World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Besessen

von Believer

Kapitel 1

Titel: Besessen
Autor: Marion
Kontakt: bewerte-mich@web.de
Spoiler: Schatten, Die Hand, die verletzt
Rating: R 16
Kategorie: Angst, MSR
Short-Cut: Mulder und Scully werden zu einem Fall gerufen, der über die Grenzen einer normalen X-Akte hinausgeht. Mulder wird zu einem Opfer seiner eigenen Überzeugungen

Disclaimer: Fox Mulder, Dana Scully, Lauren Kyte und E.V. Tooms gehören natürlich Chris Carter, 1013 Productions und 20th Century FOX. Ich habe sie mir nur mal ausgeborgt.

Author’s Note: DAS GANZE LEBEN IST EINE X-AKTE, DIE GRÖSSTE VON ALLEN




Etwas außerhalb von Washington D.C., Samstag, 14.09.1999, gegen 14.30 Uhr


Dana Scully sah auf die spielenden Kinder hinunter und lächelte.

„Dana, kommst du mal eben“, holte die Stimme ihrer besten Freundin Judy sie aus den Gedanken.

Judy war Dana äußerlich sehr ähnlich, sie waren in etwa derselbe Typ, beide etwas unter mittelgroß, zierlich, kleine Hände und Füße und halblanges Haar, das bei Dana rot schimmerte; bei Judy war es eher blond. Aber so ähnlich sie einander auch sein mochten, so grundverschieden waren sie doch, was ihre Art betraf.
Judy war die weiblichere von ihnen, Dana zäher, kühler, distanziert nahezu.

Judy war eher der mütterliche Typ.

Kein Wunder, Dana, sie IST Mutter!

„Ich dachte, du könntest mir vielleicht bei den Waffeln helfen, Dana.“
„Aber sicher doch, bevor es einen mittleren Brand gibt.“


Dana griff lächelnd nach der Schüssel voll Teig.

„Ach, ich wünschte, ich wäre als Hausfrau nur halb so gut wie du, Dana“, sagte Judy.

„Dafür bist du Ehefrau und Mutter“, gab Dana zurück, „auch anstrengend genug.“

„Wenn du das auch noch wärst, könnte ich dir gar nicht mehr das Wasser reichen.“
Sie sah Dana Scully nachdenklich von der Seite an. „Warum suchst du dir keinen Mann?“

„Ach, Judy, dafür habe ich gar keine Zeit.“
„Zuviel Arbeit, ich weiß. Seit du dich für paranormale Dinge interessierst, bist du noch mehr unterwegs als früher.“
Ihre hellen Augen blitzten.
„Sag mal, wie sieht es mit deinem Kollegen aus. Wie hieß er noch, Mulder, nicht wahr?“
Scully nickte.
„Und, wie wär’s mir ihm, Dana?“

„Er lebt für seine Arbeit, Judy.“
„Na und, du doch auch. Warum tut ihr euch dann nicht zusammen?“
„Lass den Quatsch, Judy.“

Es läutete an der Tür und gleichzeitig klingelte das Telefon.

Dana nahm ab. „Ja, bitte ? Moment. Judy, für dich !“

„Ich komme. Julian, machst du mal bitte die Tür auf?“
„Klar, Mom.“

Scully füllte neuen Teig in das Waffeleisen und strich sich die Haare aus der Stirn. Sie hörte Judy lachen. Judy lachte eigentlich immer, sie war der fröhliche Teil von ihnen, sie, Dana, der eher nachdenkliche.

Wie war sie nur ausgerechnet auf Fox Mulder gekommen? Was für ein absurder Gedanke !
Wirklich ?

Sie buk weiter.

Plötzlich hörte sie von draußen Gelächter und unwillkürlich lauschte sie.

Judy telefonierte noch immer.

Und dann hörte sie Julians Stimme:
„Tante Dana ist in der Küche. Sie backt Waffeln, weil Mutti immer alles anbrennt!“

Mit wem sprach er da?

Sie drehte sich um und ließ um ein Haar die Schlüssel fallen.

Julian stand in der Tür, in voller Indianermontur und neben ihm, die Hände gefesselt...

„Mulder, was tun Sie denn hier?“ Sie sah ihn verblüfft an.
„Ich suche Sie, Scully!“
„Warum gefesselt, Julian ?“
„Er ist mein Gefangener, Tante Dana.“

„Mach ihn sofort los, Julian, du kannst doch nicht einfach einen Besucher fesseln.“
„Fox ist ein Freund“, sagte Julian.
„Und warum fesselst du ihn dann? Ein richtiger Indianer fesselt nur seine Feinde!“

Sie sah das Lächeln auf Fox Mulders Gesicht und dann auf ihre mehligen Hände.

Ach, du Schreck !

„Dana, bist du inzwischen fertig geworden?“
Judy sah erstaunt auf, den ihr unbekannten, Besucher.

„Judy, das ist mein Kollege Fox Mulder. Mulder, meine beste Freundin Judy.“

Mulder nahm und drückte eine der Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Schließlich war da immer noch die Fessel um Mulders Handgelenke geschlungen.

„Warum sind Sie hier, Agent Mulder?“

„Ich muss Ihnen Ihre Freundin leider schon wieder entführen.“
„Das ist aber schade. Jetzt, wo sie gerade mitten im Backen ist.“ Sie sah Dana an. „Wie lange brauchst du noch?“
„Etwa eine Viertelstunde.“ Judy wandte sich an Mulder. „Meinen Sie, Sie haben noch eine Viertelstunde, Mr. Mulder?“
Er lächelte. „Sicher, lassen Sie sich ruhig Zeit, Scully. Ich werde inzwischen mit Julian die Friedenspfeife rauchen.“

Er folgte dem Jungen nach draußen.

„Wow“, sagte Judy, als er gegangen war.
„Was ist wow?“
„Ich habe ihn mir anders vorgestellt, Dana. Nicht so jung und so attraktiv.“
„Nein ?“
„Nein. Ist er verheiratet?“
„Ja.“
„Was ?“
„Mit seinem Job“, sagte Dana trocken.
„Ach, Dana. Hast du deinem Kollegen schon einmal in die Augen gesehen?“
„Ja, öfter, wieso ?“
„Dein Mulder hat verdammt schöne Augen.“
„Vielleicht hat er die, aber er ist nicht mein Mulder, Judy.“
„Back weiter, damit ihr endlich los könnt.“
Sie verließ die Freundin.

Judy war wirklich verrückt. Als wenn sie nicht wusste, dass Fox Mulder als Mann weiß Gott nicht übel war.
Aber als Mann hatte er sie nicht zu interessieren.
Er war ausschließlich ihr Kollege und das würde er auch bleiben.











Etwa eine halbe Stunde später in Mulders Wagen


„Woher wussten Sie, dass ich bei meiner Freundin bin“, fragte sie ihn später.
„Sie haben es mir gesagt“, antwortete er und sah sie kurz an.

„Ach ja, richtig. Ich sagte Ihnen, ich müsste zum Kindergeburtstag.“
„Wie alt ist Julian?“
„7“, gab sie Auskunft.
„Ich mag ihn“, hörte sie ihn leise sagen und für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass er unwillkürlich an seine Schwester dachte.
Sie glaubte fast, seinen Schmerz zu fühlen.
Minutenlang war es sehr still in dem Wagen. Nur das Motorengeräusch war zu hören.

„Wo müssen wir hin, Mulder“, unterbrach sie dann das Schweigen zwischen ihnen.
„Nach Whiskey, Alabama!“
„Alabama?“

„Ja, jemand bringt reiche Geschäftsleute um.“
„Ein Fall für das FBI, sicherlich, aber warum wir ?“
„Weil dieser jemand die schärfsten Sicherheitsvorkehrungen umgeht Er löst niemals den Alarm aus. Man findet seine Opfer am nächsten Tag und keiner hat etwas gehört oder gesehen.“





Samstag, 14.09.99, Whiskey, eine Stadt in Alabama, städtisches Leichenschauhaus gegen 19.30 Uhr


„Etwas oder jemand hat ihnen den Brustkorb zerstört“, sagte Dana Scully, als sie auf einen der Toten hinunterblickte.

„Ja“, sagte die Pathologin neben ihr, „das stimmt. Aber das seltsamste daran ist, dass es von innen heraus geschehen sein muss.“

„Etwas hat sie von innen zerstört. Und wie soll das gehen?“ Scully sah Mulder fragend an.

„Aus diesem Grunde haben wir Sie angefordert“, sagte die Gerichtsmedizinerin, streifte ihre Einmalhandschuhe ab und ließ sie in den grünen Abfalleimer fallen.

„Sehen Sie, wir können uns das auch nicht erklären. Es sind keine Spuren einer Waffe vorhanden, keine Schnittführung ist erkennbar. Wenn es so was wie ein Messer war, dann ein sehr ungewöhnliches. Es sieht fast aus, als seien sie auseinander gerissen worden, aber das müsste man auch sehen. Es klingt vielleicht blöd, aber kennen Sie diese widerverschließbaren Verpackungen? So in etwa sieht es aus. Verrückt, nicht wahr? “






Auf der Straße vor der Leichenhalle

„Ich habe niemals etwas ähnliches gesehen“, sagte Scully, als sie etwas später auf dem Bürgersteig standen, „wie kann so etwas geschehen?“

„Durch Telekinese“, hörte sie Mulder sagen.

„Sie meinen diese Sache mit dem Stühlerücken? Mulder, das ist ein Spiel für Kinder, die sich bei den Händen fassen und einem Tisch Fragen stellen.“

„Es ist mehr als das, Scully.“ Er blieb stehen. „Sehen Sie.“

Er griff in seine Jacketttasche und hielt ihr ein Foto hin.

„Was erkennen Sie darauf, Scully?“

„Eine Frau steht am Fenster!“

„Gut und was noch ?“

„Links neben ihr steht ein Mann.“

„Irrtum.“

„Wieso das ? Ich kann ihn doch sehen.“

„Glauben Sie mir, dass er nicht da war, als das Foto gemacht wurde.“

„Aber...“

„Scully, ich weiß es genau, ich habe es selbst geschossen. Das hier ..“ Er wies mit dem Finger darauf, „ist eine 1000fache Vergrößerung. Erinnert Sie dieses Bild nicht an etwas, Scully? Der Mann, den Sie auf diesem Bild sehen können, war gerade gestorben und dennoch ist er hier, auf diesem Bild.“

„Lauren Kyte“, sagte Scully. „Sehen Sie, Ihr Gedächtnis lässt Sie wie immer nicht im Stich.
Erinnern Sie sich, Scully. Sie wissen, wer der Mann war und Sie wissen auch, dass er sie beschützt hat.“

„Sie kann ihn nicht sehen.“

„Nein, sie sieht ihn nicht, aber sie weiß, dass er da ist und das ängstigt sie.“ Er sah Scully aus seinen haselnussbraunen Augen durchdringend an.

„Vergessen Sie die Sache mit dem Tisch, Scully, das ist etwas ganz anderes- das hat nichts mit Telekinese zu tun. Sie sind Wissenschaftlerin, Scully. Sie kennen den Unterschied.“

Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Es würde vielleicht erklären, warum ihn niemals jemand hörte oder sah“, murmelte er dann vor sich hin.

„Wenn das, was Sie vorhin vermuteten, stimmt, Mulder.
Wir sollten uns die Bilder der Überwachungskameras ansehen.“

„Ein guter Gedanke“, sagte Mulder „Ich sehen, Sie helfen mir wie immer beim Denken, Scully.“ Er lächelte.

„Kommen Sie Mulder, Sie haben das doch von Anfang an vorgehabt.“

„Gott bewahre!“

„Ich kenne Sie, Mulder. Sie sind mir immer einen Schritt voraus. Machen Sie mir nichts vor, ich kenne Sie lange genug.“






Sonntag, 15.09.1999, gegen 10.30 in dem großen Geschäftsgebäude, in dem der letzte Mord geschehen war

„Das ist die Überwachungskamera im Foyer von Parell Enterprises“, erklärte Mulder Scully, „der Wachmann sagte, es sei den ganzen Abend über ruhig gewesen.“

„Lassen Sie weiterlaufen, Mulder!“

Beide verfolgten das Bild auf dem Schirm. „Tut mir leid, Mulder, aber ich sehe überhaupt nichts.“ Sie sah ihn an. „Gibt es noch ein anderes Band.“

„Ja.“

Er wechselte die Kassette aus und startete den Recorder.

Wieder tat sich nichts, zunächst.

Scully betrachtete ihre Fingernägel. Es hingen noch immer winzige Spuren von Mehl daran.

Dann schien Mulder plötzlich neben ihr förmlich zu erstarren. Er griff nach ihrem Arm.
Der Griff war fest, aber nicht schmerzhaft.

„Scully, sehen Sie doch!“
Sie blickte auf den Bildschirm und dann sah sie es plötzlich.
Da war ETWAS,
ETWAS huschte durch das Bild. Sie kniff die Augen zusammen.

„Was ist das, Mulder?“

Das seltsame Etwas huschte weiter und Mulder drückte die Standbildtaste.
„Es sieht aus wie eine schnelle Bewegung, zu schnell für das menschliche Auge“, sagte Scully und starrte nachdenklich auf den Monitor.

„Warten Sie, ich werde versuchen, es zu vergrößern“, schlug Mulder vor.
Er zoomte das Bild, so weit es die technischen Gegebenheiten zuließen.
Das Ergebnis war ein zwar recht grobkörniges, aber verhältnismäßig klares Bild.

Scully sah es sich an und dann weiteten sich ihre Augen.
„Himmel, Mulder. Sie haben Recht. Es war tatsächlich jemand da und niemand hat ihn gesehen!“

Minutenlang schwieg sie, dann sprach sie weiter:
„Es war ein Mann, schätzungsweise 30, von eher schmächtiger Gestalt. Er lässt seine Opfer jämmerlich zugrunde gehen – warum tut er das? Was für ein Motiv hat er?“
Mulder ließ sich das Bild ausdrucken und sein Blick glitt nachdenklich darüber.

„Wir sollten einen Blick in die Tageszeitungen der letzten Zeit werfen, Scully. Vielleicht hat irgendjemand Ähnlichkeit mit unserem Besucher. Es ist zumindest einen Versuch wert.“







Zimmer von Fox Mulder im Whitehorse- Motel, gegen 17 Uhr


Scully und Mulder saßen auf Mulders Bett und blätterten Berge von Zeitungen durch, stundenlang, ein halbes Jahr Berichterstattung.

Scully war so müde, dass ihr beinahe die Augen zufielen, als sie plötzlich etwas in der letzten Zeitung ihres Stapels hellwach werden ließ.

„Mulder“, sagte sie.
„Ja ?“
„Ich glaube, ich habe ihn gefunden!“

Er lehnte sich zu ihr herüber.

„Zeigen Sie mir noch mal das Bild, Mulder“

Er hielt es neben das Bild aus der Zeitung.

„Das ist der Mann“, sagte Scully tonlos und warf Mulder einen Blick von der Seite zu.
Er las den Text unterhalb des Fotos.

Leslie Schubert doch kurz vor der Begnadigung ?

Leslie Schubert, 28, verurteilt wegen 3fachen Mordes hat wohl doch im vierten Versuch Erfolg mit seinem Gesuch auf Begnadigung beim Gouverneur McNeill.

Mulder sah auf und Scully an.
„Ich erinnere mich an diesen Kerl. Er ist eine Art Toomsverschnitt, zumindest, was seine Fortbewegungsart betrifft. Kriecht auch durch Belüftungsschächte.
Hat aber keine Leber gegessen und Winterschlaf gehalten.“

Scully hörte ihm aufmerksam zu. Er sprach, als diktiere er einen Bericht.
Ja, jetzt erinnerte sie sich auch an diesen Schubert.

Schubert hatte seinen Opfern den Brustkorb aufgeschlitzt, ihnen alle lebenswichtigen Organe entnommen und sie sich als Trophäen, in Spiritus eingelegt, auf den Kaminsims gestellt.

Er war nach dem Mord an seinem dritten Opfer gefasst worden, nachdem ihn eine Putzfrau dabei beobachtet und sofort den Sicherheitsdienst benachrichtigt hatte.

„Mein weiß bis heute nichts über sein Motiv“, sagte Mulder.

„Damals schlitzte er ihnen den Brustkorb mit einem Messer auf. Jetzt tut er es von innen?
Warum, frage ich Sie“, sagte Scully, „und v. a. wie?“

Sie stand auf und trat ans Fenster.

„Da versucht man, einen solchen Verbrecher auszuschalten, in dem man ihn verurteilt und einsperrt. Aber Gefängnismauern sind kein Hindernis für ihn. Er überwindet sie einfach.“

Sie wandte sich zu ihm um.

„Mulder, was ist mit der Begnadigung von Schubert? Hat der Gouverneur dem stattgegeben?“

Mulder sah ihr direkt in die Augen. „Was ?“

Scully war es, als schrecke er zusammen, als sie ihn ansprach. Wo war er nur mit seinen Gedanken gewesen und warum hatte er sie so angesehen, so plötzlich.
So seltsam intensiv. Scully sah zur Seite.

Als sie seinem Blick wieder begegnete, waren seine Augen wie immer, haselnussbraun, voll leichtem Spott und sie hatte ihr plötzliches Herzklopfen wieder unter Kontrolle.
Sie hatte noch niemals Herzklopfen gehabt, wenn Mulder sie ansah.
Aber er hatte sie auch noch nie so angesehen wie gerade eben.

„Nein“, sagte Mulder.
„Was, nein ?“ Scully sah ihn verwirrt an.
„Sie fragten mich gerade, ob dem Bittgesuch Schuberts von Seitens des Gouverneurs stattgegeben worden ist. Er lehnte es ab. Schubert sitzt nach wie vor in seiner Zelle.“

„Woher wissen Sie das so plötzlich, Mulder?“
„Ich las es in der Ausgabe vom letzten Montag, Scully“, entgegnete Mulder mit einem Lächeln in der Stimme.

„Ach so“, Scully nickte zerstreut, „nun, vielleicht finden wir so ein Motiv.“ Sie ließ sich in den Sessel sinken und sah Mulder an, der noch immer am Fenster lehnte.
Er gab ihren Blick ruhig zurück.

Mulders Jacke hing über der Stuhllehne, er hatte seine Krawatte abgenommen und seine Hemdsärmel aufgekrempelt.

Seine dunklen Haare standen wild vom Kopf ab, weil er immer wieder gedankenverloren mit den Fingern hindurchgestrichen hatte.

Mulder hatte etwas von einem großen Jungen, stellte Scully in diesem Moment fest.
Von einem sehr liebenswerten großen Jungen.
Was für ein absurder Gedanke zu einem unmöglichen Zeitpunkt.

Es hat nichts mit dem Zeitpunkt zu tun, Scully
Diesen Gedanken hast du schon öfter gedacht
Und es nichts Absurdes daran, rein gar nichts

Wow
Wieso dachte sie jetzt an Judy und die Geburtstagsfeier
Ein Kollege , Dana
Genau

Scully holte tief Luft und setzte sich auf. Sie würde jetzt nicht weiter über Fox Mulder nachdenken und auch nicht darüber, warum sie ihn gerade in diesem Augenblick besonders anziehend fand.
Sie mussten über ein Motiv reden, das Motiv eines Mörders, der von innen heraus tötete.

„Sagen Sie mir, was jetzt zu tun ist, Mulder“, wollte sie dann eher beiläufig von ihm wissen.
„Warum sagen Sie das, Scully?“
Seine Stimme klang beinahe verletzt.

„Warum ich das sage?“ Scully strich sich eine Strähne ihres roten Haares aus dem Gesicht und sah ihm offen in die Augen.
„Ich sage es, weil ich glaube, dass Sie es wissen, Mulder. Sie wissen, was hier vor sich geht.
Und was wir tun müssen!“

Die ungewöhnlichen Augen ihr gegenüber schienen einen Ton dunkler zu werden.
„Sie glauben doch an Gott, oder Scully?“, sagte er dann mit rauer Stimme.
„Ja, warum ?“
„Weil Sie Ihren Glauben brauchen werden in der nächsten Zeit. Möglichst viel davon.“

Er wandte sich um und blickte wieder aus dem Fenster auf den Hof hinaus, auf dem nur zwei Wagen standen, der des Motelverwalters und ihr Leihwagen.

Scully sah fragend auf seinen Rücken.
Wieso hatte er nach ihrem Glauben gefragt?

„Morgen früh werden wir Freund Schubert einen Besuch abstatten“, sagte Mulder dann nach einer Minute des Schweigens, „ich würde mich gerne mit ihm unterhalten!“



Staatsgefängnis, Zellenblock A 2311, etwa gegen 2 Uhr nachts


„Sergeant, der Kunde in Zelle 5 schreit wie am Spieß.“ Der diensthabende Beamte blieb vor dem Schreibtisch seines Kollegen stehen.

Sergeant Malcolm Downes sah kurz von seiner Lektüre auf und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
Der Beamte nahm das Bild, das sich ihm bot, in sich auf:

Der Schreibtisch war mit Bergen von Akten bedeckt, Sergeant Downes trug keine Jacke, seine oberen beiden Hemdknöpfe hatte er geöffnet.
Er trug Stiefel, die wohl schon bessere Zeiten gesehen hatten.
Die Sohlen waren voller Erde, der Beamte konnte die einzelnen Erdklumpen genau erkennen, schließlich waren die Füße des Sergeanten nur wenige Zentimeter von ihm entfernt, hatte der doch seine Beine auf die Tischplatte gelegt.

Gelangweilt blickte Downes nun den anderen an.
„Schubert?“ Ein Grinsen erschien auf seinem runden Gesicht. „Lassen Sie ihn schreien.“

„Aber...“, begann der Andere, „wenn er nun Schmerzen hat!“
„Soll Schubert doch Schmerzen haben.“ Er spuckte den Namen förmlich aus.
„Lassen Sie ihn schreien und wenn er es die ganze Nacht lang tut. Dieser Dreckskerl hat meinen Schwager abgeschlachtet und keine Rücksicht genommen. Er kann also nicht auf mein Mitleid hoffen.“ Er sah sein Gegenüber grimmig an und lauschte unwillkürlich.
„Hören Sie noch was, Jones? Jetzt ist er still. Also, gehen Sie wieder an die Arbeit!“


Staatsgefängnis, gegen 8 Uhr, Zeit der Essensausgabe

Der Mann entriegelte das kleine Fenster und schob das Tablett hindurch.
„Schubert“, rief er, „es ist Raubtierfütterung!“
Normalerweise riss ihm Leslie Schubert immer förmlich das Essen aus der Hand.
Er aß den ganzen Tag und war trotzdem dünn wie ein Brett.

An diesem Morgen aber war es anders.
„Hey, Schubert, was ist los?“ Der Mann zog das Tablett wieder zurück, beugte sich herunter und blickte durch das Fenster in die sonnendurchflutete Zelle Leslie Schuberts hinein.
„Schubert, wo steckst du?“
Er sah zum Bett hin und alle Farbe wich aus seinem Gesicht ob dem Bild, das sich ihm bot, und dann ließ er das Tablett fallen und stürzte davon.

„Das ist seltsam, wirklich ungewöhnlich!“
Der Gefängnisarzt blickte nachdenklich auf die Leiche des Häftlings Leslie Schubert hinunter
Er lag auf der mit hellgrauem Baumwollstoff bezogenen Pritsche, seine Haut war wachsbleich, sein helles T-Shirt blutgetränkt.
„Erstaunlich.“ Er schob seine Brille hoch „Wie konnte er das nur schaffen?“
Er hob einen der Arme des Toten und betrachtete sein Handgelenk.
„Wie konnte er seine Pulsadern aufschneiden, so ganz ohne scharfe Gegenstände?
Die Wunden sehen eigenartig aus, fast so, als hätte er von innen nach außen geschnitten.
Sehr ungewöhnlich ! Und was noch ungewöhnlicher ist, wo ist sein Werkzeug?“


Parkplatz des Staatsgefängnisses etwa 2 Stunden später


Fox Mulder stellte den Motor des geliehenen Ford ab und starrte nachdenklich auf den roten Backsteinbau genau vor seinen Augen.

„Mulder, was ist ? Wollen Sie hier anwachsen? Sie wollten mit Schubert sprechen, haben Sie das vergessen?“
„Was ?“ Mulder schreckte aus seinen Gedanken auf
„Natürlich wollte ich das, Sie haben Recht, Scully!“ Er entriegelte seinen Gurt, beide stiegen aus und gingen auf das große Gebäude zu.

Scully sah Mulder fragend von der Seite an, als dieser zögerte, die Tür zu öffnen.
„Mulder, was haben Sie denn?“
„Ich weiß nicht“, sagte er leise, „Ich habe irgendwie so ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ich weiß auch nicht...“
„Na los“, sie legte ihm für Sekunden die Hand auf den Arm. „Sie sind doch sonst nicht so, Mulder!“
Er sah sie an und Scully entdeckte einen ganz neuen Ausdruck in Mulders dunklen Augen.
Es war eine Mischung aus Wärme und ANGST.

Mulder hatte ANGST? Vor was ?

„Kommen Sie Mulder. Wir sollten hinein gehen“
Und Scully öffnete die Tür und schob Mulder hinein.


„Was macht Ihr ungutes Gefühl, Mulder“, wollte sie einige Minuten später von ihm wissen, als sie aus dem Fahrstuhl gestiegen waren und den Gang zu Zellenblock 2311 hinuntergingen.

„Es geht ihm gut, es wird immer intensiver“, sagte er sehr sanft zu ihr und als sie dieses Mal seinen Augen begegnete, waren es die eines Tieres, das gehetzt wird.
Was war nur mit ihm los?


Sie griff nach seiner Hand und drückte sie.

„Ich bin gespannt, was aus Schubert geworden ist!“

Sie betraten das Büro des Sergeanten. „Guten Tag, Sergeant Downes“, sagte Scully kühl und Downes nahm augenblicklich die Füße vom Tisch und sprang auf.
„Sie sind die beiden Agents, nicht wahr, Mulder und Scully.“
Scully nickte kaum merklich.
Was für ein unsympathischer Mensch, durchfuhr es sie.

„Die Pforte sagte mir bescheid, Sie wollten mit Leslie Schubert sprechen.“
„Richtig.“ Mulder sah den anderen Mann an und das ungute Gefühl in der Magengegend verstärkte sich noch.

„Tja, da haben wir ein kleines Problem. Dieses Gespräch mit Schubert gestaltet sich äußerst schwierig, es wird ausgesprochen einseitig werden, da es der gute Mr. Schubert heute Nacht vorgezogen hat, sich das Leben zu nehmen.“

Scully zuckte kaum merklich zusammen und ihr Blick wanderte zu ihrem Kollegen hinüber.
Wie war das noch mit dem unguten Gefühl, Mulder?

„Was ist passiert“, wollte der jetzt von dem Sergeanten wissen.
„Er hat sich die Pulsadern aufgeschnitten“, fuhr Downes ungerührt fort.

„So weit ich weiß, benötigt man dafür einen scharfen Gegenstand“, sagte Scully und ihre Augen wurden schmal.
„Wie, frage ich Sie, konnte dieser Mann an so einen Gegenstand gelangen.“
„Wir haben in seiner Zelle keinen scharfen Gegenstand entdecken können“, meinte Downes und schob sich einen Kaugummi in den Mund.

„Ich möchte ihn sehen“, kam es kurz und kühl von Scully, „sofort!“
„Wenn Sie das möchten, bitte folgen Sie mir.“


Sie gingen in die Leichenhalle des Gefängnisses und trafen dort auf den Gefängnisarzt, der immer noch nachdenklich auf die Leiche Leslie Schuberts hinunterblickte.
In der Luft lag der durchdringende Geruch von Formaldehyd und Tod.

