Nachmittags
Ich schleppe diesen Monster-Baum die letzen Treppen rauf und lasse mich gegen den Türrahmen fallen. Vielleicht ist er doch ein wenig zu groß?
Ich suche den Schlüssel für Scullys Tür, kann ihn aber nicht finden, also klingele ich. Kurz darauf öffnete sie mir die Tür.
„Ach du meine Güte… hihihi…“
Ich umfasse den Baum wieder und taumele mit ihm ins Wohnzimmer.
„Wo soll er hin Dana… schnell, wohin? Er ist verdammt schwer…“
„Da, neben das Fenster“, sagt sie immer noch lachend.
Als ich den Baum an die Wand gelehnt habe, lasse ich mich erschöpft auf die Couch fallen. Ich bin dreckig vom Matsch im Wald und vom Schnee durchnässt. Sie setzt sich neben mich und gibt mir einen Kuss.
„Warum hast du nicht einfach einen fertig geschlagenen Baum gekauft?“
„Der ist schöner, ich zeig’s dir.“ Ich gehe in die Küche und hole eine Schere, um das Netz in dem er eingewickelt ist durchzuschneiden.
Eh ich mich versehe, schlagen mir die Zweige ins Gesicht. Der Baum ist mit solch einer Spannung eingenetzt worden, dass sich jetzt da wo ich das Netz entfernen wollte, die Spannung der Zweige entlud.
Scully lacht auf.
Mir fiel sofort der Film „Verrückte Weihnachten“ ein. Wie gut, dass mir nicht noch ein Eichhörnchen entgegen springt…
Scully kommt mit gespielter Sorge auf mich zu.
„Alles okay?“
„Sehr lustig“, sagt ich trotzig.
Ich sehe sie mit meinen Schrammen im Gesicht an und wir fangen beide an zu lachen.
„Ich fälle nie wieder einen Baum!“, schwöre ich.
„Ach… ich finde den Baum wirklich schön und das mit ihren Kratzern im Gesicht bekommen wir auch wieder hin…“ Sie steht auf und geht in Richtung Bad.
„Vielleicht sollten wir dich aber erst einmal Baden, damit der Matsch von deinem hübschen Gesicht verschwindet…“, lächelt sie mich verschmitzt an. Sie hebt eine Augenbraue.
„Kommst du?“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, stehe auf und folge ihr ins Bad.
24. Dezember
Bei Familie Scully beim Weihnachtsessen
Wir sind bereits seit 5 Stunden bei Danas Mutter. Das Haus und der Garten sind typisch amerikanisch geschmückt.
Alle Verwandten sind da. Von vornherein zeigen wir offen, dass wir ein Paar sind. Bill guckt nicht schlecht, als er es bemerkt. Danas Mutter freut sich hingegen für uns. Alle fragen Dana nach ihrem Befinden. Ich weiß, dass sie das Thema heute am liebsten vergessen hätte. Sie will einfach Weihnachten genießen und nicht von jedem auf ihre Krankheit angesprochen werden. Als irgendwann der Fünfte fragt, wie es Dana ginge und so tut, als würde sie gleich umfallen und nicht mehr aufstehen, platzt ihr der Kragen. Sie hasst Mitleid. Genervt erzählt sie jedem der es wissen will, dass es ihr momentan gut ginge.
Wir haben Braten gegessen und alle möglichen Beilagen, die man sich vorstellen kann. Hinterher gibt es noch Nachtisch. Mittlerweile sitzen wir im Wohnzimmer und unterhalten uns. Draußen ist es schon lange dunkeln.
„Fox, noch ein Glas Wein?“
„Nein danke, wir müssen gleich los.“
„Wohin?“, schoss es aus Danas Mund. Sie ist wirklich vollkommen überrascht, genauso wie ich’s geplant habe.
Am Tisch ist es plötzlich still. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
„Es ist eine Überraschung, ich kann’s leider nicht erzählen.“ Ich zucke mit den Schultern.
