvermeidliche Fehlzeit bei der Arbeit zu überbrücken, die Ausgaben für
Windeln und Babynahrung und Kinderpflege. Keine Freunde, keine Familie, an
die sie sich wenden, die sie um Hilfe bitten konnten... Ihre Mütter würden
nie wissen, dass sie Großeltern wären...

Es hätte ein erfreuliches Wunder sein sollen. Statt dessen war es ein
Alptraum. Die Unerbittlichkeit ihrer Situation hatte gerade ein Ausmaß
angenommen, das noch schwerer zu überwinden war und diese Erkenntnis
durchdrang ihn wie Blei.

Lisa, die vernünftiger und pragmatischer war als er es je gewesen war, war
ohne Zweifel schon zu derselben Erkenntnis gekommen.

Und es gab nur einen möglichen Weg, mit der Situation fertig zu werden.

"Wir werden zurechtkommen," sagte er nahezu unhörbar. Dann lauter: "Wir
werden es schaffen, Lisa."

Sie starrte ihn an, ungläubig, mit dem verzweifelten Willen zu glauben.

Er streichelte ihr Gesicht mit liebenden Händen, kostete ihren Anblick aus
und wie sie sich anfühlte, wie er es immer tat - er konnte das auf keinen
Fall jemals als selbstverständlich betrachten, nicht nach all den Jahren,
in denen solche einfachen Vergnügen verwehrt gewesen waren. "Uns wird es
gut gehen," versprach er. "Uns allen dreien."

Tränen funkelten in ihren Augen. "*Wie?*," wollte sie wissen.

Das war eine Antwort, die er noch nicht hatte. Aber er würde sie haben,
bald. Er würde sich darum kümmern.

"Irgendwie," antwortete er mit Überzeugung.

Sie gab ein kleines Geräusch von sich, fast ein Schluchzen und vergrub ihr
Gesicht an seiner Brust. Er erkannte es als Aufgabe, als Annehmen seiner
Überzeugungen, obwohl sie es selbst noch nicht glaubte.

"Wir werden einen Weg finden," flüsterte er in ihr Haar. "Ich glaube an
uns," und nur einmal, nur für diesen Moment gab er sich der Erinnerung hin,
wer sie einmal gewesen waren. "Scully," murmelte er und irgendwie *spürte*
er, dass sie lächelte.

*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*°*

Die Sonne brannte auf ihre Köpfe nieder, als sie Hand in Hand von der
Greyhound-Bushaltestelle kamen. Es war eine lange Fahrt gewesen, aber jetzt
war sie vorbei. Und obwohl es ein höllisches Risiko war, überhaupt dort zu
sein, war die Wärme des Winters in Florida eine willkommene Abwechslung zum
New Yorker Eis.

Nach einer Weile legte sie ihre Jacke ab und er faltete sie sorgfältig
zusammen und steckte sie in die Tasche, die er trug: Ein einziger billiger
Matchbeutel, der ihren geringen weltlichen Besitz enthielt. Die Tasche war
ziemlich schwer, aber es machte ihm nichts aus, sie zu tragen - es war mehr
als fair: Sie trug ja schon zusätzliches Gewicht.

Als sie die Straße zu ihrem Ziel hin überquerten, bemerkte er ihr
Spiegelbild in einem Schaufenster und es überraschte ihn, wie normal sie
aussahen. Eben ein typisches Paar: Der Mann groß und zu mager von Monaten,
in denen er nie genug zu Essen bekommen hatte, aussehend wie ein
gewöhnlicher, einfacher Arbeiter mit seinem Bart, dem Flannelshirt und den
dreckigen Jeans. Die Frau zierlich und hübsch, ihr Gesicht eingerahmt von
einer Mähne aus sanften braunen Locken, die ihren Rücken herabfielen, ihr
billiges Baumwollsommerkleid fiel in Falten über die Rundung ihres Bauches.
Sonnenlicht glänzte an den goldenen Ringen, die sie trugen, die einzigen
Gegenstände von irgendeinem wesentlichen Wert, die sie besaßen, und
entsandten ein leuchtendes Glitzern, das über den Platz wirbelte...

Ein schöner, heller, sonniger Tag: Ein guter Tag für einen neuen Anfang.
Jedenfalls hoffe er das. Wenn er sich irrte, wenn es hier für sie keine
Lösung gab..., nun, sie hatten ihr letztes Geld für die Bustickets
ausgegeben und es gab keinen anderen Ort, an den sie sich wenden konnten...