„Agent Scully, Agent Mulder, das ist Doktor Melville, unser Gefängnisarzt, er hat den Totenschein ausgestellt.“

„Dr. Melville.“ Scully nickte ihm zu „Ist Ihnen an Schubert etwas Ungewöhnliches
aufgefallen?“
„Aufgefallen ? Etwas ungewöhnliches, o ja . Ich verstehe es immer noch nicht.
Auch nach mehreren Stunden intensiven Nachdenkens weiß ich immer noch nicht, wie sich jemand seine Pulsadern von innen nach außen aufschneiden kann und das ganz ohne scharfe Gegenstände.“
„Sie haben in der Zelle nichts gefunden, das zu der Art der Verletzungen passen würde?“, ließ sich Mulder vernehmen.
Der Doktor sah ihn an und schüttelte langsam den Kopf mit der Halbglatze.
„In den 40 Jahren meiner Tätigkeit als Arzt ist mir nie etwas Ähnliches begegnet. Es sieht komisch aus, gar nicht nach einem Messer oder ähnlichen, eher wie eine… wie soll ich es nennen...“
„Meinen Sie etwas wie eine widerverschließbare Verpackung“, sagte Mulder. Seine Stimme triefte vor Zynismus.
„Ja ! Genau das ist es, Agent Mulder. Das meine ich, genau das. Keine scharfen Kanten, keine Risse in der Haut. Einfach nur auf. Fast wie ein Reißverschluss.“

Scully hob das weiße Tuch und betrachtete nachdenklich Schuberts schmale Handgelenke.
Der Doktor hatte Recht. Die Wunden ähnelten denen an den Leichen, wegen derer sie überhaupt hierher gekommen waren.
Was war das nur für ein Fall?
Ein Fall, bei dem Mulder sie nach der Stärke ihres Glaubens fragte und sie Angst in seinen Augen entdeckte.
Er hatte mit seiner Ahnung recht gehabt.
Sie hatten geglaubt, eine Lösung zu haben und jetzt standen sie wieder am Anfang.
Ihr „Verdächtiger“ war tot, gestorben wie die, die er auf dem Gewissen hatte.
War das, was Schubert getan hatte ein Eingeständnis seiner Schuld?
Hatte er sich selbst nicht mehr ertragen können?
Sie blickte Schubert noch einmal in das bleiche Gesicht. Er sah gar nicht wie ein Killer aus – aber wer sah schon so aus?
Scully deckte das Laken über Schuberts Leiche und wandte sich ab.
„Ich denke, ich habe genug gesehen.“

Sie verließen die Leichenhalle wieder und traten auf den Gang hinaus. Scully zog gierig die Luft ein. Sie war schon lange Ärztin, aber richtig hatte sie sich an diesen intensiven, fast beißenden Geruch noch nicht gewöhnen können.

„Hat ihn seine Bösartigkeit schließlich selbst zerstört?“, fragte sie Mulder.
„Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit“, sagte er daraufhin. „Und die wäre?“
„Er war von etwas besessen!“
„Besessen ?“
„Ja, besessen von einer fremden Macht, nennen Sie sie meinetwegen den Teufel, die ihn zum Mörder werden ließ, ohne dass er sich dagegen zu wehren vermochte.“
Scully sah ihn prüfend an.
„Sie glauben das doch nicht wirklich, oder Mulder?“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Ich weiß es nicht, Scully. Aber wenn es wahr wäre, dann stellt sich doch die Frage, ob ihn diese Macht jetzt verlassen hat oder ob sie mit ihm gestorben ist.“
Scully wandte sich um und sah die Tür der Leichenhalle an.
„Sie meinen, das Ding sucht sich einen anderen Wirt und macht ihn zum Killer“
„Vielleicht tut es das, ja.“
„Was können wir dagegen tun?“
„Dagegen tun? WIR können gar nichts dagegen tun. Lassen Sie uns hoffen, dass es mit Schubert gestorben ist.“
Er nahm ihren Arm.
„Kommen Sie Scully, wir können nichts mehr tun, nicht in diesem Moment.“

Im Inneren der Leichenhalle, nur kurze Zeit später

Langsam hob sich das Laken über der Leiche von Leslie Schubert und etwas stieg vom Tisch, etwas, das durchscheinend war, aber dennoch entfernt menschliche Züge hatte.
Etwas, das Türen und Mauern zu überwinden vermochte.
Jede Tür und jede Mauer, auf der Suche nach einem neuen Zuhause, jemandem, der stärker war als der schwache Leslie Schubert.



Gang im Gefängnisblock 2311, kurz vor dem Fahrstuhl


Mulder blieb urplötzlich stehen und Scully wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen.
„Mulder, was ist los?“
„Ich weiß nicht. Ich hatte eben wieder dieses eigenartige Gefühl Vielleicht sollte ich… Gehen Sie schon mal vor, Scully. Ich komme gleich nach.“
Scully nickte und sah ihm fragend hinterher, als er davoneilte, in dieselbe Richtung, aus der sie gerade gekommen waren.


Weiter hinten, im selben Gang

Mulder spürte es, er konnte es fühlen. ES war nicht tot!
Alles andere als das.
Die feinen Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.
KÄLTE
Es war hier, direkt hinter ihm.
Wie in Zeitlupe wandte er sich um.
ES war durchscheinend.
Durch die schemenhafte Gestalt konnte er die grauen Wände sehen.
Er stand ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber und …

plötzlich schoss es wie ein Blitz auf ihn zu.

MULDER sah es kommen, riss die Pistole aus dem Halfter und instinktiv schoss er,
umsonst
Der Schuss hallte von den kahlen kalten Wänden wider.

Er wich zurück, schlug die Hände vor das Gesicht und schrie auf, als es in ihn hineinfuhr.
Die Geschwindigkeit warf ihn gegen die Wand, er schlug hart mit dem Hinterkopf auf und blieb regungslos liegen.



SCULLY hatte den Schuss gehört und war losgelaufen.
Sie sah ihn auf dem Boden liegen, er rührte sich nicht.
„Mulder !“ Scully ging neben ihm in die Knie und legte ihm die Hand auf die Stirn
„Mulder, hören Sie mich?“ Sie griff nach seinem Handgelenk. Der Puls war unnatürlich schnell und seine Hand eiskalt

„Mulder, bitte sag was!“

Jetzt erst bemerkte sie, dass sie Gesellschaft bekommen hatte. Sie standen um sie herum und gafften. Neugierige Blicke. Feindselige Blicke. Schadenfreude in einigen Gesichtern
Downes sprach sie schließlich an. „Was ist passiert, Agent Scully?“
„Ich weiß es nicht, Sergeant. Ich brauche etwas Wasser!“
Jemand reichte ihr ein Glas. „Danke!“

Sie schlug leicht gegen Mulders Wange. „Mulder, wach auf.“
Als das erfolglos blieb, schüttete sie ihm das Wasser ins Gesicht.

Dann war da plötzlich was, ein Husten war zu vernehmen und dann öffnete Mulder langsam die Augen.
„Was ist los“, hörte sie ihn sagen, „und wo bin ich hier?“
Er setzte sich auf und sah die Häftlinge um sich herum.
„Was wollen die alle hier?“
„Sie können gehen“, sagte Scully, „vielen Dank für Ihre Hilfe.“
Sie half ihm aufzustehen.
„Geht es?“
„Ja, danke, geht schon.“
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann zog er seine Hand zurück und betrachtete sie voller Verwunderung.
„Was ist“, fragte sie und als sie das Blut sah, weiteten sich ihre Augen.
„Himmel, du blutest ja. Meinst du, es geht wirklich?“
„Sicher !“ Er berührte seinen Hinterkopf und schüttelte ihre Hand ab.
„Es geht mir gut, wirklich.“
„Wenn du meinst!“

Scully sah ihn verwundert von der Seite an. Er sah alles andere als gut aus.
Seine Blässe erschreckte sie –und noch etwas anderes auch...
Mulder erschien ihr plötzlich seltsam fremd.
Seine Antworten waren ruppig und kurz gewesen, nicht ruhig wie sonst.
Scully, er wird sich beruhigen, lass ihm Zeit
Er ist heute schon den ganzen Tag so merkwürdig.
Sie verscheuchte den Gedanken.

Und dann wurde ihr bewusst, dass sie ihn plötzlich geduzt hatte.
Als sie ihn am Boden hatte liegen sehen, hatte sie einen Moment lang gefürchtet, er sei tot.
Er war es nicht, sagte, es ginge ihm gut, obwohl er wie ein Gespenst aussah.





Parkplatz vor dem Gefängnis, kurze Zeit später


Mulder wollte die Fahrertür des Mietwagens aufschließen, als Scully ihm die Schlüssel aus der Hand nahm.
„Ich werde fahren, okay?“
Er ging wortlos auf die andere Seite und stieg ein.
Scully registrierte mit Verwunderung, dass er gar nicht protestiert hatte, wie sonst, wenn sie vorhatte, zu fahren.
Normalerweise hielt er sich krampfhaft an dem Griff in der Tür fest, aber nun tat er nichts dergleichen.
Scully warf ihm während der Fahrt einige Male verstohlen einen Blick von der Seite zu.
Was war im Gefängnis geschehen, dass er so verändert war?
Es war nicht der Schock.

„Auf was hast du geschossen, Mulder?“
Er wandte ihr sein Gesicht zu und sie sah es in seinen dunklen Augen aufblitzen.
„Auf gar nichts“, sagte er ruhig, aber es lag eine seltsame Kälte in seiner Stimme.
Scully zuckte unwillkürlich zusammen.
„Ist irgendwas?“
„Nein, alles in Ordnung !“
„Gut, ich möchte aussteigen.“
„Aussteigen, hier ? Aber wieso denn das. Wir sollten zum Motel fahren, damit du dich hinlegen kannst.“
Sie sah ihn verwundert an
„Ich habe mir das gerade überlegt. Also ?“
„Willst du nicht doch mit zum Motel fahren, Mulder?“
„Ich ziehe frische Luft dem Bett vor, okay. Also halt an.“
„Bitte.“
Sie stoppte den Wagen, er stieg aus und schloss die Tür, ohne ein Wort zu sagen.

Scully sah ihn losgehen und startete den Wagen wieder.
Was war nur los?
Sie blickte noch mal aus dem Fenster, aber Mulder war nicht mehr zu sehen.
Wohin war er nur so plötzlich verschwunden?




Whitehorse- Motel, gegen 19 Uhr am selben Abend


Scully saß auf ihrem Bett.
Sie hatte ihren eleganten Hosenanzug gegen bequeme Baumwollhosen und ein
Trägertop getauscht.
Seit Stunden war sie nun hier und sprang auf, bei dem kleinsten Geräusch auf dem Korridor vor ihrer Zimmertür.
Mulders Zimmer lag ihrem genau gegenüber.
Als sie ihren Zimmerschlüssel geholt hatte, hatte der von Mulder noch am hölzernen Board gehangen.
Seitdem, es war gegen 15 Uhr gewesen, war sie mehrfach nach vorne gegangen und hatte nachgesehen.
Inzwischen musste der Mann am Empfang sie schon beinahe für eine eifersüchtige Ehefrau halten, die ihrem Angetrauten eine bühnenreife Szene machen würde, wenn der irgendwann zurückkehrte.
Sie lief im Zimmer auf und ab, getrieben von einer seltsamen inneren Unruhe.

Wo war Mulder?
Warum kam er nicht zurück?
Was war im Gefängnis mit ihm geschehen?
Und warum hat sie plötzlich Angst um ihn?

Mulder war ihr Kollege, ein erwachsener Mann, der tun und lassen konnte, was immer er wollte.
Sie hatte kein Recht, ihn zu maßregeln.
Als ob Mulder sich von ihr maßregeln ließe...
Unwillkürlich musste Scully lächeln.
Mulder war der größte Dickkopf, der ihr jemals begegnet war.

Da,
da war es,
das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss drehte.
Er war da, ganz sicher war er das.
Scully blickte auf ihre Armbanduhr.
Zwanzig nach sieben.
Sie musste sich zwingen, nicht aufzuspringen und zu ihm hinüber zu gehen.
Wenn sie das jetzt tat, so aufgewühlt wie sie war, würde sie ihm Vorwürfe machen.
Und das war nicht gut, nein, sicher nicht.
Viel besser war es, ruhig hier auf dem Bett sitzen zu bleiben und abzuwarten.
Gestern waren sie am Abend etwas essen gegangen. Mulder hatte geklopft und sie ausgeführt.

„Ich werde es über die Spesen wieder rein holen“, hatte er gesagt, als sie sich verwundert über die Wahl der Lokalität geäußert hatte.
Und er hatte dabei sein „Mulderlächeln“ gelächelt, dieses Lächeln, das Eisberge zum Schmelzen bringen konnte.
Bis gestern war sie dagegen immun gewesen.
Und heute saß sie hier und hatte Angst um ihn.
Verdammt!
Sie würde jetzt aufstehen und hinübergehen und dann würde sie ihn fragen, wo er gewesen war, und wenn er dann grinsend von ihr wissen wollte, was sie das denn anginge, würde sie ihm erklären, dass sie ein Team wären und er ihr zumindest sagen sollte, wohin er wollte, damit sie ihm zur Hilfe kommen konnte, sollte er in Schwierigkeiten geraten.

Scully erhob sich, ging zur Tür und riss sie auf,
ebenso wie ihre Augen, als sie in Mulders Gesicht sah, der direkt vor ihr stand, die Hand in der Luft, so als habe er gerade klopfen wollen.
„Hallo, Scully“, sagte er.
„Wo waren Sie, Mulder“, kam es von ihr.
„Sie ?“ Er grinste sie schief an. „Hatten wir das nicht seit vorhin hinter uns?“
„Was ? Ja, richtig.“
Sie nickte geistesabwesend.
„Aber das ändert an meiner Frage nichts. Also, wo ?“
„Kann ich reinkommen oder willst du das auf dem Flur besprechen? Ich denke, wir könnten sicher etwas zur Belustigung der anderen Gäste beitragen, aber ehrlich gesagt, habe ich keine große Lust dazu.“
„Komm rein.“
Sie ließ ihn eintreten und machte die Tür hinter ihm zu.

Mulder trat ans Fenster und blickte hinaus.
„Mulder.“
Scullys Stimme klang ungeduldig.
„Unsere Wissenschaftlerin, ungeduldig wie immer.“
Er lachte leise.
„Und wenn ich dir jetzt sagte, dass ich einfach ziellos durch die Gegend gelaufen bin, würdest du mir das abnehmen?“
„Nein !“
Er wandte sich zu ihr um.
„Nein ?“
„Nein.“
„Mir fehlen ein paar Minuten, zwischen dem Verlassen des Leichenschauhauses und dem Moment, als ich aus dem Wagen stieg – aber geheiratet haben wir in dieser Zeit nicht, oder?“
In seiner Stimme lag ein gefährlicher Unterton.
Scully begegnete seinen Augen.
Der seltsam kalte Ausdruck war aus ihnen verschwunden, auch der ruppige Unterton aus seiner Stimme gewichen.
Aber trotzdem..
„Ach, Scully“, sie hörte ihn seufzen, „es ist nicht nötig, sich Sorgen um mich zu machen. Du kennst mich doch.“
„Eben“, entgegnete sie trocken.
„Gehen wir was essen?“
Scully sah ihn sprachlos an.
„Mach den Mund zu, es zieht. Wirf dich in Schale und lass uns was essen gehen, ich habe Hunger wie ein Wolf.“
Scully nickte nur.
„Sicher, es dauert nur eine Minute.“


Mulder ging mit Scully zu einem Italiener ganz in der Nähe und bestellte sich
zwei Vorspeisen, ein Hauptgericht für zwei Personen und zwei Mal Dessert. Dazu trank er mehrere Gläser Rotwein.
Scully saß vor ihrer Fischplatte und bekam kaum einen Bissen herunter.
Niemals hatte sie Mulder so essen sehen, er schien ja völlig ausgehungert zu sein.
„Mulder, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Sicher doch, was ist mit deinem Essen, schmeckt es dir nicht?“
Sie blickte auf ihren nahezu unberührten Teller und schüttelte den Kopf.
„Ich habe irgendwie keinen Hunger“, sagte sie.
„Nein ? Kann ich den Fisch haben? Ich meine, bevor wir dem Wirt hier noch was schenken!“
„Natürlich, nimm ihn ruhig.“
Mulder stürzte sich auf die Seezunge und Scully wurde schwindlig.
Irgendetwas stimmte hier doch nicht.
Mulder aß sonst niemals solche Mengen.
Mensch, Scully, nun führ dich doch nicht auf wie eine Glucke. Er ist alt genug, lass ihn doch essen, wenn er Hunger hat. Er kann sich das erlauben. Aber schlecht war ihr trotzdem.

„Bist du jetzt satt, Mulder?“
„Erstmal ja“, sagte er grinsend und wischte sich mit der Serviette über den Mund.
„Du siehst blass aus, Scully, geht es dir nicht gut?“
„Es geht schon, ich bin nur ein bisschen müde, das ist alles.“
„Schade, ich dachte, wir könnten noch ein bisschen auf die Piste gehen.“
„Du willst was?“
„Ich dachte mir, warum nicht mal ein bisschen Spaß haben, immer nur Arbeit ist doch nichts, oder und da wir uns heute so gut verstehen!“
Er zwinkerte ihr zu.
Und Scully bekam es langsam mit der Angst zu tun.
„Aber nicht heute, Mulder. Ich glaube, ich muss ins Bett. Lass es uns verschieben. Sei nicht böse.“
„Ich bin nicht böse. Warum sollte ich, wir verschieben es, wie du willst.“
Er winkte den Kellner heran und beglich die Rechnung.

Auf dem gesamten Weg zum Motel zurück sagte er kein einziges Wort.
Als sie vor ihren Zimmern standen, sah er sie an, sagte kurz: „Gute Nacht“, steckte den Schlüssel ins Schloss und ging hinein, ohne sich noch mal umzudrehen.
Scully blickte fragend auf die eichene Tür mit der Zimmernummer 24.
„Gute Nacht, Mulder“, sagte sie dann leise und ging in ihr eigenes Zimmer.


Bad von Zimmer Nummer 24, am anderen Morgen, dem 17.09. gegen 6.00


Fox Mulder schaltete das Licht ein und fuhr sich mit der Hand über die Augen, weil ihn die plötzliche Helligkeit nahezu blendete.
Irgendwie war ihm schlecht.
Was hatte er nur gestern Abend alles gegessen?
Mulder trat an das Waschbecken heran und blickte in den Spiegel.
Himmel, war er blass.
Er sah ja fast aus, als hätte er am Abend zuvor etwas zuviel über den Durst getrunken
Mulder machte das Wasser an und warf sich eine Handvoll ins Gesicht.
Die Kälte belebte seine Lebensgeister.
Aber nur für Sekunden.
Vielleicht würde es ihm nach einer heißen Dusche besser gehen.

Er stand unter der Dusche, seine Augen geschlossen und ließ lauwarmes Wasser auf sich herunterprasseln.
Mulder dachte an den vergangenen Tag zurück.
Ihr Besuch im Gefängnis, Schuberts Leiche mit den offenen Handgelenken, das Leichenschauhaus, sein Blackout.

„Ahhhhhh !“
Ein plötzlicher stechender Schmerz in seinen Handgelenken.
Mulder riss die Augen auf und starrte hinunter auf seine Hände.
Blut tropfte auf den Boden der Dusche aus weißer Keramik und vermischte sich mit dem warmen Wasser zu einer hellroten Brühe.
Entsetzt drehte Mulder seine Handflächen nach oben und dann sah er es, sein Handgelenke waren offen, er konnte seine Adern pulsieren sehen, er sah, wie sie sich immer weiter öffneten, so als gleite ein Messer durch ein Stück Butter, von innen nach außen und dann verlor er das Bewusstsein.



Scullys Zimmer etwa zur selben Zeit

Scully setzte sich senkrecht in ihrem Bett auf.
Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Sie fror entsetzlich.
Ein Traum, sie hatte einen Traum gehabt, einen Albtraum.
Was hatte sie geträumt, dass ihr die Haare zu Berge standen, selbst die feinen Härchen an ihren Armen?
Sie erinnerte sich nicht mehr daran.
Hatte ihr Unterbewusstsein diesen Traum verschlungen?
Um zu verhindern, dass er an die Oberfläche kam – so wie es Dinge verbarg, die so schrecklich waren, dass man nicht bereit war, sie noch einmal zu durchleben – wie ein schreckliches Erlebnis aus der Kindheit?

Scully schwang die Beine aus dem Bett.
Seit sie hier war, hatte sie so seltsam krause Gedanken.
Wahrscheinlich verlor sie langsam aber sicher ihren Verstand.
Ihre Arbeit mit den X-Akten hatte ihr Urteilsvermögen verändert. Sie dachte jetzt anders als früher, komplizierter.
Seit sie Mulder kannte, war sie jemand anderer.
Ebenso wie Mulder anders war, seit gestern.

Scully sah auf den Wecker.
Es war Zeit für eine Dusche und ein gutes Frühstück.
Sie dachte daran, dass sie am Abend zuvor zu wenig zu sich genommen hatte – Mulder dafür umso mehr.
Wahrscheinlich sah sie langsam Gespenster.


Gegenüber in Mulders Zimmer

Er machte die Augen auf und stellte verwundert fest, dass er in der Dusche lag, unbekleidet, klitschnass und frierend.
Was war passiert?
Mulder sah den rötlichen Rand um den Abfluss herum und die Erinnerung kam zurück.
Schnell drehte er seine Hände herum und betrachtete seine Handgelenke.
Er sah nichts.
Seine Handgelenke sahen aus wie immer, keinerlei Verletzungen waren zu sehen.
Wie ein Reißverschluss
Ratsch
Wie ein Klettverschluss, eine wiederverschließbare Verpackung
Von innen nach außen
Einfach auf

Mulder stieg aus der Dusche und griff nach seinem Handtuch.
Es schwindelte ihn.
Scully
Er musste mit ihr darüber reden.
Was sollte er ihr sagen?
Meine Handgelenke sahen aus wie die von Freund Schubert, Scully.
Ich habe geblutet wie ein Schwein
Schubert war wirklich besessen
Schubert ist jetzt tot
Bei mir geschieht dasselbe wie bei ihm
Ich hatte einen Blackout
Aber geheiratet haben wir nicht, oder?
Ja, vielleicht sucht sich das Böse einen anderen Wirt.

Mulder starrte entsetzt sein Spiegelbild an.
War er dieser neue Wirt?
Oder war er jetzt vollends verrückt geworden?
Es musste dieser Fall sein, die seltsamen Umstände.
Genau das war es, wahrscheinlich brauchte er einfach mal wieder ein paar Tage Urlaub.
Langsam beruhigte er sich wieder, was blieb war ein fader Beigeschmack.

Scully klopfte an das Zimmer mit der Nummer 24.
„Ja ? Die Tür ist offen“, kam es von drinnen.
Sie öffnete sie und trat ein.
Das Bild, das sich ihr im Inneren des Zimmers bot, kannte sie zu genüge. Hier herrschte die Muldersche Ordnung, das organisierte Chaos, er war wie immer.
Scully hörte den Stein aufschlagen, der ihr gerade vom Herzen gefallen war.

„Ich bin sofort fertig, Scully. Setz dich, wo Platz ist.“
Wo Platz ist.
Das war leichter gesagt als getan.
Das Zimmer mit der Nummer 24 hatte große Ähnlichkeit mit dem Kellergeschoss im FBI-Hauptquartier.
Scully fand eine Ecke auf dem Bett, die nicht mit Kleidungsstücken oder Zeitungen bedeckt war und setzte sich.

Mulder kam aus dem Bad und schloss die Knöpfe seines Hemdes. Als er Scully sah, lächelte er kurz, dann nahm er sein Sakko vom Stuhl und streifte es über.
„Also ich bin dann soweit, gehen wir frühstücken“, sagte er.
„Guter Vorschlag.“

Sie saßen sich im Frühstücksraum gegenüber und Scully registrierte, dass Mulder nur schwarzen Kaffee trank.
„Bist du noch satt von gestern Abend“, sagte sie belustigt und erschrak, als er den Kopf hob und sie anblitzte.
„Hey, was ist los, Mulder, hast du schlecht geschlafen? Das war nur ein Scherz, du bist doch sonst nicht empfindlich.“
Scully war bemüht, ruhig zu klingen, obwohl sie das weiß Gott nicht war. Als sie seinen Augen begegnet war, war auf einmal die Panik zurückgekehrt, die sie gestern Abend befallen hatte.
Irgendetwas war da.
In seinen Augen war etwas Tückisches.
Er konnte jedem immer direkt in die Augen sehen, ein Umstand, der viele seiner Gegenüber irritiert hatte.
Seit ihrem Besuch im Staatsgefängnis sah er sie plötzlich so seltsam an.

Scully begegnete seinem Blick und sie sah die Wärme in seinen Augen.
Ich spinne, ich bin verrückt. Ich sehe Dinge, die nicht da sind.
„Kann ich noch etwas Kaffee haben“, hörte sie ihn ruhig sagen.
„Natürlich.“
Sie goss ihm ein.
Mulder bemerkte, dass ihre Hände zitterten.
Er nahm ihr die Kaffeekanne ab und ergriff ihre Hände.
Scully wollte sie ihm entziehen, aber er ließ es nicht zu.
„Mulder, was ist los?“
„Das frage ich dich, Scully. Hast du irgendetwas?“
„Nein.“
Sie entzog ihm ihre Hände.
„Wie gedenkst du, jetzt nach Schuberts Tod, weiter vor zu gehen?“
Scully verschlang ihre Finger ineinander.
Sein Händedruck war fest und warm gewesen
Sie wollte sich sagen, dass er immer noch der Mulder war, den sie kannte.
Aber sie konnte nicht.
„Also, Mulder ?“
„Es muss einen Zusammenhang geben, zwischen den Opfern.“
Er nahm einen Schluck von seinem Kaffee und sah sie an.
„Und wenn es Schubert gar nicht war, Scully ? Ich meine, du hast ihn auf einem dieser Überwachungsvideos erkannt.“
„Es hatte Ähnlichkeit mit ihm, ja.“
„Haben wir alle Überwachungsvideos gesehen?“
„Ja.“
„Wir sollten sie noch mal ansehen!“
„Mulder, wir haben jedes dieser Videos vier Mal gesehen.“
„Dann sehen wir sie eben noch vier Mal“, sagte er fast heftig.
Scully hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht.
Mulder zerrte an seiner Krawatte.
„Wenn du denkst, dass uns das weiterbringt, Mulder“, kam es dann ruhig von ihr, „werden wir uns die Bilder noch einmal anschauen.“
„Ja.“
Er schob den Ärmel seines Sakkos hoch und blickte auf seine Uhr.
„Sofort. Wir sollten sofort gehen.“
„Mulder, was ist das?“
Sie blickte auf sein Handgelenk
„Was ist was?“
„Du hast Blut an deinem Hemdsärmel. Hast du dich geschnitten? Lass mal sehen!“
Sie wollte nach seinem Arm greifen, aber er schüttelte ihre Hand ab, wie ein lästiges Insekt.
„Es ist gar nichts. Fass mich nicht noch mal an“, zischte er und Scully zog ihre Hand zurück, als hätte sie sich verbrannt.
„Ich werde daran denken“, sagte sie kühl und stand auf.
An der Tür blieb sie noch einmal stehen und wandte sich zu ihm um.
„Ich dachte, du wolltest dir schnellstens noch einmal die Überwachungsvideos ansehen. Also, was ist jetzt?“



Parell Enterprises, etwa eine halbe Stunde später


Scully saß neben Mulder und blickte auf den Monitor.
Sie hatte ihren Stuhl ein Stück von ihm weggerückt, weil sie immer noch Angst hatte.
Seit gestern war sie da, diese Angst und sie ging nicht mehr weg, im Gegenteil, wuchs immer mehr mit jeder weiteren Minute.