Alle anderen fragen nicht weiter nach und unterhalten sich weiter, doch Dana lässt nicht locker. Als sie allerdings merkt, dass aus mir nichts rauszubekommen ist, hört auch sie auf zu fragen.
Als wir uns eine halbe Stunde später von der gesamten Familie Scully verabschieden, sind wir satt und aufgedreht. Ich vom Wein und Dana, weil sie endlich wissen will, was es für eine Überraschung gibt. Sie hakt sich bei mir im Arm ein und wir gehen die dunkle Straße entlang. Die Straßenlaternen leuchten uns den Weg und das fahle Licht glitzert auf dem Schnee zu unseren Füßen.
„Hier lang, wir fahren nicht mit dem Auto zurück…“ Ich ziehe sie mit mir nach rechts Richtung Parkt, statt nach links zu unserem Auto.
„Nicht? Was hast du vor, sag schon!“
„Warte doch bis wir da sind.“
„Mulder, bitteeeeeeee…“
„Na gut… du bekommst dein Weihnachtsgeschenk schon heute Abend, aber mehr sag ich nicht! Du musst warten bis wir da sind.“
„Wie? Und was ist es?“, fragt sie mit großen Augen.
„Wart’s doch ab, sonst ist es doch keine Überraschung mehr!“ Ich ziehe einen schwarzen Schal aus meiner Tasche und verbinde ihr die Augen.
„Was soll das jetzt schon wieder?“, kichert sie.
„Halt dich an meinem Arm fest, wir müssen noch ein kleines Stückchen gehen.“
Vorsichtig setzt sie einen Schritt vor den anderen. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen.
Endlich sind wir da. Wie verabredet wartet eine kleine, offene Kutsche vor dem Parkeingang auf uns. Normalerweise können hier Touristen am Tag eine Runde durch den Park drehen. Ich habe am Tag, an dem ich den Tannenbaum geschlagen hatte angefragt, ob sie auch nachts fahren würden. Erst hatte Eddie, der Kutscher nein gesagt, doch als ich ihm 50 Dollar mehr bot hatte er schließlich eingewilligt uns hier und heute um 22 Uhr zu treffen. Für weitere 50 Doller hatte er eingewilligt auch noch ein paar Dinge zu kaufen. In einem kleinen Korb auf der Rückbank lag eine Flasche alkoholfreier Sekt, weil Dana wegen der Medikamente keinen Alkohol trinken durfte, dann noch ein paar Lebkuchen und in einer Thermoskanne Weihnachtstee.
Er lächelt als er mich erkennt und zwinkert uns mit seinem Zylinder auf dem Kopf an.
„So, jetzt sind wir da.“ Ich küsse sie kurz und nehme dann den Schal von ihren Augen.
Erst sieht sie nur mich, da ich genau vor ihr stehe, doch dann kippt sie den Kopf nach links und sieht um mich herum. Ihre Augen leuchten als sie die Kutsche mit den beiden braunen Pferden sieht.
„Eddie fährt heute nur für uns…“
„Oh…“, stößt sie aus und umarmt mich.
Ich steige als erstes in die Kutschte und strecke ihr meine Hand entgegen.
„Darf ich bitten, Madam.“
Dana strahlt mich an. Wortlos greift sie meine Hand und klettert zu mir nach oben. Wir setzen uns beide auf die Rückbank die mit flauschigem Fell bedeckt ist, Dana kuschelt sich an mich und ich decke uns zu. Unter der Decke wärmen meine Hände die ihren.
„Okay, Eddie, wir können.“
Wortlos gibt der alte Mann, der so freundlich mit seinen ganzen Falten aussieht, den Pferden ein Zeichen und wir fahren los.
Es geht in den Park hinein und bald sind wir links und rechts von Bäumen und Sträuchern umgeben. Man hört nur das Schnaufen und Trampeln der Pferde.