Aber er weigerte sich, daran zu denken. Statt dessen konzentrierte er sich
auf die zarte Wärme der Hand, die in seine gelegt war, auf die Art, wie ihr
Haar im Sonnenlicht glänzte.
Die Adresse sah, als sie dort ankamen, ganz so aus wie der Rest der
Geschäfte in der Straße: ein kleiner Haushaltswarenladen mit staubigen
Fenstern und einem verblaßten Schild über der Tür. Für einen langen Moment
starrten sie das Gebäude an - für einen anderen langen Moment starrten sie
einander an - und dann nahm er einen tiefen, tiefen Atemzug und ließ sie
hinein.

Eine kleine Glocke bimmelte, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Der
Kunde am Ladentisch bemerkte sie nicht oder kümmerte sich nicht um sie -
aber der langhaarige Lagerist sah auf als sie den Laden betraten und ließ
beinahe seinen Besen fallen in vollkommener Überraschung.

Ihn sorgsam ignorierend, gingen sie gemeinsam zur Ladentheke, wo der
Ladenbesitzer die Waren in die klingende Kasse eintippte. Der Kunde nahm
seinen Einkauf und verließ den Laden, womit er dem Besitzer gestattete, das
Paar, das vor ihm stand, zu begutachten.

Der stämmige Mann ließ sich Zeit damit, sie zu mustern, anscheinend nahm
er ihren Anblick ganz in sich auf. Seine Augen wanderten langsam einmal von
Kopf bis Fuß über sie, und weiteten sich ein wenig als sie den Beweis ihrer
Schwangerschaft wahrnahmen, dann kehrten sie zurück zu ihren Gesichtern.

"Kann ich Ihnen helfen?" fragte er und obwohl der Tonfall seiner Stimme
absichtlich gleichgültig gehalten war, lag in seiner Anfrage weit mehr als
die Höflichkeit eines Ladeninhabers oder als die Gastfreundschaft des
Südens.

Tom ließ den Atem heraus, von dem er sich nicht bewußt war, dass er ihn
angehalten hatte. "Mister... Taylor?" sagte er vorsichtig, den neuen Namen
über seine Zunge gleiten lassend, sich an das Gefühl von ihm dort
gewöhnend. "Meine Frau und ich," mit der leisesten Betonung auf dem
entscheidenden Wort, wobei er das kleine Lächeln, das den anderen Mann
zierte, nicht übersah, als er es sagte, "wir sind neu in der Stadt und wir
haben uns gefragt, ob Sie vielleicht Jobs für uns hätten."

Nach einer langen, qualvollen Pause, die nicht länger als eine Sekunde
gedauert haben konnte, lächelte der Ladenbesitzer; ein breites Grinsen, das
sie nie gesehen hatten in den alten Tagen. "Oh, ich glaube, uns wird schon
was einfallen," sagte er.

In der Spanne dieses Moments, als die Sonne durch die schmutzigen
Schaufenster schien und dabei die Staubkörnchen in der Luft zum Funkeln
brachte, wußte Tom Davis, dass alles gut werden würde.

Dann kam ‚Mister Taylor' um die Ladentheke herum, legte eine breite Hand
auf Toms Schulter und die andere auf Lisas. "Willkommen daheim, Kinder."

"Danke, Sir," sagte Lisa, die übertriebene Förmlichkeit ein
übriggebliebenes Relikt der alten Tage.

Der langhaarige Lagerist kam dazu, um sie zu begrüßen und es folgte eine
Runde von Händeschütteln und unbefangenen Umarmungen, die tiefempfundene
Wiedervereinigung der alten Freunde, die sich nie offiziell begegnet waren.
Taylor schnappte sich einen Stuhl und wies Lisa an, sich hinzusetzen, damit
sie ihre Füße ausruhen konnte, griff sich eine Hand voll Münzen aus der
Registrierkasse und schickte "Joe, den Lageristen" runter zur Tankstelle,
damit er ein paar Cokes besorgte und den anderen erzählte, was passiert war
- dann richtete er seinen Blick auf Tom.

"Mein Fußboden gehört noch immer gekehrt," sagte er mit einem schiefen
Grinsen. "Damit könnte dieser Job doch gut beginnen, oder?"

Tom grinste zurück zu seinem alten und zukünftigen Chef. "Ja, Sir," sagte
er.

Der Sturm war vorüber und obwohl der neugefundene Sonnenschein seine
eigenen Probleme inne hatte... würde jetzt alles gut werden.

Er beugte sich herab, um seine Frau zu küssen, dann nahm er den Besen auf
und fing an, den Boden zu kehren.

Ende
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Lyrik by Nelson, 1990
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