Wieder sah sie Mulder von der Seite an.
Er sah aus wie immer- nein, Dana, das stimmt nicht.

Scully blickte wieder auf den Monitor vor sich. Sie sah Menschen hineingehen, auf dem Band war es gegen 9.30 Uhr am 13.09.1999.
Vier Leichen, vier reiche Geschäftsleute, alle um die vierzig, alle unverheiratet, alle vier Firmen waren in einem Gebäude beheimatet – soweit die Gemeinsamkeiten.
Nur, wie passte Schubert ins Bild?

Parell Enterprises – eine Firma, die Computerprogramme entwickelte.
Ronald McCall - das erste Opfer

VoidChemical – ein Pharmaunternehmen
Howard Hughes – das zweite Opfer

Sun Flowers – ein Blumenladen
Max Fellow, Inhaber – das dritte Opfer

Western Insurances – eine Versicherung
Bobby Coke – das vierte Opfer

Vier verschiedene Unternehmen, völlig verschiedene Branchen, vier Männer im selben Gebäude.
Vielleicht hat Hughes mal bei Fellows Blumen gekauft oder McCall hatte bei Coke seine Lebensversicherung abgeschlossen.
Die Möglichkeit, dass sie einander kannten, war da.

„Worüber denkst du so angestrengt nach, Scully“, holte Mulders Stimme sie aus den Gedanken.
„Ich versuche, Verbindungen zu finden, das ist alles“, gab sie zurück.
„Verbindungen, ja“, murmelte er.
„Mulder“, begann sie dann, „gibt es da irgend etwas, das du mir sagen willst?“
Er sah angestrengt auf den Bildschirm, dann schüttelte er den Kopf.
„Nein, es ist alles okay!“
„Wenn du meinst.“
„Ja, ich meine.“

Mulder spulte das Band zurück und sah es sich wieder und wieder an.
Fast wie ein Besessener.

Ein Besessener

Sie mussten die Verbindung finden, schnell.

„Verdammt noch mal, da ist nichts, gar nichts...“
Mulder legte sich die Hand auf die Augen.
„Ich habe Hunger“, sagte er dann, „ich sollte irgendwas essen, vielleicht kann ich dann einen klaren Gedanken fassen.“

Essen

Scully dachte an den vergangenen Abend und an die Mengen, die er förmlich in sich hinein geschaufelt hatte und sofort stieg wieder die Übelkeit in ihr auf.

„Irgendetwas mit viel Zucker oder so. Ich bin so furchtbar nervös!“
Und wieder begann er an seiner Krawatte zu zerren.

„Dann lass uns gleich gehen, Mulder – oder noch besser, ich besorge was zu essen und du wartest solange hier. Lass dir doch noch einen Kaffee geben.“
Sie stand auf.
„Ich bin gleich zurück“, sagte sie und war, noch ehe Mulder etwas erwidern konnte, aus dem Raum gestürmt.
Sie ist geflüchtet, Mulder
Scully hat Angst vor dir.
Warum sollte Scully vor mir Angst haben?
Du fürchtest dich seit gestern vor dir selbst, Mulder, vergisst das nicht.

Er spürte ein Brennen an seiner Hand, aber als er entsetzt seinen Ärmel nach oben schob, sah er dort nur eine Biene, die ihn gerade gestochen und danach auf dem hellen Stoff ihr Leben ausgehaucht hatte.
Er sah Gespenster und Schatten, wo keine waren.
Auf dem Videoband sind Schatten. Scully hat sie auch gesehen.
Du bist besessen, Mulder



„So, da bin ich schon wieder“, Scully stellte eine Pappschachtel voller Doughnuts vor ihn hin.
„Da ich nicht wusste, welche Geschmacksrichtung du bevorzugst, habe ich einfach von jeder Sorte einen mitgebracht.“
„Du bist schnell zurück.“
„Kein Wunder, der Bäcker ist gleich nebenan. Das Haus wird auch der Ort der kurzen Wege genannt. Wusstest du das nicht?“
Er sah sie überrascht an und nahm einen Schokodoughnut.
„Nein, das ist das erste, was ich höre. Woher hast du diese Weisheit?“
„Von dem Hersteller der Doughnuts.“
„Denkst du, er weiß, was in diesem Haus geschieht, Scully? Ich meine, jeder Mensch muss essen, auch unsere vier Opfer. Wie viele Bäcker gibt es in diesem Gebäude?“
„Soweit ich es gesehen habe, nur einen.“
„Aha. Man könnte diesen Master of Doughnuts also fragen, oder Scully?“
Mulder biss in seinen Doughnut und kaute.
„Man könnte, sicherlich. Am besten, man macht das sofort, sobald du mit dem Essen fertig bist.“
„Ich bin fertig“, sagte Mulder und ließ den Rest des Kleinkuchens in seinem Mund verschwinden.



Phil’ s Doughnuts and Bakery


Scully öffnete die Tür.
KLING
Mulder starrte auf die kleine goldene Glocke an der Tür.
„Hallo“, sagte Scully und lächelte den Mann hinter dem Kuchentresen an.

Der Mann war etwa Mitte dreißig, er hatte ein gutmütiges rundes Gesicht und trug ein blaues Baseballcap und eine passende Schürze, beide versehen mit dem Schriftzug Phil `s

„O, waren Sie nicht gerade erst vor ein paar Minuten hier?“
Scully nickte.
„Ist irgendwas mit den Doughnuts, sind sie nicht in Ordnung?“
„Doch“, antwortete Mulder an Scullys Stelle, „sie sind perfekt. Die besten, die ich je gegessen habe.“
„O danke.“
Phil grinste den Mann in dem dunklen Anzug mit der schiefsitzenden Krawatte an.
„Danke für die Blumen, Mister.“

„Ich sehe, dass Sie ein gutes Gedächtnis für Gesichter haben, Phil“, begann Scully.
„Ja, das hatte ich schon immer, Miss.“
„Wir ermitteln in vier Mordfällen“, sagte Scully und Phil nickte.
„Sie beide sind von der Bundespolizei“, murmelte er.
„Ja, ich bin Agent Scully, “ sie hielt ihm ihren Ausweis entgegen, „und das ist mein Kollege, Agent Mulder.“
Phil sah Mulder an.
„Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?“
„Wir sind auf der Suche nach einer Verbindung zwischen den vier Opfern.“
Scully öffnete ihre Mappe und zeigte Phil Fotos von den vier Männern.
„Ich möchte Sie nun bitten, sich diese Bilder sehr genau anzusehen und uns zu sagen, ob sie einen oder vielleicht sogar alle vier kennen.“

Phil nahm ihr die Fotos aus der Hand und betrachtete sie aufmerksam.
Dann huschte ein Lächeln über sein rundes Gesicht und er gab ihr die Bilder zurück und sagte:
„Heute ist Ihr Glückstag, Miss, ich kenne sie alle vier, sehr gut sogar!“

Mulders Gesicht hellte sich augenblicklich auf und er trat einen Schritt näher an den Tresen heran.
„Tatsächlich ? Wissen Sie auch, was diese vier Männer verbindet, Phil?“

Phil wandte sich um und goss sich einen Becher heißen Kaffee ein.
Die Tasse in der Hand kam er dann wieder zurück, nahm einen großen Schluck und meinte: „Aber immer doch. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, gibt es in unserem großen Land viele Menschen mit Problemen“, begann er und Scully zog die Augenbrauen hoch.
„Und viele Menschen suchen ihr Seelenheil in Drogen oder aber der Kirche.“
„Okay, und weiter“, kam es daraufhin von Scully.
„Was ist aber, wenn weder Drogen noch die Kirchen einem helfen können? Sucht man sich nicht dann etwas anderes?“
„Etwas anderes ?“ Mulder sah Phil fragend an.
„Ja, so etwas wie eine Ersatzreligion. Die Bibel ist mehr als die Kirchen predigen. Nennen Sie es einen Bibelkreis, wenn Sie so wollen. Wir waren acht, als wir damals begannen, acht Männer, von denen fünf nicht mehr leben.“
„Fünf“, sagte Scully fragend.
„Ja, fünf, Ronnie, Howard, Max, Leslie und Bobby.“
„Leslie ?“ Mulder starrte dem anderen Mann ins Gesicht.
„Sie meinen doch nicht Leslie Schubert, oder?“
„Doch, Leslie, genau, bevor er diese Morde beging, war er einer von uns. Das ist schon so lange her...“

Mulder sah Scully an.
Die Verbindung, Scully, wir haben die Verbindung zwischen den Opfern
Leslie Schubert war mal einer von ihnen
Warum hat niemand diesen Mann befragt?

„Sie sagten, Sie seien 8 gewesen und es sei so lange her, Phil“, fuhr Scully ruhig fort,
„wann und wo trafen Sie sich zum ersten Mal?“
Phil deutete auf die Sitzecke.
„Setzen Sie sich doch, Ma`am.“

Er wandte sich um und verschwand im Hinterzimmer.
Schon eine Minute später kehrte er zurück, zusammen mit einem erschreckend dünnen, sehr blassen jungen Mädchen.
„Meine Tochter Carol. Sie wird mich ablösen, dann können wir ganz in Ruhe über Ihren Fall sprechen, Miss Scully.“


Phil ließ sich auf die Sitzbank fallen und deutete auf die mit einem geblümten Sitzpolster bezogene Bank gegenüber.
„Bitte setzen Sie sich doch, im Sitzen kann man sich viel besser unterhalten.“
Scully nahm Platz.
Phil sah wieder Mulder an.
„Ich möchte lieber stehen bleiben, danke“, sagte Mulder.

„Natürlich, wenn Sie wollen“, meinte Phil kurz.

Scully sah Mulder fragend an.

Wie seltsam nervös er war, fast wie tags zuvor, als sie das Gefängnis betreten hatten.
Mulder wandte sich von den beiden ab und betrachtete die eingerahmten Bilder an den Wänden.

„Lange her ist es wirklich, fast zehn Jahre“, fuhr Phil nun fort, „wissen Sie, wo wir uns getroffen haben? Wir trafen uns bei der Jobvermittlung. Stellen Sie sich das vor, Ma`am.“
Er lachte und trank noch einen Schluck von seinem Kaffee.
„Ich weiß nicht, wie oft ich zu diesem Berater ging, immer ohne Erfolg.
Der erste, den ich traf, war Leslie, Leslie Schubert. Ich erinnere mich noch wie heute daran, er war so dünn, dass ein Windstoß genügt hätte, um ihn umzuwerfen. Und nervös war er, er konnte seine Hände einfach nicht still halten.“

Phil warf Mulder einen Blick zu, der wieder an seiner Krawatte zerrte, plötzlich ob der Aussage des Doughnutbäckers in der Bewegung innehielt und schließlich beide Hände in den Taschen seiner Jeans vergrub.

„Leslie war ein sehr schüchterner unsicherer junger Mann.
Er war fast nicht belastbar. Umso schwerer gestaltete sich seine Vermittlung.“
Phil nahm das Baseballcap ab und fuhr sich durch das dünne Haar.
„Ganz anders war Howard, ein großer, grobschlächtiger Typ, ein bisschen so, wie man sich vielleicht einen Rausschmeißer in der Disco verstellen mag. Aber sein Aussehen täuschte. Hughes war hochintelligent, nur ein bisschen jähzornig. Sein Jähzorn hatte ihm die Kündigung seiner Arbeitsstelle gebracht. Tja, kommt nicht so gut, wenn man auf seinen Chef losgeht, nicht wahr...“



Scully sah Mulder an.
Das kommt mir bekannt vor. Wie war das noch mit deiner Attacke gegen Skinner?
Aber da war Mulder nicht er selbst
Jemand hatte Drogen in sein Trinkwasser gemischt.

„Max Fellow war unser Künstler. Sein Vater hatte sich selbst eine große Computerfirma aufgebaut, aber Max konnte mit so etwas wie Programmierung nichts anfangen. Er wäre lieber Maler geworden, aber sein Vater bestand auf ein Studium der Wirtschaftswissenschaften. Max begann damit, schmiss es aber irgendwann hin, zusammen mit dem Aushilfsjob bei seinem Vater.
Ronnie kannte Max aus seiner Zeit bei ProComputer, der Firma von Max Vater.
Ein typischer Programmierer, nüchtern, bebrillt, ein bisschen steif.
Irgendwann kündigte Ronnie bei Shelby Fellow, so weit ich weiß wegen persönlicher Differenzen.
Sie meldeten sich zusammen arbeitslos und zogen in eine WG.
Die beiden waren schon ein seltsames Gespann. Nicht, dass Sie denken, sie wären ein Paar gewesen, jeder hatte seine eigenen Damenbekanntschaften und weil ihr Geschmack sehr voneinander abwich, kamen sie sich auch nie in die Quere...“
Wieder lachte Phil.
„Dann war da noch Bobby, unser Windhund. Sportlicher, schlanker Typ, die Frauen waren wie verrückt hinter ihm her. Bobby konnte alles verkaufen, er war der geborene Verkäufer, hatte durch Aktien eine Menge Geld gemacht und durch Spekulation auch gleich wieder verloren. Eine eigene Firma ritt er in die Pleite und schließlich landete auch er bei der Jobvermittlung.
Mich kennen Sie, ich habe mal Koch gelernt, aber das ist lange her!“

„Und wer gehörte noch zu Ihnen“, ließ sich jetzt Mulder vernehmen und Phil hob den Kopf und sah den anderen an.
Scully registrierte den Ausdruck im Gesicht des Doughnutbäckers.
Etwas lag plötzlich auf seinen gutmütigen Zügen und als seine Augen denen Scullys Sekunden später wieder begegneten, hatten sie einen fast verschlagenen Ausdruck.

„Die Frage ist durchaus berechtigt, Phil“, sagte Scully freundlich, „Sie sprachen von acht Personen. Kennen gelernt haben wir bisher aber nur sechs. Was ist mit den anderen beiden?“

Phil blickte demonstrativ auf die Uhr an der Wand.
„Oh, ich sehe, es ist schon sehr spät und ich muss wieder an die Arbeit.“
Er stand auf.
„Phil, es ist wichtig!“
Mulders Stimme hatte fast etwas Hypnotisierendes.
„So, ist es das?“
Ein Lächeln erschien auf Phils Gesicht, das plötzlich nichts warmes mehr an sich hatte.
„Sie fragten mich nach den vier Männern auf den Fotos und ich gab Ihnen bereitwillig Auskunft. Aber ich bin Geschäftsmann und habe zu arbeiten. Bitte akzeptieren Sie das, ja?“

Scully sah Mulder an und bemerkte das Flackern in seinen dunklen Augen. Er war nervös und enttäuscht, das konnte sie förmlich spüren.
Mulder hatte gehofft, das Rätsel endlich lösen zu können, aber sie hatten nur ein paar Puzzleteile mehr


Nicht nur Mulder hat gehofft, Scully – DU auch
Du wolltest diesen Ort verlassen
Und den alten Mulder zurück

Sie wusste genau, dass es dieser Fall war, der Mulder so zu schaffen machte.
Er hatte Antworten erhalten, aber es gab noch zu viele leere Stellen in dem Rätsel.
Unnatürlicher Geisteszustand mit 12 Buchstaben :
BESESSENHEIT

Wieder sah sie zu Phil hin, der seine Tasse nahm, sich sein Cap wieder auf den runden Kopf stülpte und aufstand.
Er ging zurück hinter den Kuchentresen, stellte den Kaffeebecher in die Spüle und verschwand im Hinterzimmer.


Scully erhob sich von der Sitzbank und strich ihren Rock glatt.
Sie warf Mulder einen Blick zu, der ihr folgte, als sie zur Tür ging.
Du kannst ihn nicht zwingen, Dana, dafür müsstest du ihn schon vorladen lassen...
Dann bemerkte sie, dass Mulder stehen geblieben war und sie wandte sich zu ihm um und registrierte, dass er vor der Theke stand und das blasse Mädchen ansah.
Sie schaute zurück

Mein Gott war sie dünn, ihre Haut sah fast durchscheinend aus

Und dann schob Mulder dem Mädchen, das Phil als seine Tochter Carol vorgestellt hatte, seine Visitenkarte über den Tresen. Sie warf einen Blick darauf, nahm sie und ließ sie schnell in der Tasche ihrer Strickjacke verschwinden, gerade noch rechtzeitig vor der Rückkehr ihres Vaters.

Phil sah die beiden Agenten und sein Blick verfinsterte sich.
„Sie sind ja immer noch da, haben Sie nichts zu tun?“

„Doch“, sagte Mulder kühl, „haben wir. Einen schönen Tag noch !“

Und mit diesen Worten verließen die beiden die Bäckerei.

KLING

Wieder blickte Mulder nach oben auf die Türklingel, dann schüttelte er langsam den Kopf und folgte Scully zum Fahrstuhl.



Fahrstuhl am „Ort der kurzen Wege“

„Glaubst du, das Mädchen wird uns helfen, Mulder?“
„Sie wird, Scully.“
„Meinst du, sie kann es auch, uns wirklich helfen?“
Er sah Scully durchdringend an, so lange, bis sie die Augen niederschlug.
Es war wieder so ein intensiver Blick gewesen.

„Frag mich nicht warum, Scully, aber ich glaube, sie ist, was diesen Fall betrifft, die einzige Möglichkeit, etwas mehr zu erfahren, über das, was Phil uns nicht sagen kann oder will.“



„Warum hast du mich nach der Stärke meines Glaubens gefragt, Mulder“, meinte Scully leise, als sie wenig später im Wagen saßen.
„Erinnerst du dich auch daran, worüber ich sonst noch gesprochen habe, Scully?“
Unnatürlicher Geisteszustand mit 12 Buchstaben
„Du erinnerst dich“, erkannte er an ihrem Gesichtsausdruck.

„Du bist ihm begegnet, dem Bösen, Mulder, nicht wahr? Gestern, im Gefängnis.“
Scully sah ihn nicken.
„Und die Begegnung dauert immer noch an...“
Sie sah in seine Augen, in denen sie etwas beinahe lauerndes entdeckte.



„Wirst du mich töten, Mulder?“
„Willst du, dass ich es tue, Scully?“
„Diese Frage ist doch nicht dein Ernst, oder?“
Sie wich unwillkürlich zurück

„Du bist eine intelligente Frau, Special Agent Dana Scully.“
Seine Stimme hat wieder diesen bösartigen Unterton
DAS ist nicht SEINE Stimme
Scully streckte die Hand in Richtung der Beifahrertür aus, aber noch bevor sie sie zu öffnen vermochte, vernahm sie das Klicken sich heruntersenkender Knöpfe der Zentralverriegelung.

Und Mulder lachte.
Nein, das ist nicht ganz richtig, Scully,
der Mann neben dir lacht!

„Es wäre falsch, jetzt die Flucht zu ergreifen, Scully“, hörte sie ihn dann ruhig sagen,
„ich werde dich noch brauchen.“

Und Scully sank im Beifahrersitz in sich zusammen.



Etwa zur selben Zeit bei Phil’ s


„Ja, sie sind hier gewesen, diese beiden Typen von der Bundespolizei“, erklärte Phil der Person am anderen Ende der Leitung.
Das Mobiltelefon am Ohr ging er in den Nebenraum und steckte sich eine Zigarette an.
„Ja, ich weiß, ich sollte nicht wieder damit anfangen – aber diese Nervosität bringt mich noch um.“
Er lauschte.
„Ist mir klar, Pater, natürlich – aber sie hätten ihn sehen sollen, es ist von Leslie auf ihn übergesprungen, fragen Sie mich nicht, warum.
Es passt einfach nicht, er ist keiner von uns, dieser Mann glaubt nicht!“
Phil zog an seiner Zigarette, blies den Rauch in die Luft und hörte zu.
„Nein, Pater, das dürfen Sie auf gar keinen Fall. Ich habe ihm nichts von Ihnen und dem Doktor erzählt. Wir dürfen diese Sache nicht unterbrechen – niemand weiß besser als Sie, wie wir waren, bevor wir uns dazu entschieden, es zu tun.
Ja, ich weiß, wer Sie sind, Pater, aber...“
Phil fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, er schwitzte, der Schweiß perlte von seiner flachen Stirn ab.
„Es wird ihn umbringen... Ja, wenn es nicht...“
Phils Augen weiteten sich.
„Sie wissen, was es mit Leslie gemacht hat und wie die Jungs gestorben sind.
Ja, ich habe auch Angst, aber noch geschieht es nicht.“
Phil betrachtete seine kurzen, beinahe plumpen Hände.
„Okay, ja, warten, wir müssen Geduld haben, vielleicht löst sich das Problem ganz von allein.“
Und Phil legte auf.

Es war ihm entgangen, dass Carol, seine Tochter, die ganze Zeit über hinter dem Vorhang gestanden und jedes Wort gehört hatte.



Whitehorse- Motel, etwa eine Viertelstunde später


Als Mulder den Leihwagen mit quietschenden Bremsen zum Stehen gebracht und die Türen wieder entriegelt hatte, stürzte Scully förmlich aus dem Wagen und hinein.
Mulder sah ihr nach, auf seinem glatten Gesicht ließ sich keinerlei Regung erkennen, es ähnelte einer Maske aus Wachs.
Dann zog er den Schlüssel aus dem Zündschloss, stieg aus, verriegelte in aller Seelenruhe die Fahrertür und schlenderte langsam auf das Haus zu.

Er grüßte den Mann am Empfang, verlangte seinen Zimmerschlüssel und ging den Flur entlang.
Als er vor seiner Zimmertür stand, blickte er zur Seite und sekundenlang auf die Tür von Scullys Apartment.
Er war versucht, anzuklopfen und das Gespräch mit ihr zu suchen
Sie musste es verstehen – er musste ihr erklären, was hier vor sich ging.
Scully hielt ihn für ein Monster, für einen Killer – sie fürchtete ihn und das war das letzte, was er wollte, sie ängstigen.
Nein, wirklich nicht.

Aber er konnte nicht, nicht jetzt
Gib es zu, Mulder, du hast einfach nur Schiss!

Er schloss die Tür auf und ging hinein.
Als er sein Jackett ausziehen wollte, klingelte sein Mobiltelefon.

„Mulder ?“
„Agent Fox Mulder ?“
„Ja.“
„Hier ist Carol, Sie erinnern sich?“
„Die Tochter von Phil.“
„Das sagte er.“
„Entspricht es nicht den Tatsachen?“
Mulder zog die Augenbrauen hoch und ließ sich in den dunkelgrünen Polstersessel sinken.
Das schien ja interessant zu werden
„Phil hat keine Tochter, er hat noch nicht mal eine Frau. Ich bin nur ich, Carol, nehmen Sie das als gegeben hin.“
Ihre Stimme klang wie sie aussah, farblos und durchscheinend.
„Weshalb rufen Sie mich an, Carol?“
„Sie haben mir Ihre Karte gegeben, weil Sie Antworten wollen.“
„Ja.“
„Und weil Sie Hilfe suchen...“
Mulders dunkle Augen weiteten sich und er schnappte so hörbar nach Luft, dass Carol am anderen Ende der Leitung lachen musste.
„Fragen Sie mich nicht, warum, ich weiß es einfach. Ich weiß, dass es Sie hat und Sie nicht mehr loslässt.“
Mulder lockerte seine Krawatte.
„Sie haben nicht mehr viel Zeit, Agent Mulder. Es tötet seinen Wirt, früher oder später, vielleicht wird es bei Ihnen später sein, aber es wird Sie umbringen. Ich habe gesehen, wie es das tut.“
„Kennen Sie die anderen beiden, Carol?“
„Die anderen beiden ? O ja, Phil hat vorhin mit einem von ihnen telefoniert.“
„Die Namen, kennen Sie sie?“
Mulders Stimme bekam einen beinahen schrillen Tonfall.
„Bleiben Sie ruhig, Mulder. Ihre Hast beschleunigt die Sache nur. Zwingen Sie sich zu Geduld. Die brauchen Sie und den Glauben...“
„Glauben ? An was ?“
„An das Gute !“
„Sagen Sie mir die Namen, Carol.“
„Phil hat mit einem Pater telefoniert. Ich glaube, sein Name war Benedikt und er lebt hier ganz in der Nähe.
Die andere Person ist ein Doktor, sein Name ist Möbius oder so ähnlich. Er hatte mal eine Praxis, aber sie haben ihm wegen eines Kunstfehlers die Approbation entzogen.
Das ist alles, was ich weiß.“
„Danke, Carol“, sagte Mulder leise.
„Agent Mulder ?“
„Ja ?“
„Denken Sie an das Gute, das GUTE!“
„Ich werde mir Mühe geben.“
Es knackte in der Leitung.
Carol hatte das Gespräch beendet.

Das GUTE !
Was war es, das Gute?

Mulder nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher an.
Minutenlang zappte er sich durch das komplette Programm
Er sah Krieg, Leid, Hass und Schmerz
Das GUTE


Scully schreckte auf, als es fast zaghaft an ihre Tür klopfte.
„Moment“, sagte sie, stand auf und entriegelte sie.

Als sie sie öffnete, sah sie Mulder in der Tür stehen.
Er machte in diesem Moment alles andere als einen beängstigenden Eindruck auf sie.
„Komm rein.“
Sie ließ ihn eintreten und schloss die Tür hinter ihm.



„Scully.“
Er blieb direkt vor ihr stehen
„Ja ?“
„Ich habe dir Angst gemacht. Es tut mir leid.“
„Ist schon gut.“
„Nein.“
Er streckte die Hand aus und hob ihr Kinn.
„Das kann nicht gut sein.“
Sein warmer dunkler Blick glitt über ihr Gesicht.
„Du bist stark, Scully, warst es immer, aber dieser Fall ist etwas anderes.“
„Erklär es mir“, sagte sie fest und sah direkt in seine Augen.
Wie sehr sie diese Augen mochte.
Sie hatte sie schon beim allerersten Mal gemocht.
Fox Mulder war ein ganz besonderer Mann und ihr bester Freund.
Stark, nein, so stark war sie nicht.
Wie oft hatte er sie getröstet, sie wieder aufgerichtet.
Und jetzt sah es so aus, als brauchte er ihre Hilfe.
„Bitte, Mulder. Wenn ich dir helfen soll, musst du mir erzählen, was geschehen ist.“

Mulder ließ sie los und ließ sich auf ihr Bett sinken.
„Ich werde es versuchen.
Du erinnerst dich an meine Ahnung vor dem Gefängnis.“
„O ja, sehr gut sogar.“
„Wir haben uns die Leiche Leslie Schuberts angesehen und von Besessenheit gesprochen.“
Sie nickte und sah ihn unverwandt an.
„Ich ging noch einmal zurück und da traf ich es bzw. es traf mich. Ich sah es noch auf mich zukommen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Es schoss einfach in mich hinein.“
„Du warst mir plötzlich so fremd“, gestand sie ihm, „und ich hatte Angst um dich.“
„Zu Recht, Scully, deine Angst ehrt mich, ich wusste nicht, dass ich so wichtig für dich bin.“
„Aber natürlich weißt du das, Mulder“, fuhr sie auf.
„Ich irrte förmlich in der Gegend umher und fand mich schließlich im Motel wieder, ohne zu wissen, wie ich dorthin gelangt war.“
„Und du hast plötzlich riesige Mengen verschlungen.“
„Ja, ich musste ja essen für zwei.“
Ein schiefes Lächeln erschien auf seinen Zügen.
„Du warst ganz grün im Gesicht, Scully.“
Er strich sich fahrig die Haare aus der Stirn.
„Am schlimmsten war der nächste Morgen. Ich dachte, eine heiße Dusche würde mir helfen, aber dann war da plötzlich dieser Schmerz in meinen Händen und das Blut.
Ich sah, wie sich meine Handgelenke öffneten. Es war als schnitte sie jemand von innen auf.
Mir wurde schwarz vor Augen. Als ich später wieder zu mir kam, war nichts mehr davon zu sehen...“
„Doch“, sagte sie ruhig, „das Blut an deinem Hemdsärmel, Mulder.“
Er nickte zerstreut und zuckte dann plötzlich zusammen.
„Was ist?“
Mulders Gesicht verzog sich vor Schmerz, aber kein Laut kam über seine Lippen.
Scully starrte ihn an und dann sah sie es. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgeschoben und jetzt tropfte Blut auf den Parkettfußboden.