Es beginnt zu schneien.
Dana zieht die kalte Winterluft in ihre Lungen.
„Ich möchte, dass dieser Moment nie endet… Ich möchte, dass die Zeit mit dir nie endet. Warum kann nicht alles so bleiben wie es ist?“
Sanft streichele ich ihr übers Haar und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Diese Frage habe ich mir selbst schon so oft gestellt.
„Ich möchte noch so viel Zeit mit dir verbringen… manchmal ärgere ich mich darüber, dass wir nicht schon viel früher diesen Schritt gewagt haben. Ich liebe es neben dir aufzuwachen, dich im Schlaf zu beobachten, deinen warmen Körper an meinem zu spüren. Du gibst mir so viel Kraft. Es ist so ungerecht, dass all das bald zu ende sein soll…“
Traurig rückt sie noch ein wenig dichter an mich.
„Ärger dich nicht, Dana. Sei froh darüber, dass wir es endlich geschafft haben zueinander zu finden. Vielleicht war es ja Schicksal. Vielleicht musstest du erst so krank werden, damit wir beide begreifen, dass wir zusammen gehören.“ Als ich meine Gedanken ausspreche, merke ich erst wie doof dieser Versuch einer Antwort klingt. Das was ich da eben gesagt habe, glaube ich doch selber nicht.
„Was soll das bitte für ein Schicksal sein? Zwei Seelen finden endlich wieder zusammen, und werden gleich darauf wieder voneinander getrennt. Das ist kein Schicksal, sondern Scheiße!“ Sie hat vollkommen Recht.
„Glaubst du an Wunder, Dana?“
„Vielleicht war es ein Wunder, dass sich bei meiner ersten Krebserkrankung all die Metastasen zurückgebildet haben und ich als gesund entlassen wurde… vielleicht war es aber auch ein Wunder der Medizin… Falls es Wunder gibt, wage ich nicht, sie als solche zu bezeichnen, zu groß ist die Gefahr enttäuscht zu werden.“
„Was wäre, wenn die Liebe Wunder herbei rufen könnte… was wäre, wenn die Liebe zweier Menschen eine Krankheit bekämpfen könnte?“
„Ich weiß, dass die Zeit, die mir die Ärzte gegeben haben, schon um ist, aber ich würde es nicht als Wunder bezeichnen. Die Ärzte haben sich vielleicht einfach geirrt. So oder so, ich bin jedenfalls froh, dass ich noch hier bei dir bin und mit dir dieses wundervolle Weihnachten feiern kann. Vor wenigen Wochen hätte ich das für sehr unwahrscheinlich gehalten.“
„Aber du musst doch zugeben, dass es wirklich komisch ist, dass es dir besser geht, seit du aus dem Krankenhaus bist… auch wenn es zwischenzeitlich ein paar Komplikationen gab. Ist das etwa kein Wunder für dich?“
„Vielleicht ist die Liebe wirklich Schuld daran…aber ich würde es nicht als Wunder bezeichnen…“
Langsam verlassen wir den Park und fahren durch die festlich geschmückten Straßen. Ich habe mit Eddie abgemacht, dass er uns bis nach Hause fahren würde.
Die Schaufenster sind festlich dekoriert. Überall leuchten grün-rote Lämpchen in den verschiedensten Formen: Weihnachtsmänner, Rentiere, Geschenke und viele mehr.
Ich hole den Sekt heraus und wir genießen das prickelnde Getränk. Vergessen war die nachdenkliche Stimmung von eben.
„Hast du gesehen wie Bill geguckt hatte, als er sah, dass wir Hand in Hand zum Tisch gingen“, kichert sie.
„Ja, ich dachte seine Augen würden ihm gleich rausfallen“, lache ich.