PLING
PLING
PLING
Sie griff nach seinem Arm und sah die offene Wunde an seinem Handgelenk.
Einen Schnitt der immer länger wurde, ohne dass man die Waffe sah,
von innen nach außen
RATSCH
PLING
PLING
Scully drückte ihn auf das Bett und stürzte ins Badezimmer.

Als sie kurz darauf mit Verbandszeug zurückkehrte, hatte Mulder das Bewusstsein verloren.
Sie fühlte seinen Puls.
Er war schwach, aber er war da.
Anders die Schnittwunde
Scully starrte auf die unversehrten Handgelenke
Aber, sie hatte es doch gerade gesehen,
den Schnitt und das Blut
Sie sah auf den Boden und da waren sie, die Blutstropfen auf dem Parkett.
Du bist nicht übergeschnappt, Dana

Scully legte ihm die Hand auf die Stirn.
Seine Haut war kalt und blass.

Nein, nicht, Mulder, du darfst nicht so gehen, einfach so.
Das werde ich nicht zulassen.

Sie zog ihn hoch und obwohl er so viel schwerer war als sie, in ihre Arme.
Mein Gott, er fühlte sich an wie eine leblose Puppe. Irritiert griff sie nach seinem Arm.
Er lebt, Scully, beruhige dich. Du hilfst ihm nicht, wenn du völlig den Kopf verlierst.
Er braucht dich, dich und deinen Glauben, das hat er gesagt, erinnere dich.
Scully strich ihm sanft die Haare aus der Stirn.
Ihre Finger glitten zärtlich über sein schmales Gesicht.

Sie saß lange auf ihrem Bett, Mulder im Arm, dessen Zustand sich langsam wieder besserte. Seine Atmung war weniger flach und die Farbe wieder in sein bleiches Gesicht zurückgekehrt.
Scully sah auf die Uhr.
Es war Abend geworden.
Wie lange hatte sie auf ihrem Bett gesessen?
Woran hatte sie gedacht?
Und was sollte sie jetzt tun?

Sie löste sich vorsichtig von ihm und sagte dann leise:
„Mulder.“
Seine Züge sahen sehr entspannt aus, so als schliefe er.
Aber so konnte er nicht schlafen.
„Mulder.“
Scully sah, dass seine Lider zitterten und dann öffnete er langsam die Augen.
„Mulder, du musst mir helfen, ich schaffe das nicht allein. Meinst du, du kannst kurz aufstehen, damit ich das Überbett wegziehen kann. Den Rest mache ich dann schon!“
Mulder sah sie aus halboffenen Augen schläfrig an. Er sagte kein Wort, tat aber, um was sie ihn gebeten hatte.

Er war krank und die niedliche kleine Krankenschwester wollte sein Bett machen.
Natürlich würde er aufstehen, obwohl er so furchtbar müde war.
Ihre Stimme war so sanft, so ruhig, fast wie die eines Engels.
Nur Flügel sah er nicht, aber vielleicht war er dafür ganz einfach zu müde....

Mulders Augenlider sanken zurück.
Scully zog ihm die Schuhe und die Jeans aus und deckte ihn zu.
Sie kam sich fast ein bisschen so vor, wie bei ihrem Praktikum auf der Kinderstation.
Wie lange war das schon her?
Es war lange vor ihrem Eintritt ins FBI gewesen, lange bevor....
sie ihm begegnet war.
Ob sie ihn kurz alleine lassen und ins Bad gehen konnte?

Scully erhob sich und ging ins Bad.
Schnell schlüpfte sie aus den Kleidern, hängte das Kostüm und die Bluse auf den Bügel und stieg in ihren Pyjama.
Sie warf sich noch schnell etwas kaltes Wasser ins Gesicht, dann löschte sie das Licht und ging zu ihm zurück.
Es war sehr still in dem Raum.
Nichts war zu hören außer Mulders gleichmäßigen Atemzügen.
Scully trat ans Fenster.
Sie sah keine Menschenseele.
Dieses Whiskey war wirklich ein verschlafenes Nest.

Aber der Teufel ist hier, Scully!

Scully schreckte zusammen und schwang herum.
Wer hatte das gerade gesagt?
Mulder lag noch immer genauso da wie vor einigen Augenblicken.
Sie schüttelte langsam den Kopf, fast so, als wolle sie die unangenehmen Gedanken aus ihren Ohren heraus schütteln.
Jetzt hörte sie schon Stimmen.
Was kam als nächstes?
Würden die Fliegen an der Wand anfangen, mit ihr zu sprechen?

Blödsinn !

Sie trat ans Fenster und zog mit einem Ruck die dunkelgrüne Gardine zu.

Scully ließ sich auf der anderen Seite des Bettes nieder und knipste die kleine Nachttischlampe an.
Sie schwang die Beine hoch und deckte sich zu.

Eine Fliege setzte sich an die weißgetünchte Decke. Scully starrte diese Fliege an, beobachtete, wie diese ihre Kreise zog.
SUMM
SUMM

Wie lange dauert das Leben einer Fliege?
Einen Tag
Ja, wenn nicht jemand mit einer Fliegenklatsche draufschlägt

Wieder starrte sie nach oben
und dann hatte die Fliege ganz plötzlich Mulders Gesicht
und jemand schlug mit einer großen Fliegenklatsche darauf.
Kein Geräusch war zu hören
außer einem lauten
KLATSCH
und es blieb nichts als ein hässlicher roter Fleck an einer sonst weißgetünchten Zimmerdecke.

Scully musste würgen.
Ihr war ganz plötzlich übel.
Was war nur mit ihr los?
Mulder traf das BÖSE und sie verhielt sich völlig irrational.
MULDER

Scully rutschte ein Stück näher zu ihm heran und schmiegte sich an ihn.
Er war warm und er war bei ihr.
Sie durfte nicht den Boden unter den Füßen verlieren.
Scully spürte, dass sie augenblicklich ruhiger wurde, als Mulder im Schlaf etwas murmelte, dass sie nicht verstand und dann den Arm um sie legte.

Sie mochte eine vernünftige kühle Wissenschaftlerin sein, deren Aufgabe es war, Dinge zu beweisen oder aber ad absurdum zu führen, wenn es nötig war,
aber jetzt, in diesem Augenblick, in diesem dunklen Raum war sie nur Dana Scully, mehr nicht.


Apartment von Dana Scully im Whitehorse- Motel, am Morgen des 18.09.99,
gegen 5 Uhr


Fox Mulder wurde wach, weil ihn etwas an der Nase kitzelte. Er wollte es mit der Hand zur Seite wischen, als ihm bewusst wurde, was es war.
Scullys rotes Haar.
Mulder sah verwundert an sich herunter.
Eines war klar.
Er war nicht in seinem Zimmer.
Und es war nicht normal, dass Scully mit ihm in einem Bett lag und sich an ihn kuschelte.
Nein, das war es ganz gewiss nicht
Das war ungewöhnlich
Aber es war alles andere als unangenehm, sie so nah zu spüren.
Am liebsten wäre er so liegen geblieben, Scully in seinem Arm.
Diese ganze Sache hatte etwas so unschuldiges.
Sie konnte nicht behaupten, er habe irgendetwas ausgenutzt.
Er wusste nicht einmal, wie er hier her kam

Mulder versuchte, seinen Arm freizubekommen, da er spürte, dass er taub war,
ohne dabei Scully zu wecken.
Es gelang ihm.
Statt aufzuwachen, schmiegte sich seine sonst so energische kühle Partnerin mit einem zufriedenen Seufzer noch enger an ihn.
Wie ein zufriedenes kleines Kätzchen
Das Oberteil ihres silbergrauen Pyjamas war ein Stück zur Seite gerutscht, so dass er mehr von ihrem sanftgeschwungenen Hals sehen konnte.
Fasziniert betrachtete Mulder Scully.
Er musste sich zwingen, sie nicht zu berühren.

Eine Sekunde lang dachte er an seine Vorliebe für eindeutige Filme.
Wie verrückt ist das, Mulder?
Du siehst einen Hals, glatte weiße Haut und dir wird heiß dabei
Es ist nicht irgendein Hals
Es ist Scullys

Mulder konnte nicht widerstehen, seine Finger zeichneten sacht die Form ihres Halses nach.
Wie weich ihre Haut war.
Er spürte, dass sich Scully bewegte, ganz so, als genieße sie diese Berührung sehr und mutig geworden, beugte er sich ein Stück vor, um ihren Geruch in sich aufzunehmen.
Sie roch so gut.
Aber nicht so wie die meisten Frauen.
Es war nicht nur ihr dezentes Parfum
Es war ihr Geruch
So roch nur Scully
Niemand sonst

Er war ihr sehr nah, als sie plötzlich die Augen öffnete und ihn ansah.
Mulder konnte nicht einmal zurückweichen.
Er konnte nur zurückschauen.

Und dann tat Scully etwas völlig unerwartetes.
Sie schlang die Arme um seinen Hals, zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn.
Sekundenlang war Mulder wie erstarrt, dann begann er den Kuss zu erwidern, mit seinem ganzen Gefühl.
Das hier war ein Traum, es musste ein Traum sein.
Aber der Traum war süß und weich und schmeckte nach mehr
Er hielt Scullys Körper in seinen Händen und die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich nahezu.
Du willst Scully
Du liebst sie
Aber wenn du das jetzt tust
Könnte es sein, dass du sie umbringst
Da ist etwas in dir, das da nicht hingehört
Das GUTE, Mulder
Aber das hier war gut
Und es war richtig
Richtig ja,
aber nicht zu diesem Zeitpunkt

Mulder machte sich widerwillig von ihr los und schob sie ein Stück von sich, um sie besser betrachten zu können.
Ihr rotes Haar war durcheinander, ihre Wangen gerötet und ihre Lippen schimmerten feucht.
O, er hätte jetzt lieber etwas ganz anderes getan.

Scully musste in seinen Augen gesehen haben, was er gerade gedacht hatte.
Sie murmelte: „Ich muss ins Bad“ und war augenblicklich dorthin verschwunden.

Mulder sah verdutzt hinter ihr her, dann stand er auf und schlüpfte in Jeans und Schuhe.
Die Badezimmertür war immer noch zu, aber er hörte nicht das Geräusch von laufendem Wasser.
Was machte sie da drin?
Er klopfte.
„Scully, ist alles in Ordnung?“
„Ja“, kam es von drinnen.
„Ich werde duschen, treffen wir uns in einer Viertelstunde zum Frühstück?“
„Okay.“


Mulder wartete schon, als Scully den Raum betrat.
Sie hatte ihr rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und den Anzug gegen bequeme Hosen und eine leichte grüne Bluse getauscht.
Scully ließ sich ihm gegenüber nieder und goss sich in eine Tasse Kaffee ein.
Sie begann, ihren Joghurt zu löffeln.
Mulder sah ihr dabei zu.
Warum sagte sie nichts?
Warum war sie plötzlich aufgesprungen und ins Badezimmer gestürmt?
Das passte gar nicht zu ihr.
Dich plötzlich so zu küssen auch nicht, Mulder

Scully sah auf und ihm direkt ins Gesicht, in die Augen.
In ihren war fast etwas Herausforderndes.
„Willst du nicht mal langsam mit dem Frühstücken anfangen, Mulder“, sagte sie dann und Mulder schreckte förmlich zusammen.
„Ich habe keinen Hunger.“
„Nein ? Sagtest du nicht gestern, du müsstest für zwei essen“, kam es beinahe spitz von ihr.
„Womit wir beim Thema sind, Scully“, sagte er und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
Er wollte erst danach fragen, wie er gestern in ihr Zimmer und v. a. in ihr Bett gekommen war, aber dann ließ er es.
Scully wollte nicht darüber sprechen, das spürte er, er kannte sie lange genug.
Also sprach er über den Fall.
„Ich hatte gestern Abend einen sehr interessanten Anruf“, begann er.
„Carol“, mutmaßte sie.
„Richtig. Carol. Die nicht Phils Tochter ist.“
„Ist sie das nicht?“
Scully sah Mulder interessiert an und dann, als sein Blick wieder diese Intensität bekam, in ihre Kaffeetasse hinein.
„Nein, ist sie nicht. Sie nannte mir die Profession der fehlenden Teilnehmer unseres Bibelkreises. Einen Priester und einen Arzt ohne Zulassung.“
„Nannte sie auch Namen?“
„Ja, sie nannte Namen, Ex-Doktor Möbius und Pater Benedikt. Beide hier aus der Gegend.“
„Aus diesem Nest“, murmelte Scully und blickte zum Fenster hinaus. Es war ein nebeliger trostloser Morgen.
„Ja, aus diesem Nest.“
Mulder trank den letzten Schluck seines Kaffees aus.

Er steckte voller Tatendrang, hatte die letzte Nacht tief und traumlos geschlafen und war mit dem Menschen, der ihm am meisten bedeutete, Arm (und) in Arm aufgewacht.
Was wollte er mehr?
Ich möchte ich sein.
„Ich will wieder ich sein“, sagte er.
„Was ?“
Scully starrte ihn an.
„Ich will diesen Fall beenden und ich will dieses verdammte Etwas in mir wieder loswerden.
Wie treibt man den Teufel aus?“
„Mit Exorzismus“, sagte sie.
„Und wo tut man so etwas? In der Kirche, oder ? Lass uns keine Zeit verlieren, Scully!“




St. Benedict, katholische Kirche in der Stadt Whiskey, etwa 9 Uhr


„Meinst du, wir finden deinen Priester Benedikt in einer Kirche gleichen Namens, Mulder?“
„Keine Ahnung. Das finden wir nur heraus, wenn wir hineingehen.“

Sie gingen die Stufen zu der Kirche hinauf, als Mulder plötzlich stehen blieb.
Scully wandte sich zu ihm um und sah ihn an.
„Was ist jetzt, Mulder? Keine Lust mehr auf ein Treffen mit Pater Benedikt ?“
„Geh allein rein, Scully. Ich werde mal in den Pfarrgarten gehen, vielleicht treffe ich dort einen geschwätzigen Gärtner oder so was ähnliches, wer weiß!“
Er verschwand.
Scully sah ihm nachdenklich hinterher.

Er fürchtet sich, hineinzugehen
ES zwingt ihn, der Kirche fernzubleiben.
Verdammt Dana, du interpretierst zu viel in sein Verhalten hinein!
Nein
Du hast Angst
Angst um ihn und Angst vor dir selbst, deinen Gefühlen
Warum bist du aufgesprungen und davon gerannt?
Hattest du Angst, dass noch mehr geschehen würde als dieser Kuss?

Sie zog fröstelnd die Schultern hoch.
Es war Zeit hineinzugehen.
Wenn sie hier auf der obersten Stufe stand und ihren wirren Gedanken nachhing, so war das weder dem Fall dienlich noch half sie Mulder damit.
Resolut riss sie die breite Holztür auf und betrat das Gotteshaus.


Mulder ging den schmalen Kiesweg entlang.
Er hatte nicht mit in diese Kirche gehen können.
Etwas hatte ihm plötzlich die Kehle zugeschnürt, Panik war in ihm aufgestiegen.
BESESSEN
Der Teufel will nicht in die Kirche.

Plötzlich sah er eine alte Frau, die im Garten damit beschäftigt war, das Unkraut zu jäten.
Eigentlich gab es hier gar nichts zu jäten.
Der Rasen war tadellos gepflegt.
An einer der Außenwände eines roten Backsteingebäudes rankten rote Rosen und grüner Efeu.
Ein Idyll.
Es war sehr still hier, nur das Geräusch der Harke war zu hören.
Plötzlich erhob sich die alte Frau, so weit das ihr gebeugter Rücken zuließ und wandte sich dann langsam zu Mulder um.
Ihr Gehör musste für ihr hohes Alter erstaunlich sein.
Sie starrte Mulder an und er starrte zurück – minutenlang.
Keiner von ihnen sprach ein Wort.
Dann plötzlich kam Leben in die alte Frau, ihre Augen weiteten sich und sie zog etwas aus ihrer Bluse und hielt es ins Licht hinein.
Es war ein kleines silbernes Kreuz. An einer schmalen Kette.
„Weiche von mir, Satan“, stieß sie mit schriller Stimme hervor, dann ließ sie die Harke fallen und eilte davon.
Mulder wusste nicht, was ihn mehr erstaunte.
Ihre Behändigkeit oder aber ihr Ausspruch.
SATAN
Mein Gott – Gott – es klang wie Hohn
Sah er wie der Teufel aus?
Oder hatte sie einen sechsten Sinn?


„Pater Benedikt ?“
Der Mann in der dunkelbraunen Kutte erhob sich und wandte sich zu Dana Scully um, die ihn angesprochen hatte.

Scully hatte ihn einfach auf gut Glück Pater Benedikt genannt. Vielleicht lag sie damit völlig falsch.
„Ich muss Sie enttäuschen, Miss. Ich bin Pater Samuel, einen Pater Benedikt haben wir hier leider nicht!“
Er kam auf sie zu und ließ sich auf einer der Holzbänke nieder.
„Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
„Ich weiß nicht.“
Scully setzte sich auf die Bank ihm genau gegenüber.
„Sie haben ein Problem, Miss...“
„Scully, Dana Scully. “
„Miss Scully, brauchen Sie Gottes Rat? “
„Ja“, Scully seufzte, „vielleicht brauche ich den, aber wahrscheinlich wird ein guter Rat nicht ausreichen.“
„Eine Herzensangelegenheit.“
„Ein Mordfall.“
„Oh.“
Pater Samuel wich unwillkürlich ein Stück zurück.
„Wir benötigen Pater Benedikts Hilfe in einem Mordfall.“
„Wir ?“
„Ja, wir. Mein Partner und ich, wir sind vom FBI.“
Sie zog ihren Ausweis aus der Tasche und streckte ihn ihm entgegen.
Pater Samuel betrachtete ihn aufmerksam, dann sah er wieder Scully an.
„Und wo ist er?“
„Wo ist wer?“
„Ihr Partner. Sie sagten, mein Partner und ich. Hat er Sie nicht begleitet?“
„Do..ch, sicher.“ Scully stockte.
Was fragte dieser Mann sie für Sachen?
Wieso wollte er etwas über ihren Partner wissen?
Sie konnte genauso gut allein hierher gefahren sein.


„Er wollte sich draußen umschauen.“
„Sie sind römisch-katholisch, Agent Scully?“
„Ja, warum ?“
„Gibt es etwas, über das Sie sprechen möchten, vielleicht mit einem Geistlichen?“
„Sie wollen wissen, ob ich was zu beichten habe?“
Scully schüttelte den Kopf.
„Nein, ich habe nichts zu bereuen.“
„Gut.“
Pater Samuel erhob sich und ging den Mittelgang entlang zum Ausgang.
Dort blieb er noch einmal stehen und wandte sich zu Scully um.
„Wenn Sie doch irgendwann Hilfe brauchen sollten, Miss Scully, dann finden Sie mich hier.“
„Okay“, sagte Scully leise.


Sie stand auf. Ihre Knie zitterten plötzlich.
Ob sie etwas zu beichten hatte?
Beichten
Soll ich beichten, dass ich meinen Kollegen liebe?
Wer von uns beiden ist hier eigentlich verrückter?
Mulder oder ich ?


Sie trat auf den Vorplatz hinaus und da sie Mulder nirgendwo entdecken konnte, umrundete sie die Kirche und ging in den Garten hinein.

„Mulder ?“
Der Kies knirschte unter ihren Pumps.
„Mulder, wo steckst du?“
Wo war er nur abgeblieben?

„Sie suchen Ihren Kollegen“, holte sie dann eine Stimme aus ihren Gedanken und als sie sich der Stimme zuwandte, erkannte sie den Pater wieder.
Es war eher eine Feststellung denn eine Frage.
„Ja. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?“
Pater Samuel nickte.
„Ich sehe ihn noch. Dort hinten steht er, vor den Rosen.“
Scully folgte seiner ausgestreckten Hand.
Tatsächlich.
Sie wollte zu ihm hingehen, als eine Hand auf ihrem Arm sie zurückhielt.
„Was...,“ begann sie.
„Sie sollten da jetzt nicht hingehen, Agent Scully.“
„Aber warum nicht ?“
Sie sah den Pater an.
Er sah irgendwie grau aus, ganz anders als noch vor Minuten.
„Was ist, Pater ?“
„Seit wann ist er so?“
„Wieso...“
„Ihr Partner, seit wann ?“
Die Stimme des Paters klang eindringlich.
„Was meinen Sie mit so?“
„Ich meine, seit wann er besessen ist!“
Pater Samuels Stimme klang plötzlich hart.
Es aus seinem Munde zu hören, machte die ganze Sache noch schlimmer als sie war.
„Sie wissen es, Agent Scully. Weiß er es auch?“
Sie sah wieder zu Mulder hin und dann den Pater an.
„Vielleicht brauchen Sie keine Hilfe, Agent Scully, aber Ihr Partner braucht sie.
Also, weiß er es?“
Sie nickte langsam.
„Woher ?“
„Was ?“
„Woher weiß er es?“
„Er hat es kommen sehen und konnte ihm nicht mehr ausweichen."
„O ja, das Böse findet einen, wenn es einen finden will, Agent Scully."
„Aber warum sollte es ausgerechnet Mulder finden."
„Ist Ihr Partner ein gläubiger Mensch?“
„Das kommt darauf an, was Sie unter Gläubigkeit verstehen, Pater Samuel. Wenn Sie damit Gott und die Kirche meinen, würde ich sagen - nein."
Scully sah wieder zu Mulder hin.
Was tat er da nur, vor diesem Gitter mit den Rosen. ?
„Pater, woran haben Sie es gesehen? Ich meine, Mulders Besessenheit?“
„Sind Sie offen für extreme Möglichkeiten, Agent Scully?“
Extreme Möglichkeiten
Sie hätte beinahe gelacht.
„Ich habe ständig damit zu tun."
„Gut, dann verstehen Sie vielleicht, wenn ich von der Aura eines Menschen spreche.
Jeden von uns umgibt ein ganz eigenes Licht.
Ihr Kollege..."
Er warf einen Blick in Mulders Richtung.
„... hat sein Licht verloren. Da ist nichts mehr."
Scully sah den Pater nachdenklich an.
„Was kann ich tun?“
„Er ist mehr als ein Kollege."
„Ja."
„Wir müssen den Ursprung finden, was genau Besitz von ihm ergriffen hat und warum es ihn gewählt hat."
„Wir ?"
„Ja, wir. Ich werde Ihnen helfen, Agent Scully. Hat er Ihnen etwas getan, hat er Sie angegriffen?“
„Nein."
„Sonst jemanden vielleicht."
„Nein. Er ist nur manchmal ganz plötzlich kalt und unfreundlich. Und dann diese Verletzungen..."
„Verletzungen ?"
„Ja, Verletzungen. Pulsadern öffnen sich von innen nach außen, Blut tropft auf den Boden und nach wenigen Augenblicken ist von den Schnitten nichts mehr zu sehen."
„Sind Sie sicher, dass er sich diese Verletzungen nicht selbst zufügt?“
„Ganz sicher. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen."
„Es will aus ihm raus", murmelte Pater Samuel.
„Ich habe mehrere Leichen mit offenen Handgelenken. Wollte es da auch raus?“
Er nickte.
„Und es war erfolgreich."
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Es sucht sich einen Wirt, der stark genug ist. Ist Mulder eine starke Persönlichkeit?“
„Eine starke Persönlichkeit ?“ Sie sah den Pater fragend an.
„Ja, das ist er.“
Scully ließ die Jahre ihrer gemeinsamen Arbeit vor ihrem geistigen Auge Revue passieren.
Die Entführung seiner Schwester
Der gewaltsame Tod seines Vaters – erschossen von Alex Krycek, dem Söldner
Die WAHRHEIT
Fox Mulder war so etwas wie eine starke Persönlichkeit. Kein Mensch vermochte so viel Leid zu ertragen.
Nichts von alledem war wirklich spurlos an ihm vorbeigegangen.
Er verbarg seine wahren Gefühle hinter bloßem Zynismus.

„Sie möchten sicher wissen, warum ich nach der Stärke seiner Persönlichkeit frage, Agent Scully.“
Als sie nickte, sprach er weiter, allerdings scheinbar ohne Zusammenhang.
„Hat er eine Vorliebe für die Flora dieser Gegend“, wollte er eher beiläufig wissen.
„Mulder ? Blumen ? Nein, nicht dass ich wüsste.“
Scully starrte auf Mulders Rücken.
„Es sind Rosen“, sagte sie dann tonlos, „und Rosen haben Dornen – und die sind spitz – man kann sich daran verletzen.“

Die Handgelenke offen- von innen nach außen

Scully ignorierte die Warnung des Paters, machte sich von ihm los und ging zu Mulder herüber.
Warum stand er vor diesem Rosengitter wie zu einer Salzsäure erstarrt?

„Mulder, was tust du da?“
Als er ihr nicht antwortete, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und drehte ihn zu sich um.

„Mulder, was.. ?“
Ihre Augen weiteten sich.
Mein Gott, was war ihm begegnet?
Er war weiß wie ein Laken, und in seinen Augen lag abgrundtiefes Entsetzen.
Sie ergriff seine Hände und zuckte augenblicklich zurück.
Scully blickte hinunter. Ihre Hände waren blutgetränkt.
„MULDER !“
Mulder sah sie kurz an, dann sackte er ohne Vorwarnung einfach in sich zusammen und Scully wandte sich zu dem Pater um und schrie:
„Pater Samuel, helfen Sie mir. Wir brauchen einen Notarzt, schnell!“



Krankenhaus, etwa eine Stunde später


Scully schreckte auf, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
Wo war sie nur eben mit ihren Gedanken gewesen?
Was war passiert?
„Agent Scully ?“
Sie hob den Kopf und sah in das bärtige Gesicht eines Arztes in den Vierzigern, dessen Namensschild ihn als „Dr. Francis Drake“ auswies.
„Agent Scully, könnten Sie bitte mitkommen.“
„Ist etwas passiert, Doktor?“
„So könnte man es nennen.“
Scullys Augen weiteten sich.
„Nein, nicht dass, was Sie denken. Er ist am Leben.“
Drake nahm Scullys Arm.


Scully streifte sich den Kittel über und betrat Mulders Zimmer auf der Intensivstation.
„Sein Zustand ist stabil“, sagte Doktor Drake, der hinter sie getreten war, „erstaunlich bei den gravierenden Verletzungen und dem enormen Blutverlust.“
Scully nickte und trat an Mulders Bett heran.
„Mal abgesehen davon, dass die Art der Verletzung außergewöhnlich ist...“
Er stellte die Kanüle neu ein.
„O ja, das ist sie tatsächlich.“
„... die spontane Selbstheilung danach ist noch ungewöhnlicher!“
„Die Verletzungen an seinen Armen“, sagte Scully ruhig.
„Ja, diese tiefen Schnittwunden.“
Sie nickte.
„Es ist schon einmal geschehen, genau genommen schon zwei Mal. Jedes Mal waren die Wunden nachher einfach weg.“

Scully sah auf Mulder herunter. Er sah sehr entspannt aus.
„Bleiben Sie einen Moment bei ihm, Agent Scully.“
Drake sah die junge Agentin besorgt an.
„Sie sehen schlechter aus als er. Wir reden dann später weiter, okay?“
„In Ordnung.“

Drake verließ den Raum und Scully ließ sich auf Mulders Bett nieder und griff nach seiner Hand.
Vor einer Stunde war das Blut in Bächen an ihm heruntergelaufen.
Jetzt waren seine Arme unversehrt.
Was tut es mit dir, Mulder?
Die Verletzungen wurden immer schlimmer, die Abstände zwischen den „Blutstürzen“ immer kürzer.
Wie viel Zeit blieb ihm noch?
Ist Ihr Kollege eine starke Persönlichkeit?
War es seine innere Stärke, die ihn am Leben hielt?
Sie musste mehr über die anderen Mitglieder des „Zirkels“ in Erfahrung bringen –und das möglichst schnell. Irgendwo musste das „Böse“, diese Besessenheit, ihren Unsprung haben und irgendwie ein Ende.
Und sie brauchte Hilfe.
Pater Samuel hatte Mulders Besessenheit sogleich erkannt und ihr seine Hilfe angeboten.
War sie bereit, sich auf so etwas einzulassen?
Mit Schaudern dachte sie an den Film Der Exorzist zurück.
Hatte das etwas mit der Wirklichkeit zu tun –
oder war die Wirklichkeit noch viel schlimmer?
Gab es einen Weg zurück ins Licht oder war der Tod die einzige Konsequenz?

Scully spürte plötzlich, dass ihr Händedruck erwidert wurde, und als sie den Kopf hob, traf ihr Blick in Mulders dunkle Augen.
„Scully ? Bin ich tot“, fragte er.
„Nein. Du bist im Krankenhaus, Mulder“
„Was ist passiert?“
„Du bist beinahe verblutet, im Garten hinter der Kirche.“
„Die Kletterrose“, sagte Mulder leise, „das Gitter, die Dornen!“
Er presste ihre Hand so fest, dass Scully beinahe vor Schmerz aufgeschrieen hätte.
„Nein !“
„Mulder, was ist ? Du tust mir WEH!“
„GEH WEG“, schrie er plötzlich, „KOMM NICHT NÄHER!“

Scully wich zurück, als er um sich schlug, und dann sah sie, dass sich das weiße Betttuch in Höhe seiner Beine blutrot färbte.
„Nein“, schrie Scully.
Sie sprang auf und riss die Decke weg. Eine scharfe Waffe, etwas schnitt von innen nach außen –
Von seinem Oberschenkel – sie hörte das Bersten der Kniescheibe, als die Waffe mit der Kraft einer Kreissäge hindurchglitt und dann bis zum Fuß weiterschnitt.
Es sah aus, als explodierten die Blutgefäße in seinen Beinen und Scully riss die Tür auf und rief um Hilfe.

Als Dr. Drake nur Sekunden später eintraf, war der Boden blutgetränkt.
Mein Gott – bei dieser Menge an Blut musste der Mensch nahezu blutleer sein.
Scully stand neben Mulders Bett, die blutige Decke in ihren Händen.
Dr. Drakes Blick glitt zu seinem Patienten. Er lag, Arme und Beine von sich gestreckt auf seinem Bett – sein Körper unversehrt.

„Was geschieht hier eigentlich“, sagte Drake und griff nach Mulders Handgelenk
„Gleichmäßiger Puls. Unfassbar.“
Er sah Scully an
„Setzen Sie sich, Agent Scully, nein besser noch, lassen Sie sich draußen einen starken Kaffee geben, bevor Sie mir umfallen!“
„Mir ist schlecht“, kam es kleinlaut von ihr.

Himmel, seit wann machte ihr Blut etwas aus?
Sie war Ärztin, normalerweise hart im Nehmen.

„Es geht schon wieder“, sagte sie dann.

Drake wandte sich an eine der Schwestern.
„Holen Sie was zum Aufwischen“, herrschte er sie an.
Die Schwester zuckte zusammen und stürzte dann davon.

„Agent Scully, gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen“, meinte Drake mit einem Blick auf das blutige Deckbett.
„Es ist nicht sein Blut“, sagte sie ruhig, „es kann nicht sein Blut sein!“
„Und wessen Blut ist es dann?“
„Ich weiß es nicht, Doktor. Alles, was ich weiß ist, dass schon fünf Personen auf diese Art und Weise gestorben sind.“
„Ihr Kollege ist ein Teil des Falls?“
„Ja, es scheint so!“
„Es tut mir leid, es sagen zu müssen, aber ich fürchte, es gibt keine medizinischen Mittel, um ihm zu helfen.“
„Keine medizinischen, richtig.“
„Ich glaube, ihn kann nur noch ein Wunder retten.“
Drake blickte auf das Bild des gekreuzigten Jesus an der Wand.

„Glauben Sie an Gott, Agent Scully?“

Scully starrte Drake für Sekunden an wie einen Geist, dann kam ihr plötzlich ein Gedanke, der ihr fast absurd vorkam, aber sie stellte die Frage:
„Kennen Sie einen Dr. Möbius, Dr. Drake?“
Drake riss beinahe den Kopf herum und musterte sie prüfend.
„Sie fragen mich nach Dr. Möbius. Was wollen Sie von ihm?“
„Also ist er Ihnen bekannt?“
„Hat er etwas mit Ihrem Fall zu tun?“
Drake sah der Schwester beim Aufwischen zu.
„Besorgen Sie schleunigst frische Bettwäsche, Schwester Agnes.“
„Ja, Dr. Drake.“
„Ob ich Möbius kenne...“
Scully war es, als amüsiere sich Drake plötzlich außerordentlich.

Was ist daran komisch?
Es geht um ein Menschenleben und mir läuft die Zeit davon

„Er war ein Studienkolleg von mir.“
„Studienkollege ?“
„Ja, er hatte eine Praxis in der Hauptstraße. Privatpraxis, plastische Chirurgie. Außerordentlich erfolgreich, bis ihm eine Patientin auf dem Tisch wegstarb. Ein Fehler bei der Narkose, der Ehemann ging vor Gericht und Möbius wurde seine Zulassung los.“
„Haben Sie noch Kontakt zu ihm, Dr. Drake?“
„Ja, wir treffen uns einmal die Woche. Bei Bernies, das ist der Schuppen am Highway.“

Schwester Agnes deckte den schlafenden Fox Mulder sorgsam zu.
Seltsamerweise war keinerlei Blut auf das weiße Bettlaken gelangt.
Es war nur auf dem Deckbett und dem Fußboden.
Letzterer glänzte inzwischen wieder, die junge Krankenschwester hatte alle Spuren von Blut beseitigt.

„Möbius hat umgesattelt“, fuhr Drake im Plauderton fort.
„Wieso ?“
„Er ist jetzt Heilpraktiker. Ganzheitliche Medizin. Er arbeitet v. a. mit seltenen Kräutertinkturen.“
„Wo kann ich ihn finden“, wollte Scully wissen.
„Sagte ich das nicht bereits? Bei Bernies, heute Abend, es ist heute der allwöchentliche Besuchstag. Wenn Sie mich begleiten, werden Sie ihn treffen.“
Ja, wenn du ihn nicht vorher warnst, nicht wahr ?

Drake warf einen Blick auf Fox Mulder und sah dann wieder Scully an.
„Es fragt sich nur, was wir inzwischen mit Ihrem Kollegen tun, Agent Scully. Ich weiß nicht, was er hat, aber die ganze Sache ist mir doch ziemlich unheimlich.“
Er sah auf das Betttuch, das Scully immer noch fest umklammert hielt.
„Geben Sie es der Schwester.“
„Nein, ich werde es mitnehmen.“
„Wenn Sie meinen“, sagte Drake achselzuckend

Das Blut auf dem Boden – es konnte nicht von Mulder sein.
Sie würde die Decke mitnehmen und das Blut untersuchen lassen.
Irgendwo musste sie anfangen.

Scully sah Mulder an, der wie ein Kleinkind zusammengerollt da lag und schlief.
Konnte sie ihn hier allein lassen?
Was war, wenn ihm etwas zustieß, während sie weg war?
„Dr. Drake, kann ich hier irgendwo telefonieren?“
„Sicher, im Schwesterzimmer steht das Telefon, es ist die Tür genau gegenüber!“
„Gut. Danke.“

Sie ging nach gegenüber, ließ sich das Telefonbuch geben, suchte kurz und wählte dann eine Nummer.
Nach mehrmaligem Klingeln meldete sich ihr gewünschter Gesprächspartner.
Sie sprachen ein paar Worte miteinander, dann legte sie auf und kam zurück.

„Alles in Ordnung, Agent Scully ?“
„Den Umständen entsprechend, ja.“
„Passt es Ihnen heute Abend gegen 20 Uhr? Mein Dienst endet um sieben.“
„Ja, das ist in Ordnung.“
„Soll ich Sie irgendwo abholen?“
„Ich werde hier bleiben.“
„Gut. Ich muss gehen, es ist Visite. Sollte irgendetwas sein, Schwester Agnes ist im Bereitschaftszimmer.“
Scully nickte.
„Ich weiß Bescheid, Doktor, keine Sorge, ein bisschen was ist von meiner medizinischen Ausbildung noch hängen geblieben.“
Sie lächelte schief.
„Wunderbar“, kam es von Drake, dann verließ er sie.

Scully ließ sich von Schwester Agnes einen Plastiksack geben, in dem sie die Bettdecke verstaute.
„Schwester Agnes. Wann wird hier die Post abgeholt?“
„Nachmittags gegen 15.30 Uhr.“
„Haben Sie einen Karton für mich.“
„Natürlich, vom Verbandsmaterial müsste noch einer da sein.“

Kurz darauf kam die Schwester mit einem Karton zurück.
Scully verpackte den Sack sorgsam und beschriftete ihn.
Während der ganzen Zeit hatte sie Mulder, den sie durch die Glasscheibe sehen konnte, nicht aus den Augen gelassen. Er hatte sich nicht einen Millimeter von der Stelle bewegt.
„Geben Sie ihn bitte für mich mit.“ Sie reichte der Schwester einen Geldschein.
„Natürlich.“ Schwester Agnes stellte den Karton direkt neben die Tür.
„So wird er ganz sicher nicht vergessen“, sagte sie mit einem leichten Lächeln.
„Es ist sehr wichtig“, sagte Scully bestimmt.
Die junge Schwester, ihr gegenüber, warf einen Blick auf den schlafenden Mulder.
„Ist er schon lange so“, fragte sie dann vorsichtig an.
„Mulder ? Nein, erst seitdem wir hier sind.“
„Sie sollten diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen, Agent Scully.“
Scully begegnete dem Blick der Anderen und in ihren Augen lag plötzlich ein Ausdruck, der dem Mulders vor dem Betreten des Gefängnisses sehr ähnlich war.
ANGST
„Wovor fürchten Sie sich, Agnes?“
„Fragen Sie Ihren Kollegen, er weiß es.“
Scully sah zu Mulder hin.
„Sagen Sie es mir, Agnes. Etwas stimmt nicht in dieser Stadt.“
„Sie kommen nicht von hier, Agent Scully, Sie können es nicht verstehen.“
„Das will ich aber, es verstehen. Sehen Sie sich Mulder an, Agnes. Er ist mehr tot als lebendig. Sagen Sie mir, was hier vor sich geht, in dieser Stadt. Damit ich weiß, wie ich Mulder helfen kann, bitte.“
Scully spürte, dass Schwester Agnes mit sich rang.
„Wollen Sie auch einen Kaffee, Agent Scully“, wollte sie dann wissen.
„Was ? Ja, bitte.“
Agnes goss beiden einen Becher der dampfenden Flüssigkeit ein, setzte sich und nahm einen Schluck.
Als sie ansetzte, um etwas zu sagen, hörte Scully eine dunkle Stimme hinter sich ihren Namen sagen:
„Agent Scully ?“
Scully erkannte die Stimme sofort als die Pater Samuels wieder und wandte sich nur langsam zu ihm um – langsam genug, um noch einen Blick in Agnes Waxcos Gesicht zu werfen.
Und den Ausdruck auf ihrem schmalen Gesicht zu sehen, die Mischung aus Abscheu und blankem Hass auf ihren Zügen.
Warum hasste sie Pater Samuel?
Scully sah von dem Pater zu der jungen Frau und registrierte verwundert, dass deren Gesicht wieder das leichte Lächeln zeigte.
Hatte sie sich das eben nur eingebildet?
Hatte sie jetzt auch noch Halluzinationen?
„Pater Samuel, schön Sie mal wieder zu sehen“, sagte Agnes jetzt nahezu herzlich und Scully wurde beinahe schlecht.
Was für ein Theaterstück gaben sie hier eigentlich in Whiskey, Alabama?
Und in welchem Akt waren sie inzwischen angelangt?
Wer spielte hier eine Rolle und wer war er selbst?

Es kam Scully fast vor, als habe man Mulder und sie ganz bewusst in eine Dekoration gesetzt, inmitten von Personen, die völlig unnatürlich und überzogen agierten.

Wo ist die versteckte Kamera?

Manchmal ist das Leben schlimmer als jede Fiktion.

„Sie waren lange nicht mehr in der Kirche, Agnes.“
„Ja, die vielen Nachtdienste lassen es nicht zu. Ich habe mir aber vorgenommen, in Zukunft wieder öfter zu kommen.“
„Tun Sie das Agnes, Mildred und ich würden uns freuen.“
Agnes blickte auf die Uhr an der Wand und erhob sich.

„Leider muss ich noch ein bisschen was tun, Sie entschuldigen mich.“
„Natürlich“, sagte Scully höflich.

Als Agnes gegangen war, stand auch Scully auf.
„Kommen Sie, Pater.“
Er folgte ihr in Mulders Krankenzimmer.
Dort blieb er eine ganze Weile regungslos vor dem Bett stehen, dann steckte er die Hand aus und vollführte eine kreisende Bewegung etwa 20 cm oberhalb der Bettdecke.
Scully sah ihm wortlos dabei zu.

Pater Samuel nickte kurz und sein Blick glitt zu dem kleinen Bild mit dem gekreuzigten Jesus an der Wand.
„Es ist gut“, sagte er dann.
„Was ist gut?“
„Seine Energie ist schwach, aber sie ist noch da. Er ist also noch nicht vollkommen verloren.“
Er ließ sich auf einem der Stühle nieder und sah Mulder ins Gesicht.
„Sie sagten, er habe sehr viel Blut verloren.“
„Ja.“
„Und das die Wunden jetzt an den Beinen anfangen.“
„Ja.“
„Die Abstände werden kürzer.“
„Ja. Und ich muss etwas tun, ich muss jemanden treffen, der mir weiterhelfen kann, aber dafür muss ich Mulder alleine lassen.“
„Ich werde bei ihm bleiben und für ihn beten. Aber etwas müssen Sie noch tun, bevor Sie gehen, Agent Scully. Sorgen Sie dafür, dass man seine Arme und Beine festbindet.“
„Festbinden ?“
„Ja und das aus mehreren Gründen:
Erstens, damit er sich nicht verletzt
Zweitens, damit er andere nicht verletzt und
drittens, damit er nicht entkommen kann
Es ist wichtig, dass Ihr Kollege und das, was ihn in Besitz hat, diesen Raum nicht verlässt.“
Noch besser wäre die Kirche, aber ich denke nicht, dass wir ihn da hin bekommen, dafür ist er schon zu weit. Der Jesus an der Wand muss reichen.“
Scullys Blick wanderte von Pater Samuel zu Mulder.
Er sah aus wie ein kleiner Junge.
Es tat weh, ihn so zu sehen und nicht zu wissen, was man tun konnte.
Ihn festbinden.

„Womit sollen wir ihn festbinden“, sagte Scully. Ihre Stimme klang belegt,
„tut es auch so was wie eine Zwangsjacke?“
„Haben Sie Handschellen, Agent Scully?“
„Ob ich Handschellen habe? Ja, natürlich.“
„Dann holen Sie sie. Wir sollten sofort beginnen, die Zeit verrinnt und wir verlieren ihn von Minute zu Minute mehr.“
„Okay.“
Scully wandte sich um, verließ den Raum, zog sich den Kittel aus und eilte zum Wagen.
Während des ganzen Weges schoss ihr Gedanken durch den Kopf.

Wie stark ist dein Glauben, Dana Scully?
Haben wir etwa geheiratet?
Was ist, wenn er besessen ist?
Ich glaube, es hat sich mich als neuen Wirt ausgesucht
Einfach auf...
Seit wann ist er so, Ihr Kollege?
Er hat sein Licht verloren.
Ich werde Ihnen helfen.
Welches Theaterstück geben sie hier eigentlich?
Bin ich verrückt?
Was stimmt nicht in dieser Stadt?
Wir müssen ihn festbinden
Der Jesus am Kreuz reicht aus.


Scully öffnete ihren Handkoffer und nahm die Handschellen heraus, genau zwei Paar


Das Licht der untergehenden Sonne tauchte sie in gleißendes Licht.
Für einen Augenblick sah es aus, als brannten die Handschellen in ihren Händen und um ein Haar hätte Scully sie fallen lassen.
Wie groß war die Kluft zwischen dem so genannten Normalsein und dem Wahnsinn?
Mulder war besessen, aber sie wurde langsam verrückt – oder etwa nicht?

Scully eilte zurück auf die Intensivstation, schlüpfte wieder in den Kittel und registrierte im Vorbeigehen, dass der Karton mit der blutigen Bettdecke verschwunden war. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es 15.40 war.
Die Post war also gerade abgeholt worden. Jetzt musste sie nur noch hoffen, dass das Paket seinen Adressaten auch erreichte, damit sie endlich neue Erkenntnisse über das Blut gewinnen konnten.
Wenn ihn dieses Paket erreichte.
Sie sah Gespenster
Es würde ihn erreichen, ganz sicher und sie würde schon morgen mehr wissen.

Als Scully durch die Scheibe in Mulders Krankenzimmer sah, bemerkte sie, dass Mulder seine Position verändert hatte.
Er lag jetzt auf dem Rücken und seine Augen standen weit auf – er blickte zur Decke.
War er etwa...
Sie stürzte förmlich ins Zimmer.
Pater Samuel bemerkte ihr Kommen, er wandte sich zu ihr um und legte sich einen Finger an die Lippen.
Scully nickte langsam und trat näher.
Als sie direkt neben dem Bett stand, erkannte sie, dass Mulder gegen die weiße Decke starrte, fast so, als suche er etwas.
Dann, plötzlich, blinzelte er, er wandte seinen Kopf und sah sie an.
„Hallo“, sagte sie.
Er antwortete ihr nicht, aber seine Hand schob sich über die Decke, griff nach ihrer Hand und drückte sie.
Sein Händedruck war fest und warm.
Scully streckte die Hand aus und strich ihm die Haare aus der Stirn.
Er fühlte sich nicht an, als habe er Fieber, schien völlig klar zu sein.
„Geht es dir gut“, fragte sie ihn.
Er nickte langsam und dann wanderte sein Blick von ihr weg hin zu dem Pater.
„Das ist Pater Samuel, Mulder, er wird dir helfen.“
Mulder sah den anderen Mann einen Augenblick an, dann weiteten sich seine Augen und Scully spürte, dass sein Händedruck sich verstärkte.
„Mulder, was ist ?“
„Hören Sie auf zu reden, Agent Scully“, sagte Pater Samuel ruhig,
„er versteht Sie nicht.“
„Aber sicher tut er das.“
„Nein, er ist überhaupt nicht hier.“
„Pater, was reden Sie da, natürlich ist Mulder hier.“
„Nein, das, was Sie sehen, ist nur seine Hülle, Agent Scully. Ihr Kollege Mulder ist nicht in diesem Raum, was Sie für ihn halten, ist das, was ihn in Besitz hat und was wir zurückschicken müssen. Ich beweise es Ihnen. Geben Sie mir die Handschellen.“
Scully zögerte.
„Agent Scully, die Handschellen !“
Sie streckte sie ihm entgegen.
Der Pater stand auf, ging um das Bett herum und griff nach Mulders rechtem Handgelenk.
Mulder war eine Sekunde lang überrascht, dann versuchte er sich aus dem Griff zu befreien, aber Pater Samuel griff so fest zu, dass seine Handknöchel hervortraten, ließ dann die Handschelle um Mulders Handgelenk herum – und am Bettgestell festschnappen.

Scully versuchte sich aus Mulders Umklammerung zu befreien. Er zerquetschte ihr beinahe die Finger.
Sie sah wie er sich gegen die Fesselung wehrte, wie viel Kraft plötzlich wieder in ihm war. Der Pater wich den Tritten des anderen Mannes aus, versuchte nach seinem rechten Bein zu greifen und bekam es schließlich zu fassen.
Mulders linker Fuß traf seine Stirn, aber er ließ nicht locker.
Klack
Klack
Und Mulders rechter Fuß war gefangen.
Scully sah die Beule, die sich auf der Stirn des Paters bildete. Er schien leicht benommen.
„Agent Scully, nun helfen Sie mir doch, ich schaffe das nicht allein!“
Scully sah, dass Mulder wieder nach dem Pater trat und für eine Sekunde ließ der eiserne Druck seiner Finger nach.
Sie entwand sich aus seiner Umklammerung, griff nach seinem Handgelenk und ließ die Handschelle zuschnappen.
Dann eilte sie Pater Samuel zur Hilfe.
Schon kurz darauf war Fox Mulder gefangen, Arme und Beine mit Hilfe von Handschellen befestigt an einem eisernen Bettgestell.
Er wehrte sich noch immer, das Bett wackelte.

Mulder sah Scully an und sie sah, dass seine Augen brannten, als er:
„MACH MICH SOFORT WIEDER LOS“ knurrte.
Das war nicht seine Stimme und das waren nicht seine Augen, das war etwas anderes.
„Sehen Sie es, Agent Scully!“
„MACH MICH SOFORT WIEDER LOS UND SORGE DAFÜR, DASS DER KERL HIER VERSCHWINDET!“
Scully starrte Mulder an – nein, halt, nicht Mulder, sondern das, was aussah wie er – und doch auch wieder nicht.
„Sehen Sie es, Agent Scully?“
„Ja, ich sehe es.“
„Und verstehen Sie jetzt die Notwendigkeit.“
„Ja.“
Sie sah den Pater an.
„Sie sind verletzt, soll ich Ihnen etwas Eis gegen die Schwellung holen.“
„Nein, das ist nicht nötig, danke. Ich werde hier bleiben und abwarten.“
„Und was tun wir jetzt, Pater Samuel?“
„Sie werden nachher die Person treffen, die Sie treffen müssen. Und ich werde hier bleiben und beten – für die Seele Ihres Kollegen.“

„Seine Seele, hahaha, als ob das noch was bringt, beten!“
Die Stimme aus Mulders Mund lachte wieder und wieder und Scully hätte sich am liebsten die Ohren zu gehalten.
„Beten Sie für ihn, Pater Samuel, holen Sie ihn zurück!“
Samuel sah Scully durchdringend an.
„Es liegt Ihnen viel an ihm, nicht wahr?“
„Ja, das tut es.“
Sie erwiderte seinen Blick.
„Vielleicht sollten Sie auch für mich beten, Pater. Ich glaube, ich verliere langsam den Verstand.“
Jetzt huschte ein Lächeln über das schmale blasse Gesicht des Geistlichen.
„Aber nein, ganz sicher nicht, Agent Scully, ganz im Gegenteil. Sie gehören nur zu den Menschen, die mehr sehen, als das, was das Auge wahrnimmt. Vielleicht verstehen Sie jetzt nicht, was ich meine, aber wenn das hier vorbei ist, werden Sie es verstehen, ganz sicher.
Machen Sie sich keine Gedanken, es ist alles in Ordnung mit Ihnen.“
Er drückte ihre Hand, faltete die Hände und begann leise zu beten.

Scully sah, dass sich Mulder noch immer gegen die Handschellen stemmte.
„MACH MICH ENDLICH LOS, SONST GESCHIEHT HIER EIN UNGLÜCK!“
„Hören Sie nicht hin, Agent Scully, lassen Sie es reden!“
„UND NIMM DEN KERL MIT!“
„Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe...“ hörte Scully den Pater das Vaterunser sagen und sie sah, dass die Worte die Wut des Mannes im Bett noch zu verstärken schienen.
„... wie im Himmel, so auch auf Erden, unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, denn dein ist das Reich, und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.“

KNIRSCH

Scully sah, dass sich eine der Handschellen leicht geöffnet hatte.
Es ist stark genug, sich zu befreien.
Diese Fesseln werden nichts nützen
Sie sah den Pater an und bemerkte, dass er es auch gesehen hatte.
Als sie etwas sagen wollte, wischte er ihre ungesagten Worte mit einer Handbewegung beiseite, stand auf und streckte Mulder das Kreuz entgegen, das während des Gebetes in seinem Schoß gelegen hatte.
„NEIN !“
Mulder drehte den Kopf zur Seite, wandte seinen Blick von dem Kreuz ab.
„Gehen Sie ins Hotel, Agent Scully“, sagte Pater Samuel ruhig, „ruhen Sie sich aus, schlafen Sie ein bisschen.“
„Schlafen ?“
Scully sah ihn völlig entgeistert an.
„Ich kann nicht schlafen, nicht unter diesen Umständen.“
Sie strich sich müde das rote Haar aus dem Gesicht.
„O doch, Sie können, nein, Miss Scully, Sie müssen.“
Er sah sie an.
„Dieser Termin, dieses Treffen, von dem Sie sprachen. Sie sagten, es sei wichtig, dass Sie jemanden treffen, der Ihnen in dieser Sache weiterhelfen kann.“
Sie nickte und warf dem gefesselten Mann in dem weißbezogenen Krankenhausbett einen Blick zu.
Seine Augen waren geschlossen und es sah aus, als schliefe er.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Agent Scully. Ich werde auf ihn acht geben, versprochen.“
„Pater Samuel, wie lange sind Sie schon in dieser Stadt?“
„Wie lange ? Nun, es ist meine Heimatgemeinde. Ich bin schon Zeit meines Lebens hier und werde diesen Ort wohl auch erst mit meinem Tode verlassen, zumindest körperlich.“
„Sind Sie sicher, dass Sie Pater Benedikt nicht kennen? Man sagte mir, ich könnte ihn hier ganz in der Nähe finden.“
„Nein, tut mir leid, Miss Scully, ein Pater dieses Namens ist mir nicht bekannt.“
„Und Doktor Möbius ?“
Jetzt hob der Pater den Kopf und sah Scully an.
Ihr war es, als sei er bei der Nennung des Namens Möbius unwillkürlich zusammengezuckt.
„Sie kennen Doktor Möbius.“
„Ja, ich kenne diesen Namen. Es gab mal einen unglückseligen Todesfall vor ein paar Jahren und ich erinnere mich an die Beerdigung einer jungen Frau, die den großen Fehler beging, in die Schöpfung Gottes einzugreifen. Sie bezahlte ihren Fehler mit dem Leben.“
„Diesen Mann werde ich treffen, in...“ Scully blickte auf ihre Armbanduhr, „in etwas mehr als drei Stunden.“
„Was hat Möbius mit diesem Fall zu tun, Miss Scully?“
„Er hat vielleicht den Schlüssel zu diesem Fall, er oder Pater Benedikt.“
„Wenn Sie darüber reden möchten, Miss Scully, ich kann zuhören.“
Über Scullys Gesicht huschte ein Lächeln.
Sie hätte ihm gerne die ganze Geschichte erzählt, weil er der einzige Mensch an diesem seltsamen Ort zu sein schien, dem sie trauen konnte, aber etwas schnürte ihr die Kehle zu.

Die Anwesenheit einer fremden, bösartigen Macht, Dana.

„Danke, Pater, aber ich ... kann das nicht.“
Sie stand auf.
„Ich denke, ich werde Ihren Rat befolgen und noch mal ins Motel fahren.“
Pater Samuel sah sie überrascht an.
Wieso hatte sie so plötzlich ihre Meinung geändert?
Sie hatte Angst, flüchtete sie etwa?
Scully sah noch mal kurz zu dem Mann in dem Bett hin, dann drehte sie sich um und ging zur Tür.
Als sie diese erreichte, hielt Pater Samuels Stimme sie zurück.
„Dana.“
Sie wandte sich um und sah ihn an.
„Dana. Laufen Sie nicht vor Ihrer Verantwortung davon!“
Scully erwiderte den Blick für den Bruchteil einer Sekunde, dann stürmte sie förmlich aus dem Raum.

Als der Geistliche mit dem Mann im Bett allein war, breitete sich ein Lächeln auf seinem hageren Gesicht aus.
„Tu nicht so, als würdest du schlafen“, sagte er dann zu Mulder, „wie soll es nun weiter-
gehen?“




Mietwagen, auf dem Weg zurück ins Motel, gegen 16.30 Uhr

Dana Scully fuhr zum Motel zurück.
Noch vor wenigen Stunden hatte Mulder neben ihr gesessen und sie waren zu der Kirche gefahren.
Dort hatte sie Pater Samuel gefunden und Mulder verloren.
Verloren
Ihre Finger gruben sich in das weiche Leder des Lenkrads des Fords.
Laufen Sie nicht vor Ihrer Verantwortung davon
Als ob sie vorhatte, vor irgendetwas davon zu laufen.
Sie hielt an einer roten Ampel und fuhr erst wieder los, als der Fahrer eines weißen Lieferwagens hinter ihr wütend seine Hupe malträtierte.
Die Straße verschwamm vor ihren Augen
Ihre Verantwortung

Sie wusste nicht mehr, wie sie zu dem Motel gekommen war. Erst, als sie den Leihwagen auf dem verlassenen Parkplatz zum Stehen gebracht hatte, hörte das Zittern in ihr auf und dann, in ihrem Zimmer, fiel die Spannung endgültig von ihr ab.
Scully spürte plötzlich, dass ihr die Tränen kamen und sie tat nichts, um zu verhindern, dass sie ihr über das Gesicht liefen.
Dann würde sie halt weinen. Vielleicht ging es ihr danach etwas besser.
Sie schlüpfte aus den Schuhen und legte sich auf ihr Bett.
Eine Weile starrte sie die grüne Gardine an, dann plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke, sie öffnete die Nachttischschublade und fand sie gleich – die Bibel
Glaubt Agent Mulder?
Ob Mulder jemals in die Bibel gesehen hatte?
Ganz sicher hatte er das, auch wenn er kein wirklich religiöser Mensch im eigentlichen Sinne war.
Scully schlug wahllos Seiten auf, die Schöpfungsgeschichte, Jesaja, die Seligpreisungen, die Bergpredigt.
Wie stark ist dein Glauben, Scully
Deine Verantwortung
Er hat sein Licht verloren
Sie hätten niemals hier her kommen sollen.
Niemals
Sie hörte das Ticken ihres kleinen Reiseweckers
TICK
TICK TICK
Ob sie wirklich ein bisschen schlafen sollte?
Ihr Blick wanderte zur Uhr.
17.50 Uhr
Es war noch Zeit.
Dr. Drake erwartete sie im Krankenhaus, gegen 20 Uhr. Mit dem Wagen benötigte sie vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten.
Sie konnte also tatsächlich noch etwas schlafen
Wenn sie schlafen konnte
Scully stellte den Wecker auf 19 Uhr ein, machte es sich bequem und die Augen zu.
Das einzige Geräusch, das sie hörte, war das gleichmäßige Ticken links neben sich.
TICK
TACK
Schon nach weniger als einer Minute war sie eingeschlafen.

„Mom, warum muss ich dieses komische Kleid anziehen?“
„Du musst doch hübsch sein, wenn du in die Kirche gehst, Dana. Was denkst du, wird der Pater sagen, wenn du dich an diesem Tag nicht besonders hübsch machst?“
Der Blick ihrer Mom war streng, aber auch verständnisvoll.
Dana war zwar nicht so ein Wirbelwind wie ihre große Schwester Melissa, aber sie mochte es nicht, in unbequeme Kleider gesteckt zu werden. Hübsch ja, aber ...
„Du meinst, es ist wichtig, dass ich hübsch aussehe, Mom“, sagte Dana mit ernstem Gesicht.
„Es ist der Tag deiner Kommunion, Kind, er ist wichtig für dein weiteres Leben. Dein Dad ist sehr sehr stolz auf dich.“
„Kommt Daddy auch in die Kirche?“
„Er versucht, pünktlich zu sein, aber er wird uns auf jeden Fall vor der Kirche abholen.“
Margret Scully sah auf die Uhr.
„O, wir sind spät dran, Dana. Zieh deine Schuhe an. Ich hole deine Strickjacke und wir treffen uns unten.“
„Ja, Mom.“
Dana stieg in ihre Lackschuhe. Die waren ja noch unbequemer als dieses dumme Kleid. Gab es nicht Kleider, die schön waren und nicht überall zwickten?

Die kleine Kirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Dana sah sich um. Die anderen Mädchen waren alle sehr hübsch in ihren Kleidern und die Jungs trugen dunkle Anzüge.
Ob die sich auch so unwohl fühlen wie ich?
Ob die sich auch wünschen, dass das alles hier bald vorbei ist?
Sie sah zur Seite und ihre Familie an.
Melissa, die auch ein hübsches Kleid anhatte.
Billy, neben ihr – Melissa und er hatten sich am Morgen wieder geprügelt – wie so oft
Charles zwischen ihnen – ein Puffer – ihr Lieblingsbruder und
Mom – sie sah so stolz aus.
Gut, wegen Mom würde sie die eineinhalb Stunden durchhalten.
Dana atmete tief durch.
„Mom, kann ich nachher ein anderes Kleid anziehen, wenn wir wieder zuhause sind?“
Ihre Mutter nickte und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht.

Natürlich war das alles schrecklich langweilig. Sicher, sie mochte die Geschichten aus der Bibel, aber der alte Pater konnte sie gar nicht richtig erzählen – der Junge, der ihn manchmal vertrat – konnte es besser.
Alle hingen an seinen Lippen, wenn er sprach.
Pater Matthews Worte klangen fast, als seien die Batterien des Transistorradios leer.
Die Bänke waren unbequem, es war kalt in der Kirche.

Als die Zeremonie vorbei war, freuten sich alle, das Gotteshaus verlassen zu können.
Draußen wartete Danas Vater auf seine Familie.
Er trug seine Uniform und sah sehr militärisch und sehr stolz aus.
„Na, Starbuck, alles gut überstanden?“
Er schloss Dana in seine Arme.
„Ja, Dad, schade, dass du nicht da warst !“
„Jetzt bin ich da und wir haben noch den ganzen Tag für uns, wie findest du das?“

Dana zog sich um, bevor die Gäste kamen, um ihre Kommunion zu feiern.
Es wurde ein schöner Tag,
so schön wie das Wetter..
bis der Anruf kam....

KLING
KLINGELING
KLING

Scully schreckte auf.
Das Klingeln, das sie gehört hatte, gehörte nicht zu dem Traum, den sie gerade eben geträumt hatte, es war real und es geschah im Jetzt.
Sie wollte nach dem Hörer greifen, aber im selben Moment hörte das Klingeln auf.
Danas Blick wanderte zu dem Reisewecker.

Himmel
Er zeigte an, dass es gerade zwanzig vor acht war
19.40
Verdammt
Sie hatte den Wecker auf 19 Uhr eingestellt!
Warum hatte er nicht geklingelt?
Sie hatte noch niemals verschlafen
In ihrem ganzen Leben nicht
Zu verschlafen war ein Privileg, das Mulder genoss
MULDER
Der Termin
Die Chance, ihm zu helfen
Und was machte sie?
Sie verpasste ihn.

Scully schwang die Beine aus dem Bett und verschwand im Badezimmer.
Schnell machte sie sich etwas frisch, zog sich um und verließ das Zimmer.
Als sie den Flur hinunterging, klingelte wieder das Telefon.


Krankenhaus, Intensivstation, gegen 20 Uhr

Dr. Francis Drake betrat die Station und zog sich einen Kittel über.
Ein Blick in das Schwesternzimmer zeigte ihm, dass Schwester Agnes irgendwo auf dieser Station sein musste. Ihr Dienst endete erst um elf.
Drake blickte durch die Scheibe in das Krankenzimmer von Fox Mulder.
Der Mann im Bett rührte sich nicht.
Neben dem Bett stand ein Stuhl. Auf ihm saß jemand, der ebenfalls einen Kittel trug.
Drake betrat den Raum und der Mann hob den Kopf und sah ihn an.
„Pater ? Was machen Sie denn hier?“
„Ich passe auf.“
„Sie passen auf?“
Drake trat an das Bett heran.
Fox Mulders Augen waren geschlossen, er atmete tief und gleichmäßig.
Jemand hatte ihn in seine Bettdecke eingewickelt.
Er sah fast wie eine Mumie aus.
Drake streckte die Hand aus, aber der Pater herrschte ihn an, bevor er den Mann im Bett berühren konnte.
„Wagen Sie es nicht, ihn anzufassen!“
Drake wandte sich um und sah den anderen Mann an.
Für den Bruchteil von Sekunden sah Drake jemanden anderen vor sich, jemanden, der nichts mit einem Gottesmann zu tun hatte.
Aber der Bruchteil ging vorbei und dann war da nur noch ein katholischer Geistlicher in einem grünen Kittel. Ein Geistlicher, den er kannte.
„Aber...“, begann er.
„Kein aber. Wenn Sie nicht wollen, dass es Ihnen ebenso ergeht wie dem Mann in diesem Bett, sollten Sie ihm fern bleiben. Es geht ihm gut. So gut, wie es ihm in seinem Zustand gehen kann. Medizinisch können Sie nichts für ihn tun, also versuchen Sie es gar nicht erst.“
Drake nickte langsam.
„Wo ist Agent Scully“, wollte er dann wissen.
„Sie wollte sich noch etwas hinlegen, aber gegen acht Uhr wieder hier sein.“
Drake blickte auf seine Uhr.
„Es ist schon fünf nach acht. Ein paar Minuten warte ich noch, aber dann muss ich gehen. Ich bin verabredet.“
„Weiß Agent Scully, wo Sie hin wollen?“
„Ich habe es ihr gesagt, ja.“
„Ich werde Sie hinschicken, wenn Sie hier ankommt. Wohin soll sie denn kommen?“
„Zu Bernies an den Highway.“
Samuel nickte.
„Gehen Sie, Doktor.“
Drake wandte sich um.
„Und Doktor.“
„Ja ?“
„Grüßen Sie Möbius von mir!“
„Das werde ich, wenn Sie möchten.“
„Vergessen Sie es nicht, Drake.“
„Natürlich nicht, Pater Benedikt.“

Drake verließ den Raum und nachdem er sich umgezogen hatte, auch das Krankenhaus.

Zur selben Zeit auf dem Weg zum Krankenhaus

Scully fluchte.
Sie fluchte selten und wenn, dann niemals ohne Grund.
Nicht allein, dass sie verschlafen hatte,
nicht schlimm genug, dass sie diesen wichtigen Termin verpasste,
jetzt streikte auch noch dieser verdammte Mietwagen.
Das konnte doch alles nicht wahr sein!
Wem hatten Mulder und sie etwas getan?
Wem, und womit hatten sie das alles hier eigentlich verdient?

Scully stieg aus dem Wagen, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer der Intensivstation.
Es klingelte lange, aber niemand nahm den Hörer ab.
Wo war Agnes?
War irgendetwas geschehen?
Das Telefon in ihrer Hand zitterte.
Nein
Pater Samuel war da und passte auf ihn auf.
Sie musste ihm vertrauen und zu der Verabredung.
Egal, auch wenn sie zu spät kam.
Wie hieß dieser Laden noch gleich?
Bernies
Am Highway
Genau, das war es.
Scully stieg wieder in den Wagen und drehte den Schlüssel.
Er sprang sofort an.
Sekundenlang starrte sie auf den Tacho.
Gerade eben noch hatten alle Lampen geleuchtet, wie bei einem Feuerwerk am Sylvesterabend,
bevor der Motor starb.
Und jetzt...

Nicht fragen, Scully, einfach losfahren


Krankenhausparkplatz, gegen 20.30 Uhr

Scully brachte den Mietwagen zum Stehen, stieg aus dem Wagen und eilte hinein.
Ob Drake noch hier war?
Hatte er auf sie gewartet?
Als Sie an der Zentrale vorbeikam, sprach sie die Frau hinter dem Tresen an.
„Agent Scully ?“
Sie blieb stehen und sah die andere Frau fragend an.
„Ja ?“
„Doktor Drake bat mich, Ihnen etwas auszurichten. Er ist schon losgefahren zu Bernies. Sie möchten einfach nachkommen.“
„Gut.“
„Wissen Sie, wie Sie dort hinkommen?“
„Ehrlich gesagt, weiß ich nur, dass es am Highway ist.“
„Kommen Sie, ich werde es Ihnen erklären.“
Dana sah die Frau dankbar an.

Der erste nette nicht seltsame Mensch an diesem furchtbaren Ort



Bernie' s am Highway, etwa zur selben Zeit

„Francis, da bist du ja endlich, ich dachte schon, du kämst nicht mehr, bist spät dran.“
Drake ließ sich neben ihm an der Bar nieder und bestellte beim Barkeeper einen Wodka on the rocks.
Möbius sah den Freund neben sich fragend an. Etwas war seltsam an ihm, er war so angespannt – völlig untypisch für ihn.
„Francis, was ist los?“
Drake betrachtete sein Spiegelbild an der Wand hinter dem Tresen. Er sah blass aus und angegriffen. Sein Blick wanderte zu dem Mann neben sich.
Möbius war etwa in seinem Alter, Mitte Vierzig und sein dunkles Haar begann schon licht zu werden. Seit dem Studium hatte er einiges an Fett angesetzt. Damals war er einer der jungen Männer gewesen, denen die Frauen in Scharen hinterher liefen. Seine Praxis hatte eine wahre Goldgrube dargestellt – bis das mit der Frau des Bürgermeisters passierte. Sie hatte sich nur liften lassen wollen, um wieder schön und jung auszusehen für ihren Mann – und war ihm auf dem OP-Tisch gestorben. Warum es geschehen war?
Niemand wusste es genau. Sie hatte nur eine leichte Betäubung bekommen, auf ihren eigenen Wunsch hin und dann hatte ganz plötzlich ihr Herz versagt.
Ihr Ehemann, der Bürgermeister, hatte sofort dafür gesorgt, dass er seine Zulassung loswurde.
Mit dieser Zulassung hatte er auch seine ganze Lebensfreude verloren.
Bis er ihm begegnet war.
„Dan“, begann Drake.
„Ja ?“
„Was ist mit Pater Benedikt?“
Möbius sah den anderen an.
„Pater Benedikt ? Wieso fragst du nach ihm?“
„Ich sah ihn im Krankenhaus, auf der Intensivstation, bei einem Mann, der mehr tot als lebendig ist.“
„Und ?“
„Er lässt dich grüßen.“
In Möbius dunklen Augen blitzte es auf.
„So, tut er das.“
„Es wird gleich noch jemand zu uns stoßen, Dan. Dieser Mann im Krankenhaus ist FBI-Agent und seine Partnerin will mit dir reden.“
„Mit mir ? Was sollte ich ihr erzählen können?“
„Vielleicht etwas über Pater Benedikt“, sagte Drake und nahm einen Schluck von seinem Wodka.
Möbius lachte.
„Ich soll ihr erzählen, dass Pater Benedikt mir wieder Lebensmut gegeben hat?“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Dana Scully kam herein.
Mit Hilfe der Beschreibung der Frau am Empfang des Krankenhauses hatte sie Bernies sofort gefunden.
Ihr Blick wanderte suchend umher und blieb schließlich an Drake hängen.
Der Mann neben ihm musste Möbius sein.
Vom Alter passte er genau zu den anderen Opfern.



„Dr. Drake.“
Drake lächelte Scully an.
„Dan, das ist Spezial-Agent Dana Scully, Miss Scully, mein Studienfreund Dan Möbius.“
Möbius drückte die Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Sein Blick wanderte über ihr Gesicht. Es war nahezu perfekt, dachte er als Schönheitschirurg. Diese Frau musste nichts verändern. Manche Frau hätte alles gegeben, so auszusehen, wie diese Bundesagentin.
Was wollte sie von ihm?
„Agent Scully, Francis sagte, Sie brauchen meine Hilfe.“
„O ja, das tue ich.“
Sie ließ sich auf dem Barhocker neben Möbius nieder und bestellte sich einen Kaffee.
„Man sagte mir, Sie seien Mitglied einer Vereinigung, von deren Mitgliedern in der letzten Woche 5 eines unnatürlichen Todes starben.“
„Eine traurige Tatsache.“
„Traurige Tatsache ?“
Scully zog eine Augenbraue hoch.
Was für eine seltsame Bezeichnung.
„Ja.“
Möbius zuckte die Achseln.
„Sie haben ihren Glauben verloren, ihr Tod war die logische Konsequenz“, sagte er dann.
„Den Glauben verloren? Möbius, diese Männer sind jämmerlich zugrunde gegangen und Sie sprechen davon, dass sie ihren Glauben verloren haben und deshalb auch ihr Leben?“
„Genau das sage ich, ja.“
Scully hätte viele Fragen gehabt, in diesem Moment, sie stellte nur eine.
„Was ist mit Ihrem Glauben, Mr. Möbius?“
„Mein Glauben ? Es ist stark wie eh und je!“
„Sind Sie sich da völlig sicher?“
Scully sah ihn aufmerksam an.
Was für ein seltsamer Mann.
Die Männer, die dieser Sekte angehörten, waren alle seltsam, seltsam entrückt, fast so, als habe sie jemand einer Gehirnwäsche unterzogen.
„Ich bin mir sehr sicher, Agent Scully.“
Möbius lächelte.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick, Miss. Ich muss mal eben wohin.“
Er stieg vom Barhocker und ging an ihr vorbei, in Richtung der Tür mit der Aufschrift Toiletten.

Scully sah Drake an.
„Hilft Ihnen das jetzt weiter, Agent Scully?“
„Ich muss gestehen, dass ich es nicht weiß, Doktor.“
Sie strich sich müde das rote Haar aus dem Gesicht.


Zur gleichen Zeit auf der Herrentoilette von Bernies

Möbius trat an das Waschbecken und drehte den Hahn auf. Er wusch seine Hände und blickte in den Spiegel.
Er hatte sich ganz schön verändert, in den letzten Jahren.
Noch vor kurzer Zeit war es ihm wahrhaft dreckig gegangen. Nach dieser ganzen Geschichte mit der Toten in seiner Praxis und dem Ende seiner Karriere. Dann hatte er ihn getroffen, den Pater, und neue Freunde gefunden, denen es ähnlich ergangen war wie ihm.

Die Bundesagentin hatte ihn nach diesen Freunden gefragt.
Was konnte er ihr überhaupt sagen?
Er durfte nicht denselben Fehler machen wie die fünf anderen und seinen Glauben anzweifeln.
Ein plötzliches Brennen in seinen Händen ließ ihn nach unten blicken.
NEIN
Er sah das Blut in das weiße Waschbecken laufen, sah, wie sich seine Handgelenke öffneten mit einem lauten
RATSCH
„Nein !!!!!!!“
Möbius zog eine Handvoll Einmalhandtücher aus dem Spender und presste sie auf die offenen Wunden.
Sofort durchtränkte das Blut das Papier.
„Nein ! Bitte nicht, ich habe doch nichts getan, ich glaube doch immer noch.“
Tränen liefen über sein Gesicht und Blut rann an seinen Armen hinunter.
Er blickte noch einmal in den Spiegel, bevor er zu Boden stürzte.


Am Tresen

Scully sah zur Tür hin.
Jetzt war Möbius schon fast fünfzehn Minuten weg.
Irgendetwas stimmte da doch nicht.
Ihr Blick traf den Drakes im Spiegel.
„Er ist ganz sicher nicht einfach abgehauen, falls Sie das befürchten, Agent Scully. Es ist nicht seine Art, zu verschwinden!“

Im selben Moment wurde die Tür mit der Aufschrift Toiletten aufgerissen und jemand schrie:
„Einen Arzt, schnell, wir brauchen einen Notarzt!!“
Scully sprang auf und lief in die Herrentoilette.
In der Tür blieb sie eine Sekunde lang stehen und nahm das Bild, das sich ihr bot in sich auf.
Ein Bild, das sie kannte.
Möbius lag auf dem Boden, in einer Lache von Blut, seine Handgelenke durchtrennt, von innen nach außen, seine Augen weit aufgerissen.
Erst dann ging sie neben ihm in die Knie und berührte seinen Hals.
Da war nichts mehr, Möbius war tot.

Da war etwas in ihm, das aus ihm raus wollte
Es war aus ihm raus
Nur, wohin war es verschwunden?
Gab es jemanden wie Mulder, den das Böse finden würde?
Was konnte sie tun?

Scully hob den Kopf und sah Francis Drake direkt ins Gesicht
Er sah grau aus, aber seltsamerweise überhaupt nicht überrascht.

Ein Notarzt drängte sich durch die gaffenden Gäste und stellte seinen Koffer direkt neben Möbius ab.
Auch er konnte nach kurzer Untersuchung nur noch Möbius Tod feststellen.
„Exitus“, sagte er zu seinem Begleiter und Scully stand auf und verließ mit Drake die Toiletten.

„Ich habe es befürchtet“, sagte Drake, als sie wieder am Tresen ankamen.
„Lassen Sie uns zahlen und diesen Ort verlassen, Doc. Wir fahren zurück zum Krankenhaus und dann erzählen Sie mir, was Sie befürchtet haben!“


„Ich habe ihn gesehen.“
Drake schloss die Tür zu seinem Mercedes auf.
„Wen haben Sie gesehen, Doc?“
„Den Pater am Bett Ihres Kollegen.“
„Ja, ich weiß, dass er da ist. Ich habe ihn darum gebeten, auf Mulder Acht zu geben.“
„Achtgeben ?“
Drake lachte auf.
„Der Pater, aufpassen? Achtgeben ? Wissen Sie eigentlich, was Sie getan haben, Agent Scully?“
Scully sah ihn fragend an.
„Sie sind nicht von hier, Agent Scully, Sie würden es nicht verstehen!“
„Diesen Satz habe ich schon mal gehört, heute erst, von Schwester Agnes.
Sie haben recht, Drake, ich bin nicht von hier, aber ich möchte es dennoch wissen, erklären Sie es mir.“
„Lassen Sie Ihren Wagen stehen und fahren Sie mit mir zum Krankenhaus, Agent Scully. Wir können uns auf der Fahrt unterhalten.
Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nachher wieder hier hin zurück.“
Scully nickte, er schloss die Beifahrertür auf, ließ sie einsteigen, setzte sich selbst hinter das Steuer und fuhr los.

„Ist Ihnen in dieser Stadt etwas aufgefallen, Miss Scully?“
„Ob mir etwas aufgefallen ist? Oja, mir fiel das seltsame Verhalten der Bewohner auf, ihre Ablehnung, ein Ort, an dem man selten einer Menschenseele begegnet. Im Krankenhaus ist kaum jemand, in der Kirche niemand außer dem Geistlichen.“
„Es ist Angst, die die Menschen, die hier wohnen, lähmt“, sagte er.
„Angst ? Vor was ?“
„Vor dem Bösen. Spüren Sie es, Agent Scully, es ist allgegenwärtig an diesem Ort.
Die Menschen hier glauben an Gott, die meisten von ihnen zumindest.“
Er blinkte und bog ab.
„Wo ist er, der Ursprung des Bösen“, wollte sie wissen.
„In der Kirche.“
„In der Kirche ?“
„Ich habe mal eine Geschichte gehört, über Gott und den Teufel. Darin ging es darum, dass beide Mitglieder ein und derselben Familie sind, der Teufel aber daraus verstoßen wurde.“
„Von dieser Geschichte habe ich noch nie etwas gehört“, sagte Scully.
„Sind Sie ein gläubiger Mensch, Agent Scully?“
„Wissen Sie, wie oft mir diese Frage schon gestellt worden ist, in den letzten Tagen?“
Scully seufzte.
„Ja, ich bin römisch-katholisch erzogen worden.“

Wie stark ist dein Glaube, Scully?
Sie sind nicht verrückt, Sie sehen nur mehr als andere Leute.

Scully blickte auf die Straße. Es regnete in Strömen und sie hörte das Geräusch der Scheibenwischer, die über die Scheibe glitten.
Seit sie hier war, war das Wetter schlecht.
Wie passend das alles war.

„Wissen Sie, was Sie getan haben, Agent Scully“, hörte sie Drake sagen.
„Was meinen Sie, Doc?“
„Was ich meine? Sie haben den Teufel um Hilfe gebeten. Sie haben der Person ihr Vertrauen geschenkt, die die Ursache für die Angst der Menschen ist, seit ein paar Jahren schon.“

„Pater Samuel ?“
Scully riss die Augen auf.
Plötzlich erinnerte sie sich an den Ausdruck auf dem Gesicht von Agnes.
Den Ausdruck blanken Hasses, als sie den Pater sah.
„Nein, das kann ich nicht glauben. Er sagte, Whiskey sei seine Heimatgemeinde.“
„Das ist sie auch, Agent Scully. Ich spreche nicht von Samuel, sondern von Benedikt.“
„Pater Benedikt ? Ich kenne ihn überhaupt nicht.“
„Als ich in das Zimmer Ihres Kollegen kam, saß Benedikt an seinem Bett und herrschte mich an, Mulder nicht anzufassen, wenn ich nicht dasselbe Schicksal erleiden wolle wie er.“
„Aber...“
„Ich sagte Ihnen ja, dass Sie es nicht verstehen würden.“
Drake fuhr auf den Krankenhaushof und hielt an.
Beide stiegen aus und gingen hinein.


Vor den Fahrstühlen, gegen 23 Uhr

„Ich muss zu Mulder“, sagte sie.
„Natürlich, wir werden sofort zu ihm fahren.“
Sie stiegen in den nächsten Fahrstuhl, der anhielt und fuhren nach oben.

Während der ganzen Fahrt sprachen sie kein Wort miteinander.
Scully sah Drake fragend an, aber er war nicht bereit, noch mehr preiszugeben, außer der Bemerkung, dass sie es nicht verstehen würde.

Samuel und Benedikt
Kain und Abel
Gut und Böse
Gott und der Teufel
Die zwei Seiten einer Medaille

Zwei Seiten
Derselbe Mensch

Drake begegnete Scullys Blick und erkannte, dass sie es jetzt verstanden hatte.

Was würde er Mulder antun?

Scully streifte sich eilig den Kittel über und eilte zu Mulders Zimmer.
Der Raum lag im Halbdunkel.
Nur das Licht aus dem Stationszimmer erhellte einen kleinen Streifen des hellen Parkettfußbodens.
Der Mann im Bett rührte sich nicht.
Er lag noch genauso da, wie Scully ihn verlassen hatte.
Sie traute sich nicht, ihn zu berühren, sah aber im schwachen Licht, dass sich sein Brustkorb hob und senkte.
Der Stuhl neben dem Bett war verwaist.
Wo war der Pater, wo war der Mann, den sie um Hilfe gebeten hatte.
Der Mann, der, schenkte man den Worten des Arztes Drake Glauben, einerseits Pater Samuel, ein Kirchenmann war, andererseits das personifizierte Böse?

Scully wandte sich ab und betrat das Schwesternzimmer, in dem sich Agnes, Drake und noch eine Schwester aufhielten.
Agnes hatte bereits ihren Kittel ausgezogen. Ihr Dienst endete gleich, ihre Ablösung war bereits da.
Schwester Helen war etwas älter als Agnes, hatte dunkles Haar und durchdringende graue Augen.
„Agnes, wo ist der Pater“, wollte Scully von Agnes wissen.
„Ich weiß es nicht, Agent Scully. Er ist seit etwa einer halben Stunde weg. Fragen Sie mich aber bitte nicht, wann er zurückkommt. Er hat mir nichts gesagt.“

Agnes öffnete den Schrank, nahm einen leichten Mantel heraus und schlüpfte hinein.
Als sie an Scully vorbei wollte, hielt diese sie zurück.
„Agnes, ich würde gerne noch einmal mit Ihnen sprechen.“
„Natürlich, Agent Scully“, kam es kühl von der Schwester, „morgen, bevor mein Dienst beginnt. Ist Ihnen das recht.“

Wenn Mulder dann noch am Leben ist, ging es Scully durch den Kopf, aber sie sprach es nicht aus.
Was sollte sie nur tun?
Dan Möbius war verblutet, wie die anderen Männer vor ihm, der Pater war gegangen und hatte Mulder seinem Schicksal überlassen.

„Agent Scully“, holte sie Agnes Stimme aus ihren Gedanken.
„Ja, Agnes, es ist mir sehr recht. Wann beginnt Ihr Dienst?“



Vor der Wohnung von Phil Dury, gegen 23.45

Der Doughnutbäcker schloss die Tür zu seinem Apartment auf.
Es war spät geworden. Sein Laden war bis 21 Uhr geöffnet, dann hatte er noch etwa zwei Stunden mit Buchführung verbracht und zu guter Letzt war sein Wagen stehen geblieben, weil er wieder mal zu tanken vergessen hatte.
Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte angenommen, heute sei Freitag, der 13.
Alles war gut gewesen, bis sie bei ihm aufgetaucht waren, diese beiden Typen, die Bundesagenten.
Er lachte kurz auf.

Federal Bureau of Investigation

Zum Brüllen

Sie waren gekommen, wegen einiger seltsamer Todesfälle und der Mann würde noch etwas anderes von hier mitnehmen als bloße Erinnerungen – wenn er es überlebte.
Der Pater hatte gesagt, dass er anders war, dieser Mann, der Typ mit den durchdringenden dunklen Augen.
Phil hatte nur jemanden gesehen, der sich vor lauter Nervosität beinahe mit seiner Krawatte stranguliert hatte.
Jemanden, dessen Augen flackerten, der spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, aber nicht wusste, wie er diesen Zustand rückgängig machen konnte.
Jemanden, der sich der Tragweite dieser Sache nicht bewusst war, es gar nicht konnte,

weil er nicht ihren Glauben hatte.
Nicht den Glauben von Menschen, die in ihrem Leben gescheitert waren.
Phil nahm das Baseballcap ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
So einer wie der Typ scheiterte nicht, nicht mit diesem Aussehen, nicht mit der Intelligenz, die er zweifelsohne hatte.
Der Pater hatte ihm gesagt, dass er Geduld haben musste.
Er hatte noch niemals Geduld gehabt.
Das war etwas, das nicht Teil seiner Persönlichkeit war.

Er spürte es.
Jemand war hier, in diesem Raum, in eben diesem Augenblick.

Phil wandte sich um wie ein Tier, das etwas gewittert hatte, aber da war niemand.
Wahrscheinlich sah er langsam Gespenster.

Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Bier heraus.
Als er damit ins Wohnzimmer ging und die Dose ansetzte, um einen kräftigen Schluck zu nehmen, sagte eine Stimme:
„Hatte ich dir nicht gesagt, dass du die Finger vom Alkohol lassen sollst?“
Und dem Angesprochenen fiel ob dieser Äußerung die Bierdose aus der Hand.
KLATSCH
Das Bier ergoss sich auf den hellen Teppich.
Phil folgte der Spur der Flüssigkeit, deren Geschmack er noch in seiner Kehle spürte, dann hob er den Kopf und sah sein Gegenüber an.
In seinen Augen war ein Ausdruck, der typisch war für die Bewohner dieses Ortes.
ANGST
„Pater.. Was machen Sie denn hier? Wie sind Sie hier reingekommen?“
„Aber mein lieber Phil. Welch unsinnige Fragen !“
Er ließ sich in einen der mit hellem Stoff bezogenen Sessel sinken.
„Schlösser und Türen waren noch niemals ein Hindernis für mich.“
Er faltete seine Hände wie zu einem Gebet.
„Du kommst spät, Phil!“
„Ich hatte noch im Geschäft zu tun“, gab Phil Auskunft.
Er sah sein Gegenüber an.
ER war hier - der Leibhaftige kam zu ihm und SIE war nicht da, um ihn zu beschützen wie das letzte Mal, um IHN vor SEINEM Zorn zu bewahren.
SIE
CAROL
Die er als seine Tochter bezeichnete.
Er hatte niemals eine Tochter gehabt
nicht einmal eine Frau
Sie war zu spät gekommen, um ihn vor diesem Pakt zu bewahren
Dem Abkommen
Dem Tausch
Ein neues, besseres Leben
Für seine Seele
Wo war sie jetzt?
Jetzt, da er sie brauchte ?

Phil hatte Angst, dass konnte der Mann ganz in schwarz spüren
Er schwitzte.
„Möbius hat seinen Glauben verloren“, teilte er Phil mit und der wurde nun auch noch leichenblass.
„Wie sieht es mit dir aus, Bäckermeister?“
„Mit mir ? Ich habe mein Wort gegeben. Ich werde es halten. Mein Glaube ist stark.“
„So ? Ist er das?“
Der Mann in schwarz erhob sich und kam auf Phil zu.
Phil wollte zurückweichen, aber er war wie erstarrt.
„Leider kann ich meinen Teil der Abmachung nicht einhalten“, sagte der PATER liebenswürdig,
„nicht mehr. Ich bin gezwungen, diesen Ort zu verlassen.“
„Ich werde den Glauben weitergeben“, sagte Phil ernsthaft, versucht, den Anderen umzustimmen.
Er wusste, was ihm bevorstand.
Es war die logische Konsequenz.
„Ich muss mich entschuldigen“, sagte der schwarze Mann und streckte seine Hand nach Phil aus.
Der musste plötzlich husten.
Blut lief aus seinen Nasenlöchern, dann aus seinem Mund und schließlich aus den Augen, seine Handgelenke öffneten sich und dann, nach einem letzten Blick auf sein Gegenüber und einem
„Sie können nicht gewinnen, Pater“
fiel er um.
Blut tränkte den weißen Teppich.

Der Pater ging neben dem leblosen Mann in die Knie und legte ihm die Hand auf die Stirn.
Er schloss die Augen und murmelte etwas Unverständliches.
Dann erschien ein Lächeln auf seinen hageren Zügen.
Ein Lächeln, das einerseits etwas beinahe entrücktes hatte – ein Ausdruck, der dem außerordentlicher Freude glich – und andererseits etwas Dämonisches.
Einen Moment lang verharrte er in dieser Position, ein Mann in den Vierzigern, mit dunklem Haar und einer hohen Stirn, der das Gewand eines katholischen Geistlichen trug,
dann ergriff er die Kette, die der tote Mann am Boden um den Hals trug, entriegelte den Verschluss und nahm sie ihm behutsam ab.
Es war eine Kette aus Silber, an der ein umgedrehtes Kreuz hing.
Der Pater ließ sie in einer der Taschen seiner Kutte verschwinden, erhob sich und entfernte sich aus der Wohnung des Doughnutbäckers Phil auf demselben Weg, auf dem er sie betreten hatte.






Krankenhaus, Intensivstation, gegen 1.30 Uhr

Scully schreckte auf, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte.
Sie wandte sich um und sah in das freundliche Gesicht der Nachtschwester.
„Was ist“, fragte sie.
„Alles in Ordnung, Miss. Ich dachte nur, Sie brauchen vielleicht irgendetwas.“
„Ich, brauchen?“
Scully sah zu Mulder hin, der noch immer zu schlafen schien, eingewickelt in Decken und festgekettet an das Eisengestell seines Bettes.
„Nein, ich brauche nichts...“
Nichts, was Sie mir geben könnten, Schwester.
„Wollen Sie sich nicht ein wenig hinlegen, Miss?“
Die Nachtschwester wies auf das unbenutzte Bett neben Mulder.
„Ich besorge eine Decke und Sie können sich hinlegen und vielleicht ein bisschen schlafen. Sie sehen müde aus. Ich werde ein Auge auf Ihren Kollegen haben und wenn sich irgendetwas an seinem Zustand ändert, erfahren Sie es als erste.“
Scullys Blick wanderte von Mulder zu dem Bett, das die Schwester ihr so eben angeboten hatte.
Sie war müde, nein, mehr als das, müde, erschöpft.
Sie war am Ende ihrer Kräfte.
Warum traf es immer ihn, warum immer Mulder?
Er schien das Unglück geradezu anzuziehen.
Scully fühlte sich so hilflos.
Sie hatte Verstand, war in der Lage, zu denken und doch konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, seit es Mulder widerfahren war – seit seinem Zusammentreffen mit dem Bösen.
Einem Bösen, das sich nicht etwa in einer anderen Person manifestierte, sondern in ihm selbst. Das ihn innerlich auffraß, bis nichts mehr blieb als völlige Dunkelheit.
Sie hatte dem Mann in der Kirche vertraut, diesem Mann, der sie gefragt hatte, ob sie etwas zu beichten hätte.
Dieser Mann hatte Mulders Problem sofort erkannt.
ERKANNT
Scully hätte beinahe gelacht.
Es ist keine Kunst, etwas zu erkennen, wenn man selbst der Verursacher ist.
„Agent Scully ?“
Sie sah in das fragende Gesicht der Schwester.
„Soll ich Ihnen eine Decke holen?“
„Ja, Schwester, das wäre sehr nett von Ihnen.“
„Gut.“
Die Schwester verließ den Raum und ließ Scully mit Mulder und ihren Gedanken allein.
Wie gerne hätte sie jetzt mit jemandem gesprochen, hätte jemanden um Hilfe gebeten.
Aber wen sollte sie fragen, wer sollte ihr raten?
Ihre Mutter ?
Oh nein, sie wollte nicht, dass sich ihre Mutter Sorgen um sie machte. Sie hatte schon viel zu viel durchgemacht in den letzten Jahren.

Ob ihr Paket sein Ziel erreichen würde?
Wenn alles gut ging, war es am anderen Morgen da.
Ob sie ihr helfen konnten?
Die Jungs vom Einsamen Schützen.
Byers, Frohike und Langly

Sie hatte nur eine kurze Notiz dazugelegt.
Sie gebeten, einige Tests durchzuführen.
Damit sie wusste, was es war, das da in Strömen aus Mulders Körper lief.

„So, da wären wir“, sagte die Nachtschwester und ließ die Decke auf das zweite Bett fallen.
„Danke“, kam es von Scully.
„Bitte, gern geschehen. Ich werde noch mal bei den anderen Patienten nach dem Rechten sehen. Sollte irgendetwas sein, klingeln Sie einfach.“
Scully nickte gedankenverloren.

Sie würde den Rat der Schwester befolgen und sich hinlegen, um ein bisschen zu schlafen.
Vielleicht erwies sich ja alles, wenn sie erwachte nur als böser Traum.
Ein frommer Wunsch.
FROMM
Sie kam immer wieder dorthin zurück
Zurück zu ihrem Glauben.
Das letzte Mal hatte sie von ihrer Kommunion geträumt.
Nie zuvor hatte sie das.
Was geschah mit ihr?

Wie stark ist ihr Glauben, Agent Scully?
Ja, wie stark ist er eigentlich?

Scully setzte sich auf das Bett, schlüpfte aus den Schuhen und legte die Beine hoch.
Sie fühlten sich an, als seien sie aus Blei, ihre Beine.
Wie gerne wollte sie schlafen, einen tiefen erholsamen Schlaf.
Sie schloss die Augen und war augenblicklich eingeschlafen.


Irgendwo, etwa zur selben Zeit, es ist sehr dunkel, ein Mann liegt am Boden.
Er trägt nur ein weißes Nachhemd.
Der Mann schläft, er atmet tief und gleichmäßig.
Obwohl es sehr kalt ist an diesem Ort und er nicht zugedeckt, friert er nicht.
Ein glückliches Lächeln liegt auf seinen jugendlichen Zügen. Es sieht aus, als habe er einen sehr schönen Traum, aus dem er nicht geweckt werden möchte.

„Agent Mulder ?“
Er fuhr mit der Hand durch die Luft, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen.
„Agent Mulder !“
„Pscht, jetzt nicht !“
„Agent Mulder, wachen Sie auf, SOFORT!“
Die zunächst sehr sanfte Stimme gewann plötzlich an außerordentlicher Schärfe und er öffnete, wenn auch widerwillig, die Augen.
Vor ihm stand eine Frau in einem hellen Kleid, sie war sehr dünn, beinahe durchscheinend und er kannte sie.
„Carol“, kam es fragend von ihm.
„Richtig, Agent Mulder, Carol.“
„Wo bin ich hier, Carol und was ist passiert?“
„Erinnern Sie sich daran, was ich Ihnen geraten habe, als wir zuletzt miteinander sprachen?“
„Ja. Sie sagten, ich solle nicht vergessen, an das Gute zu glauben.“
„Und ich ermahnte Sie zur Geduld.“
Er vermochte den leichten Vorwurf in ihrer Stimme nicht zu überhören.
„Warum haben Sie nicht auf mich gehört?“
„Was ist passiert, Carol?“
„Passiert? Das BÖSE ist passiert. Ein paar Männer haben einen unentschuldbaren Fehler begangen und ließen das Böse frei.“
„Das Böse freilassen? Ich verstehe nicht!“
„Sie verstehen nicht? Gut, ich werde versuchen, es Ihnen zu erklären.
Sind Sie ein Freund von Märchen, Agent Mulder?“
„Märchen, ich ? Na ja...“
„Es waren einmal sieben Männer, alle zwischen fünfundzwanzig und vierzig. Sieben Männer, die in ihrem Leben gescheitert waren. Keiner von ihnen hatte es privat und beruflich zu etwas gebracht. Sie trafen einander bei der Suche nach einer Beschäftigung, zunächst ohne Erfolg. Eines Tages aber machten sie die Bekanntschaft mit einem Geistlichen, einem Mann, der ihnen erzählte, dass alles gut werden würde, wenn ihr Glaube nur stark genug wäre.“

Sie trat etwas näher an ihn heran und er erkannte, dass sich in ihren Augen alle Farben des Regenbogens widerspiegelten.
Mulder wollte etwas erwidern, aber seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Der Glaube. Keiner der Männer hatte etwas für die Kirche übrig und so betrachteten sie die Worte des Geistlichen zunächst mit gemischten Gefühlen.
Das änderte sich aber, als der Kirchenmann den sieben ein Geschäft vorschlug.
Es gibt Dinge im Leben, für die würde man alles geben, nicht wahr, Agent Mulder?
Man zahlt horrende Summen, um sich z.B. ein ganz bestimmtes Automobil leisten zu können, Menschen sind bereit, für Dinge, die ihnen etwas bedeuten, zu töten.
Das Angebot war so verlockend, dass alle auf dieses Geschäft eingingen.
Einer von ihnen wurde zum Mörder, er wurde dazu gemacht, von seinem so genannten Geschäftspartner. Diesem Geschäftspartner, der plötzlich, als alles vollbracht war und der Mann geschnappt, nicht mehr einsah, seinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Jemand, der im Gefängnis saß, war nutzlos für ihn.“

„Schubert“, sagte Mulder, seine Stimme klang wie altes Blech.
Carol nickte und fuhr fort:

„Der Geschäftspartner entschloss sich, alle Geschäftsverbindungen abzubrechen und seine Zelte an einem anderen Ort aufzuschlagen.
Bevor er aber gehen konnte, musste er sich von den sieben Männern etwas zurückholen.“

„Etwas wollte aus ihnen heraus“, sagte Mulder.
„Heraus, richtig.“
„Von innen nach außen.“
„Genau, von innen nach außen.“
„Aber..., wenn diese ganze Sache eine Art Geschäft war, wie passe ich dann dazu? Das, was in Schubert war, traf mich und fuhr in mich hinein. Ich meine, ICH habe keinen Handel abgeschlossen, mit niemandem.“
„Es war ein Fehler, Agent Mulder. Sie waren nicht eingeplant, waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Unser Geschäftspartner hat nun ein Problem.“
„Nicht nur unser Geschäftspartner“, sagte Mulder trocken.

Ein Augenblick verging in absoluter Stille, dann begann er:

„Was für ein Geschäft hat der Geistliche den Männern vorgeschlagen?“
„Es war ein Tausch. Er gab ihnen das, was sie sich wünschten und bekam dafür...“
Ihre Stimme veränderte sich plötzlich. Sie klang fast, als halle sie von steinernen Wänden her, aber Mulder vermochte keine Wand zu sehen, um ihn herum war nur Schwärze.
Er streckte die Hand aus und verharrte in der Bewegung.
Er lag auf etwas, aber er vermochte nichts unter sich zu fühlen.

Carol bemerkte Mulders plötzliche Verwirrung und sie kicherte.
„Geben Sie sich keine Mühe, es zu verstehen, Agent Mulder.“
„Da ist nichts unter mir. Ich...“
„Sie schweben in der Luft, mehr nicht.“
„Ich schwebe? Aber... das würde ich doch merken.“
„Sonst vielleicht, aber nicht hier !“
„Hier ? Was ist das hier und wo ist es?“

Carol machte einen Schritt auf ihn zu, streckte die Hand aus und berührte ganz leicht seine Wange.
„Sie sind viel zu ungeduldig, Agent Mulder. Ich sagte Ihnen doch, dass Sie Geduld haben müssen.“
„Was wollte der Geistliche im Tausch für die Erfüllung eines Traumes, Carol?“
Mulder hatte ihre Worte gehört, aber vermochte die Ungeduld in sich nicht zu zügeln.
„Sagte ich das nicht bereits? Er wollte ihre Seelen dafür.“
„Und wo befinde ich mich jetzt, Carol?“
„Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen dieser Ort in gewisser Weise vertraut ist, Mr. Mulder?“
Mulder sah sie an.

Du warst schon einmal hier, an diesem Ort, Mulder, erinnere dich
Eine Kreuzung, die Entscheidung
Nach links oder aber rechts zu gehen
Nach vorne zu sehen oder aber umzudrehen
Finde deinen Pfad, Mulder

Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen.
Er war im Niemandsland zwischen Tod und Leben. Schon einmal war er hier gewesen, damals, als der Krebskandidat versucht hatte, ihn in diesem Eisenbahnwaggon unter der Erde auszuräuchern
Er war entkommen und der alte Indianer hatte ihm das Leben gerettet
Der gesegnete Weg
Damals hatte er sie hier getroffen
Seinen Vater und den Mann mit der tiefen Stimme
Sie hatten ihm gesagt, dass es noch nicht Zeit für ihn war zu gehen
Er war schon einmal hier gewesen
Und doch war es dieses Mal anders als beim letzten Mal.

Carol sah ihm an, dass er sich erinnerte, dass er die Wahrheit erkannte.
„Es gibt nur eine Chance, wenn Sie Ruhe bewahren, Agent Mulder, wenn Sie Geduld haben und den Glauben an das Gute nicht verlieren.“
„Mehr kann ich nicht tun?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich habe keine Möglichkeit, über mein eigenes Leben zu entscheiden?“
„Nein, Agent Mulder, nicht mehr. Jemand anderer wird die Entscheidung für Sie treffen.“
„Aber ich...“
Sie brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Schlafen Sie jetzt, Mr. Mulder.“
„Ich bin nicht müde.“
„Sie sind müde. Schließen Sie die Augen und schlafen Sie.“
Mulder schloss gehorsam die Augen.
Er konnte gar nichts anderes tun, es war wie ein innerer Zwang.
„Carol.“
„Ja ?“
„WER sind Sie?“


Intensivstation, 19.09.1999, etwa 5.30 Uhr morgens

Scully schreckte aus dem Schlaf auf und öffnete die Augen.
Sie starrte auf eine weiße Zimmerdecke.
Wo war sie?
Sie wandte ihren Kopf zur Seite und als sie den Mann im Bett neben sich sah, kehrte die Erinnerung zurück.
Geschlafen
Sie hatte tatsächlich geschlafen und das tief und traumlos, während Mulder...
Scully setzte sich auf und schlüpfte in ihre Pumps.
Der Mann in dem weißbezogenen Bett rührte sich nicht. Er lag noch immer da wie eine Mumie.
Sie blieb neben dem Bett stehen.
Er war sehr blass und auf seinem Gesicht zeigten sich die ersten Spuren von Bartwuchs.
Scully musste sich zwingen, ihn nicht zu berühren.
Wie gerne hätte sie etwas getan, um ihm zu helfen.
Der Pater und sie hatten Mulder mit Hilfe von Handschellen an das Bettgestell gefesselt.




Er sagte, er wolle Mulder helfen.
Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt.
Vielleicht stimmt auch der ganze Rest nicht.
Aber was ist, wenn es wahr ist, Dana?
Du hast gesehen, was geschehen ist,
hast die Stimme aus seinem Munde gehört, die nicht die seine war.
Wo ist der Pater?

„Wir können ihn nicht in die Kirche bringen...
Das Kreuz muss reichen!“

Das Kreuz.
Scullys Blick wanderte dorthin, wo das Kreuz gestern noch gehangen hatte.
Jetzt war der Platz leer.
Ihre Hand fuhr zu der Kette, die sie um den Hals trug.

Etwas war hier
In diesem Augenblick
Etwas, das einen erschaudern ließ
Vor Kälte und Entsetzen

Scully schloss die Augen, als ihr klar wurde, woran sie das erinnerte.
Der TOD.

„Agent Scully, Sie sind ja schon wach“, holte sie die Stimme der Nachtschwester aus den Gedanken.
Die sah sie besorgt an, als ihr Blick in Scullys Gesicht fiel.
„Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Miss Scully? Sie sehen nicht gut aus.“
Scully blickte in das freundliche Gesicht der Schwester.
„Es ist alles okay, Schwester. Danke.“
„Falls Sie einen Kaffee möchten, im Schwesternzimmer ist noch welcher, in der Thermoskanne.“
„Okay.“
Scully strich sich das rote Haar aus dem Gesicht und verließ den Raum.
Sie brauchte plötzlich frische Luft.


St. Benedict, etwa 1 Stunde später

„Pater ?“
Mildred Briggs, die Haushälterin des Paters, sah sich suchend in der Kirche um.
Sie hatte ihn vor etwa einer Stunde hineingehen sehen, aber danach nicht wieder herauskommen.
Was mochte er um diese frühe Stunde dort wollen?
Der erste Gottesdienst fand gegen 8 Uhr statt.
Pater Samuel hatte seine Predigt bereits am Abend zuvor fertig gehabt.
Sie hatte neue Kerzen in die Ständer gestellt, die Kirche war angenehm beheizt.
„Pater ?“
Sie ging zwischen den Holzbänken entlang.
Die weißen Kerzen in den silbernen Kerzenleuchtern brannten.
Pater Samuel musste sie angezündet haben.
Auf der Kanzel lagen seine in braunes abgewetztes Leder eingebundene Bibel und einige handschriftliche Aufzeichnungen.
Weiße Zettel bedeckt mit seiner regelmäßigen energischen Handschrift.
Wo war er nur?
„Pater ? Wo sind Sie, Pater?“
Mildred öffnete die Tür zu dem Raum hinter dem Altar und wich zurück, als sie ihn auf dem kalten Steinboden liegen sah.
Sekundenlang war sie wie erstarrt, dann eilte sie zu ihm und ging neben ihm in die Knie.
„Pater. Können Sie mich hören?“
Sie legte ihm besorgt die Hand auf die Stirn.
Er hatte wieder einen dieser seltsamen Ohnmachtsanfälle gehabt. Sie kannte ihn nun schon beinahe zwanzig Jahre seines Lebens.
Pater Samuel hatte schon immer hier gelebt. Sie kannte ihn als ruhigen, verständnisvollen Geistlichen, der immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen hatte.
Sie konnten jederzeit zu ihm kommen, wenn sie seinen Rat brauchten. Wie oft hatte sie des Nachts Tee gekocht, wie oft eines der Betten in einem der Zimmer im oberen Stockwerk des kleinen Hauses bezogen, wenn jemand nicht nach Hause konnte oder wollte.

Mildred blickte auf den Pater herunter und sie sah, dass seine Lider zitterten, sich seine Augen langsam öffneten.
Vor Jahren, wie lange mochte es her sein, hatten sie angefangen, wie aus dem Nichts , diese Ohnmachtsanfälle, die mit plötzlichen Stimmungsschwankungen einhergingen und für die beide keinerlei Erklärungen hatten. Selbst der Besuch bei mehreren Ärzten brachte keine neuen Erkenntnisse.
10 Jahre
Eine lange Zeit
Irgendwann dann brachte der Pater diese Männer mit in das Gemeindehaus, Männer, deren Unglück in ihren Gesichtern zu lesen stand.
Die sie noch niemals in der Kirche gesehen hatte.
Sie sah sie zwei Mal und danach niemals wieder.
Mit ihrem Auftauchen und Verschwinden ließen die Anfälle nach, bis sie schließlich ganz ausblieben
Jahrelang war nichts geschehen bis...
Vor vier Tagen
Mildred erinnerte sich.
Der Pater hatte über Kopfschmerzen geklagt.
Er hatte plötzlich den Text seiner Predigt vergessen, hatte ihr eine Geschichte über die Verwandtschaft zwischen Gott und dem Teufel erzählt.
Wie erstaunt sie gewesen war, als er plötzlich geflucht hatte, nachdem er seinen Tee auf seine Aufzeichnungen geschüttet hatte.
Der Pater fluchte niemals.
„Pater Samuel, ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Er nickte und ließ sich von ihr aufhelfen.
„Was ist passiert?“
„Ich wünschte, ich wüsste es, Mildred. Mir wurde plötzlich schwindlig, daran erinnere ich mich noch, aber das ist auch alles, was ich weiß.“
„Setzen Sie sich und ruhen Sie sich einen Augenblick lang aus, Pater.“
Samuel ließ sich auf einen der Stühle in dem kleinen Raum sinken und bedeutete Mildred mit einer Handbewegung, sich auf den anderen Stuhl ihm gegenüber zu setzen. Sie tat es.
Samuel sah sie einen Moment lang durchdringend an, dann fragte er:
„Erinnern Sie sich an den Mann, dem Sie im Garten begegnet sind. Diesem Mann, von dem Sie sagten, er sei der Teufel?“
Mildred nickte gedankenverloren
Worauf wollte der Pater hinaus?
„Dieser Mann braucht meine Hilfe, dringend.“
„Aber wie wollen Sie ihm helfen, Pater? Was können Sie tun?“
„Ich muss den Dämon, der ihn beherrscht, dorthin zurückschicken, wo er hergekommen ist. Nur dann hat dieser Mann eine Chance.“
Er stand auf.
„Ich muss noch einmal die Predigt durchgehen. Entschuldigen Sie mich, Mildred.“
„Natürlich.“
Mildred sah dem Geistlichen nach, dann erhob sie sich und verließ den kleinen Raum und die Kirche.



Schwesternzimmer, Intensivstation, gegen 8 Uhr

Scully hatte sich auf einen der Stühle gesetzt und blickte gedankenverloren vor sich hin, während sie die Kaffeetasse mit dem geblümten Muster mit beiden Händen umklammert hielt, als plötzlich ihr Mobiltelefon klingelte.
Sie stellte die Tasse ab, zog das Telefon aus ihrer Anzugjacke, die am Haken hinter ihr an der Wand hing, nahm ab und meldete sich.
„Scully ?“
Eine Minute lang lauschte sie, dann sagte sie:
„Danke. Könnt ihr mir das mal rüberfaxen? Die Nummer ? Moment, ich sehe nach!“
Sie stand auf, trat an das Faxgerät und las die Nummer laut vor.
„Ich stehe genau davor. Niemand außer mir wird es zu Gesicht bekommen!“
Das Faxgerät piepte und dann dauerte es nur noch etwa eine Minute, bis sie die Analyse des blutigen Bettbezugs in ihren Händen hielt.
Die Jungs vom einsamen Schützen waren schnell und verlässlich wie immer.
„Ich melde mich, sobald es etwas neues gibt“, sagte sie in den Hörer hinein, dann legte sie auf und steckte das Telefon wieder an seinen angestammten Platz zurück.
Scully ließ sich auf einen der Stühle sinken und überflog den Text. Während sie las, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Zunächst war es fast etwas wie Erleichterung, dann Überraschung und am Ende Ratlosigkeit.
Bei der Flüssigkeit, die aus Mulders Beinen ausgetreten war, handelte es sich, was die Zusammensetzung betraf, unzweifelhaft um menschliches Blut.
Ein Vergleich mit den Daten von Mulders Blutanalyse, zu der sich die Gunmen Zugang in der Datenbank des FBI verschafft hatten, ergab aber, dass es sich bei dem Blut nicht um Mulders handeln konnte. Es war nicht dieselbe Blutgruppe. Der Anteil an Leukozyten war gering, fast wie bei einem Menschen mit Leukämie.
Es war krankes Blut – wo war es hergekommen?
Und wieso trat es aus Mulders Beinen aus?
Ob es sich bei dem aus den Handgelenken der anderen Opfer ausgetretenen Blut, um Blut derselben Spezifikation handelte?
Niemand hatte diesbezüglich nähere Untersuchungen angestellt. Wenn jemand mit offenen Pulsadern aufgefunden wird, inmitten einer Lache von Blut – wer käme auf den Gedanken, dass das Blut einen anderen Ursprung haben könnte?

Ja, Scully, wer

Sie stand auf und ging wieder in Mulders Zimmer zurück.

Er absorbiert es, es ist, als schwemme sein Körper etwas aus, dass nicht zu ihm gehörte.
Sein Körper, seine Hülle

Aber wo bist du, Mulder?
Gibt es dich noch?
Existierst du da draußen irgendwo und kannst nicht zurück?

Wenn sie das jemandem erzählte, würde man sie für vollkommen verrückt halten. Sie hatte schon jetzt einen Ruf, für den die Bezeichnung schlecht nicht ganz falsch war.
Mit Mulder zu arbeiten, bedeutete, den Spott der anderen zu ertragen.
Aber das war leicht, wenn es um Mulder ging.
Für Mulder lohnte sich alles.

„Scully.“
Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Jetzt begann sie schon, Stimmen zu hören.
Himmel
„Scully !“
Sie hob den Kopf und begegnete Mulders Augen.
Halt, falsch Scully, es sind die Augen des Mannes in Mulders Bett.
Es sind Mulders Augen
„Scully.“
„Ja ?“
„Was ist passiert? Warum liege ich hier und wieso bin ich an diesem Bettgestell
festgekettet?“
Scullys Augen weiteten sich.
Mulder
Nein, das konnte nicht sein.
Sie hatte gesehen, dass dieser Mann nicht Mulder war, es nicht sein konnte.
„Scully ?“
„Es ist nur zu deinem Schutz!“
„Schutz ? Vor was denn ?“
Er wandte den Kopf ein wenig und sah zur Tür hin.
„Niemand ist hier außer dir und mir. Vor was willst du mich schützen? Vor dir vielleicht ?“
„Nein, vor dir selbst“, sagte sie mit fester Stimme.
Und wenn das, was der Pater gesagt hatte, gelogen war?
Und wenn das in diesem Bett Mulder ist
Ja, wenn alles nur ein Albtraum war, aus dem sie gerade erwachte
Nein, es war real. Alles war passiert. Noch war sie nicht verrückt.
„Vor mir ? Was soll ich tun, mir die Pulsadern durchschneiden?“
Scully zuckte zusammen
Ausgerechnet
Mulder würde so etwas niemals tun.
Sie hörte ihn leise lachen.
„Ich denke nicht, dass du einen Grund zum Lachen hast.“
„Nein, du hast Recht. Es ist eher zum Weinen, dass ich hier liege wie eine Mumie in einem Sarkophag. Meinst du nicht, du könntest mich von diesen Dingern befreien. Ich stehe zwar auf eindeutige Filme – aber diese Fesselspielchen sind nichts für mich.“
Scullys Blick wanderte über sein Gesicht. Er sah nicht mehr so blass aus.
„Scully, bitte. Ich würde ja vor dir auf die Knie fallen, wenn das etwas an deiner Entscheidung ändern sollte, aber leider geht das, wie du siehst z. Zt. nicht.“
Wieder sah Scully ihn an und dann gab sie sich einen Ruck, trat an das Bett heran, zog den Schlüssel für die Handschellen aus ihrer Hosentasche und befreite seine Linke.
Dann ging sie um das Bett herum und schloss auch die am rechten Handgelenk auf.
Als sie sich den Beinen zuwenden wollte, kam der Pater herein.
Seine Augen weiteten sich, als er sah, was sie tat.
„Agent Scully, was tun Sie da?“
„Das sehen Sie doch, Pater“, kam es kühl von ihr, „ich befreie Mulder.“
„Oh nein, Sie lassen etwas ganz anderes frei, Agent Scully!“
Er eilte auf sie zu und zog sie von dem Bett weg.
Scully starrte auf die Hand, die ihr Handgelenk umfasste. Sie war so mager, dass sie glaubte, jeden einzelnen Knochen zu spüren.
„Tun Sie das nicht, Scully.“
Sie blitzte ihn an.
„Sie, ausgerechnet Sie, Pater. Wie soll ich Sie nennen, Samuel – oder lieber Benedikt? Was für ein Spiel spielen Sie, Pater. Sie versprachen, Mulder zu helfen und was haben Sie getan? Sie haben mich belogen und das von Anfang an. Sie wollten Mulder niemals helfen. Sie selbst haben ihn zu dem gemacht, was er jetzt ist!“
„Nein, Agent Scully, nein. Sie verstehen das nicht...“
„Was kann ich daran missverstehen, Pater?“
Sie machte wieder einen Schritt in Richtung Mulder, aber der Pater verhinderte, dass sie ihn auch noch von den Fußfesseln befreite.
„Agent Scully, nein! “
Scully hörte ein Krachen und dann sah sie, wie sich die Handschellen an den Beinen wie durch Geisterhand selbst öffneten, der Mann im Bett erhob sich und stürzte sich augenblicklich auf den Geistlichen. Große Hände legten sich fest um den hageren Hals des Paters und drückten unbarmherzig zu.
Scully war unfähig sich zu rühren. Sie sah das Gesicht des Paters, der verzweifelt versuchte, sich von dem Griff zu befreien und dann das des Anderen, in dem Hass und Wut geschrieben standen – und der Wunsch, zu töten.
Nein !!!!!!
Etwas berührte Scully plötzlich an ihrem rechten Arm und als ihr Blick nach unten glitt, sah sie das Kreuz in der Hand des Paters.

Das Kreuz
Wir können ihn nicht in die Kirche bringen
Das muss reichen
Sie sah die Augen des Paters.
Das Kreuz, Scully
Und plötzlich verstand sie.
Ihre Hand ergriff das Kreuz und richtete es auf den Mann in dem Krankenhausbett.


Der Ausdruck auf dessen Gesicht veränderte sich plötzlich. Seine Augen schienen förmlich aus den Höhlen zu treten und er ließ von dem Geistlichen ab und sich wieder in die Kissen sinken.
Sekundenlang war alles still.
Der Mann starrte wie blind in die Luft, während der Geistliche die Würgemale an seinem Hals berührte.
„Das war knapp“, sagte er dann zu Scully.
Deren Blick wanderte vom Pater zu dem Mann im Bett.
Sie sah, dass er zitterte, so als friere er ganz schrecklich. Sie hörte das schnatternde Geräusch seiner Zähne, die aufeinander trafen.

Und dann begann er plötzlich zu zucken, so als leite jemand 220 Volt durch seinen Körper. Es hatte Ähnlichkeit mit einem epileptischen Anfall.
Der Anfall dauerte nur wenige Sekunden, dann vernahm Scully ein Geräusch, als ob jemand einen Reißverschluss öffnete.
RATSCH
RITSCH
RATSCH
Augenblick färbte sich das weiße Krankenhaushemd blutrot.
Etwas glitt durch den Baumwollstoff, etwas außergewöhnlich Scharfes. Es schnitt weiter, an Armen, Beinen.
Sie hörte den Mann schreien, wurde aber vom Pater hart zurückgerissen, als sie Anstalten machte, ihm zur Hilfe zu eilen.
RAAAAAAATSCH
Es zerschnitt seinen Brustkorb. Die Decke fiel herunter und Scully sah das ganze Ausmaß der Verletzungen.
Blut lief in Bächen herunter.
Sie hörte den Mann schreien, immer lauter, als Blut aus allen Poren seines Körpers lief, über seine Haut und sie augenblicklich zersetzte. Sie sah blanke Knochen und hörte ein Geräusch, ähnlich einem Mahlwerk, als die Knochen brachen.
Blankes Entsetzen spiegelte sich auf Scullys Zügen wider.
Was geschah hier?
Es sah fast aus, als habe jemand Salzsäure auf einen menschlichen Körper geschüttet.
Mulders Körper
Mulder
„Nein !!“
Sie hörte sich selber schreien - oder war es die Stimme der Schwester gewesen, die gerade hereingekommen war, gerufen durch die Schreie eines Menschen in Todesangst?
Scully wollte nicht mehr hinsehen. Sie konnte nicht mehr. Zu entsetzlich war das, dessen Zeuge sie gerade gewesen war.

Dann war es plötzlich sehr still in dem Raum.
„Agent Scully“, sagte die Schwester dann leise zu ihr und griff nach ihrem Arm, „kommen Sie.“
Scully sah zum Bett hin, durch einen Schleier von Tränen, die über ihr Gesicht liefen, ohne dass sie es zu verhindern vermochte.
Alles, was sie sah, war ein weißbezogenes Krankenhausbett, in dem niemand mehr lag. Eine Bettdecke am Boden und daneben eine Lache von Blut
Nur Blut ist übrig von ihm
„Kommen Sie, Agent Scully“, sagte die Schwester noch einmal und Scully ließ sich schließlich mitziehen.

Der Pater, alleingelassen, nahm das Kreuz vom Bett und hing es an seinen angestammten Platz an der Wand zurück.
Dann trat er neben das Bett und ging neben der Blutlache in die Hocke. Sekundenlang starrte er in das Rot, dann tauchte er seinen Finger hinein und schloss die Augen.
Die Form der Lache veränderte sich. Langsam floss das Blut in einem dünnen Rinnsaal in Richtung seiner Hand, um dann in sie hineinzufließen wie Flüssigkeit von einem Schwamm aufgesogen wird.
Als der Geistliche den Raum wenig später verließ, lag ein Lächeln auf seinen bleichen Gesichtszügen
Er musste sich beeilen – es war höchste Zeit für den Gottesdienst.




Schwesternzimmer, etwa 15 Minuten vor 8

Agnes kam herein und sah Scully am Tisch sitzen. Eine Tasse Kaffee stand vor ihr. Er war inzwischen kalt geworden, sie hatte nicht mal einen Schluck davon getrunken.

„Guten Morgen, Agent Scully“, sagte Agnes.
Etwas war geschehen, sie spürte es.
Die Bundesagentin sah aus, als habe sie geweint.
Agnes hing ihren Mantel in den Schrank und streifte ihren Kittel über.

Ein Blick in das gegenüberliegende Zimmer sagte ihr, dass das Bett leer war.
Was war geschehen?
„Ihr Kollege“, begann Agnes leise.
„Er ist tot“, sagte Scully.
„Tot ?“
Agnes setzte sich auf den Stuhl, Scully gegenüber.
„Nein, ich glaube nicht, dass er tot ist, Agent Scully. Es ist anders bei ihm als bei den anderen...“
„Anders ?“
„Ja, anders. Er hat mehrere dieser Attacken überstanden.“
„Ich habe es gesehen, Agnes. Er hat sich vor meinen Augen zersetzt. Nichts blieb außer dem Blut auf dem Boden.“
„Da ist aber kein Blut auf dem Boden, Agent Scully“, sagte Agnes ruhig.
„Da muss Blut sein, sehr viel Blut sogar.“
„Da ist nicht ein Tropfen Blut.“
Agnes sah Scully durchdringend an.
„Sie sind katholisch, nicht wahr?“
Als Scully nickte, fuhr sie fort.
„Verlieren Sie niemals den Glauben an das Gute, Agent Scully, niemals.“
„Das GUTE. Ich habe nichts GUTES gesehen an diesem Ort.“
Oh nein, im Gegenteil
„Das Blut, wo ist es hin?“
Etwas wollte aus ihnen heraus
Von innen nach außen
Er absorbiert es förmlich, sein Körper schwemmt es aus
„Ich glaube, dass Sie sehr wohl verstehen, was hier geschieht, Agent Scully“, sagte Agnes, „Sie brauchen meine Hilfe gar nicht.“
„Aber das Blut.“
„Er hat es mitgenommen, um zu verhindern, dass es wieder einen Unschuldigen trifft.
Das Böse zerstört nur den, der schwach ist. Ihr Kollege war stärker als das Böse in seinem Körper, er stieß es weit von sich.“
„Ich verstehe es nicht, Agnes... Wahrscheinlich werde ich das auch nie. Aber vielleicht ist das auch egal.“
„Sie sehen ihn wieder!“
„Wen ?“
„Ihren Kollegen, Sie werden ihn wieder sehen. Vertrauen Sie nur auf das Gute.“
Das GUTE
„Fahren Sie in Ihr Hotel zurück und verlassen Sie diesen Ort, so schnell Sie können.“
„Was geschieht hier wirklich, Agnes?“
„Nichts, was Sie wissen müssen. Für einen Menschen, der hier geboren wurde, ist es Alltag und nichts besonders. Nur für einen Außenstehenden ist es anders.“
„Sie wollen mir nicht helfen, Agnes.“
„Ich würde Ihnen nicht helfen, im Gegenteil.“
Agnes stand auf.
„Ich muss, mein Dienst fängt an.“
Sie ging zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal um und sagte:
„Sie sollten einen von Pater Samuels Gottesdiensten besuchen. Es lohnt sich wirklich“

Seltsam
Es lohnt sich also, Samuels Predigten zu lauschen
Aber wenn das so ist, Agnes Waxco,
warum war dann gestern dieser Hass in deinem
Gesicht ?

Eine Weile blieb Scully noch sitzen, dann stellte sie die Tasse in das Waschbecken, schlüpfte aus dem Kittel und streifte ihren Mantel über.
Am liebsten wäre sie hier geblieben, aber wahrscheinlich hatte Agnes Recht, es war wohl besser, zurück ins Motel zu fahren und abzuwarten.
Zu warten?
Auf was?
Oder wen?

Mulder würde zurückkommen.
Wo war er jetzt, in diesem Moment?

Sie hatte geglaubt, zu glauben.
Geglaubt, ihr Vertrauen in Gott würde ihr Kraft geben.
Sie hatte sich getäuscht.
An diesem Ort war Glaube etwas ganz anderes.
Etwas, dessen ganze Tragweite man nur begreifen konnte, wenn man damit lebte, es verinnerlichte.
Hier waren Gott und der Teufel einander ganz nah, entschieden zu nah.
Der Übergang war fließend.
Fließend wie Mulders Blut, das auf den Boden tropfte.

Sie erschauderte.
Ohne noch einen Blick in das gegenüberliegende leere Zimmer zu werfen, verließ sie die Station und kurz darauf auch das Krankenhaus.



Wenig später im Leihwagen, auf dem Weg zurück ins Motel


Wie verrückt war es, dass sie jetzt daran dachte, wie Assistent Director Skinner auf den Bericht reagieren würde?
Wahrscheinlich würde er ihr vorschlagen, sich dringend ein paar Wochen Urlaub zu nehmen und auszuspannen und sie nebenbei danach fragen, ob Mulder sich dazu entschlossen hatte, nach Timbuktu auszuwandern.
Scully musste sich zwingen, nicht zu lachen.

Sie sehen ihn wieder, Agent Scully.
Wen ?
Ihren Kollegen

Sie parkte den Leihwagen auf dem Parkplatz vor dem Motel und stellte erstaunt fest, dass er nahezu voll war. Nach der Anzahl der Autos zu urteilen, musste das Motel ausgebucht sein.
Scully stieg aus dem Wagen, schloss die Tür ab und ging hinein. An der Rezeption war der sonst so verschlafende Portier damit beschäftigt, einem mexikanisch aussehenden Ehepaar zu erläutern, welche Felder auf dem Anmeldebogen sie denn auszufüllen hätten.
Sie ging an ihm vorbei und den Gang hinunter. Den Zimmerschlüssel trug sie noch bei sich. Sie hatte vergessen, ihn wieder abzugeben.
Als sie sich ihrem Zimmer näherte, bemerkte sie, dass die Tür zu Mulders Apartment offen stand.
Sie wich zurück und ihre Hand suchte die Dienstwaffe, als sie ein Zimmermädchen entdeckte, das gerade dabei war, das Bett frisch zu beziehen.
Scully wollte sich schon ihrer eigenen Zimmertür zuwenden, als sie etwas an dem Mädchen stutzen ließ.
So machte man keine Betten und normale Zimmermädchen packten auch keine Koffer.
Das Mädchen wandte sich um und Scully erkannte sie sofort wieder.
„Carol ? Was machen Sie denn hier?“
Sie streckte Scully den Koffer entgegen.
„Nehmen Sie ihn, Agent Scully. Ich habe alles eingepackt. Ihr eigener Koffer steht auch fertig hinter der Tür. Sie können gerne noch einmal nachschauen, ob ich auch nichts vergessen habe.“
„Aber..“
Als Scully Carols Blick traf, schwieg sie augenblicklich.
Er war so endgültig und bestimmend, dass sie nichts mehr zu sagen wagte.
Wer war diese Carol?
„Stellen Sie bitte keine Fragen. Sie müssen diesen Ort verlassen, so schnell es geht. Die Zimmerrechnungen sind schon beglichen worden.“
Sie stellte den Koffer direkt auf Scullys Füße. Die zuckte zusammen, als eine der Rollen sich schmerzhaft hineinbohrte.

Ohne noch etwas zu erwidern, schloss sie die Tür auf und trat ein. Sie fand alles so vor wie Carol es gesagt hatte, Ihr Koffer stand hinter der Tür.
Scully warf noch einen Blick in den Schrank und das Bad, dann nahm sie ihren und den Koffer Mulders und folgte Carol durch den Seitenausgang ins Freie.
Sie verstaute die Gepäckstücke im Kofferraum, machte die Klappe zu und sagte:
„Soll ich Sie irgendwo mit hinnehmen, Carol?“
Als sie keine Antwort bekam, hob sie den Kopf und sah sich um. Von dem Mädchen war nichts zu sehen. Hier gab es nichts, wo man sich verstecken konnte.
Wohin war sie nur so plötzlich verschwunden und wieso war sie nicht in der Lage gewesen, ihr zu widersprechen?

Scully stieg in den Wagen, ließ ihn an und fuhr davon.
Sie warf keinen Blick in den Rückspiegel.

Die Worte von Agnes fielen ihr ein.
Besuchen Sie einen von Pater Samuels Gottesdiensten, es lohnt sich
Und wie einem inneren Zwang folgend, verließ sie nicht etwa die Stadt, sondern fuhr ins Zentrum hinein, bis hin zu der Kirche, die von den Einwohnern St. Benedict genannt wurde.

Der Parkplatz vor dem Gotteshaus war gut gefüllt. Es schien gerade Gottesdienst zu sein.
Scully stieg aus und umrundete die Kirche, sie ging bis zu dem Ort, an dem Mulder zusammengebrochen war.

Es war ein schöner, sehr gepflegter Garten.
An dem roten Backsteingebäude rankten Rosen an Metallgittern der Sonne entgegen.

Mulder hatte auf irgendetwas gestarrt, an dem besagten Tag.
Auf was ?
Sie sah sich um, vermochte aber nichts zu entdecken – zunächst nicht.
Dann aber zog etwas, das halb von Blättern und Moos bedeckt war, ihren Blick an.
Scully ging in die Knie und erkannte, dass es sich um einen sehr alten Grabstein handelte.
Er war sehr verwittert, dennoch vermochte man die Inschrift auf dem Stein noch zu lesen.

Hier ruht in Frieden

Pater Benedikt

Der Gefallene Engel

1763-1830

Pater Benedikt
Ein gefallener Engel ?

Scully starrte nachdenklich auf die Inschrift.

Es hatte also einen Pater Benedikt gegeben.
Und Mulder hatte an diesem Ort etwas gesehen, ihm war etwas begegnet.
Was ?
Oder Wer ?

Sie erhob sich und wich ein paar Schritte zurück, als sie gegen etwas stieß.
Hinter ihr stand jemand.
Plötzlich legten sich ihr zwei Hände auf die Schultern und noch bevor sie sich umwandte, wusste sie, wer dieser Jemand war.

„Scully, was machst du hier“, hörte sie ihn leise sagen, seine Stimme klang rau.
„Eine Recherche“, antwortete sie ihm und dann drehte sie sich doch um.

Er war ein bisschen blass und sah ausgesprochen übernächtigt aus, aber der Mann ihr gegenüber war ohne Zweifel Fox Mulder.
„Wo warst du Mulder? Ich dachte, ich hätte dich verloren.“
„Das dachte ich auch, aber jemand entschied, dass es noch nicht Zeit für mich war, zu gehen.“
„Jemand entschied?“
„Sie sagte, dass ich nicht derjenige wäre, der darüber entscheidet, ob ich weiterleben darf oder nicht.“
„Sie ?“
„Carol. Ich glaube, sie ist so etwas wie ein Engel“, sagte er beinahe versonnen.

Gefallener Engel

„So wie Pater Benedikt ?“
Mulder folgte ihrem Blick.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Pater Benedikt starb an einer Krankheit, die sein Blut verseucht hat, er muss jämmerlich zugrunde gegangen sein.“

Das kranke Blut

„Warum haben sie ihn hier begraben und nicht auf dem Friedhof“, wollte Scully wissen.
„Sie dachten, er sei verrückt, weil er sich so eigenartig verhielt – dabei war er sterbenskrank.
Die Legende sagt, dass sie ihn zu früh begruben. Als sie den Holzkasten hinunterließen, dieses Ding, das sein Sarg sein sollte, war er noch am Leben. Er muss versucht haben, sich zu befreien, aber sie hatten den Kasten zugenagelt.“
„Er konnte nicht entkommen – und dafür rächt er sich jetzt.“
Mulder nickte gedankenverloren.
„So erzählt man es sich.“
„Immer und immer wieder.“
„Woher hast du diese Geschichte, Mulder?“
„Carol erzählte sie mir.“
Scully lief ein Schauer über den Rücken, etwas wie eisige Kälte kroch von dem Grab zu ihr hoch.
„Mulder, ich möchte gehen, mir ist kalt.“
Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.
„Spürst du sie nicht, diese Kälte.“
Anstatt ihr zu antworten, zog er sie hinter sich her.

Als sie sich dem Parkplatz näherten, blieb er stehen.
„Was ist, Mulder?“
„Ich weiß nicht, irgendetwas stimmt nicht...“

Die große Tür der Kirche öffnete sich, Menschen strömten die Treppe hinunter, stiegen in ihre Autos und fuhren davon.

„Was stimmt nicht, Mulder?“

Mulder wandte sich um und blickte zur Kirche hin.
Im selben Moment trat ein Geistlicher aus der eichenen Tür hinaus.
Als er die beiden Agenten auf dem Parkplatz stehen sah, breitete sich ein Lächeln auf seinen hageren Zügen aus.

„Ah, Agent Mulder und Scully ! Wollen Sie uns etwa schon wieder verlassen. Das ist aber äußerst schade.“
Er stieg die Treppe hinunter und da kam Bewegung in Mulder.

„Scully ! Lass uns fahren, SOFORT!“
Scully vermochte die Panik in seiner Stimme nicht zu überhören.

Sie liefen zum Wagen.

„Aber warum gehen Sie denn schon? Wie gerne hätte ich noch mit Ihnen beiden gesprochen“, sagte der Geistliche freundlich und die beiden Agenten stiegen in den Wagen und Scully ließ den Motor an.

Mulder erschrak, als es an seine Scheibe klopfte und der Pater „Gott segne Sie beide!“ sagte.

„Scully, fahr endlich!“
Und sie gab Gas.

Sie sah den Geistlichen im Rückspiegel immer kleiner werden.

Schon wenig später hatten sie das Stadtgebiet von Whiskey, Alabama hinter sich gelassen.

Scully warf ihm einen Blick von der Seite zu und bemerkte, dass er sich langsam wieder beruhigte.

„Ist alles okay mit dir, Mulder?“
„Ja, alles in Ordnung.“ Er atmete tief durch.

„Du hattest richtig Angst vor ihm.“
„O ja, das hatte ich wirklich. Das war nicht Pater Samuel, Scully, sondern Benedikt auf der Suche nach einem neuen „Geschäftspartner“.“

„Geschäftspartner ?“ Sie sah ihn fragend an.

„Ich werde dir später alles erzählen, Scully, aber vorher sollte ich etwas schlafen.“

„Tu das, Mulder, tu das.“

„Was meinst du, wird Skinner zu dieser Geschichte sagen, wenn er unseren Bericht liest, Scully?“

„Wahrscheinlich wird er uns einen längeren Urlaub vorschlagen.“

„Wahrscheinlich wird er das. Gute Nacht, Scully.“

„Gute Nacht, Mulder.“


Rezensionen