„Aber ich finde er hat sich wirklich wacker geschlagen. Ich meine, er ist nicht ausgeflippt oder so. Ich habe es ihm zwar angesehen, dass er nicht so glücklich damit ist, aber ich glaube er akzeptiert es. Wir müssen ihm nur ein wenig Zeit geben, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Spooky-Mulder jetzt mit seiner kleinen Schwester zusammen ist.
„Deine Mom hätte ihn aber auch sicher zusammengefaltet, falls er irgendetwas gesagt hätte.“
„Stimmt. Ich glaube sie hat ihm aber auch schon vorher die Leviten gelesen. Es hat ihm schließlich schon ziemlich gewurmt, dass du dich um mich gekümmert hast. Er hat vielleicht eingesehen, dass du doch nicht so ein schlechter Kerl bist, wie er immer dachte. Hast du gemerkt, er hat sich sogar vorhin fast freundlich von dir verabschiedet. Das hat er noch nie gemacht. Ich bin wirklich froh, dass er es langsam einsieht.“
„Ich auch“, stimme ich zu. Wir reden noch ein wenig über den Abend und das gute Essen.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Eddie unterbricht uns schließlich.
„Ich will das junge Glück ja nicht stören, aber wir sind da.“
Er hat Recht, wir stehen genau vor Danas Haustür.
„Vielen Dank, Eddie.“
Ich klettere von der Kutsche und helfe dann Dana hinunter. Das letzte Stück hebe ich sie hoch und setze sie dann geschickt unten ab.
Wir warten noch bis Eddie um die nächste Ecke gebogen ist und gehen dann ins Haus.
„Es war wirklich wunderschön, Foohox.“ Als sie meinen Namen ausspricht, grinst sie mich schelmisch an und zieht, abwartend auf meine Reaktion, eine Augenbraue hoch.
Ich verziehe das Gesicht. Sie weiß ganz genau wie sie mich ärgern kann. Ich hasse es beim Vornamen genannt zu werden.
„Na warte…“, ich bücke mich um einen Schneeball zu formen. Dana erkennt meine Absicht und läuft ins Haus. Ich treffe die Wand oberhalb der Tür und der Schneeball zerfällt über ihr.“
„Ihhh…“, lacht sie und verschwindet im Haus.
Als wir beide in ihre Wohnung kommen bewundern wir als erstes den Baum, den wir am Morgen geschmückt haben. Im Dunklen sieht er noch leuchtender und schöner aus. Wann habe ich das letzte Mal einen Weihnachtsbaum? Ich kann mich nicht erinnern. Die letzten Weihnachten habe ich meist alleine verbracht. Letztes Jahr war Scully bei mir, aber es war längst nicht so schön wie dieses Jahr. Vor allem, weil wir bei zwei Geistern zu Besuch waren…
Wir sitzen noch einige Zeit auf Danas Sofa, bis wir schließlich erschöpft ins Bett fallen.
25. Dezember
Ich wache gegen 7h auf. Danas kalte Füße liegen zwischen meinen. Ich gebe ihr einen Kuss um sie zu wecken.
„Hey Schatz, ich habe dir gestern Abend noch gesagt: zieh dir Socken an. Hey, aufwachen…“, ich streiche ihr leicht über den nackten Oberarm.
Ihre Armhaare stellten sich nicht auf wie sonst, wenn ich es tat.
„Dana?“
Mein Herz setzt aus.
Ich kann nicht mehr denken.
Automatisch greife ich nach ihrem Puls.
Nichts.
„Nein“, flüstere ich.
Mein Herz schlägt jetzt so schnell, dass ich glaube es müsse mir gleich aus der Brust springen.
Langsam sickert das Signal zu meinem Gehirn durch, dass sich ihre Armhaare nie wieder aufstellen würden.
Ich schüttele den Kopf um diesen schrecklichen Gedanken wieder loszuwerden, doch es geht nicht. Er hat sich bereits fest in meinem Gehirn verankert.
Geschockt laufe ich zum Telefon. Mir fällt keine einzige Nummer mehr ein.
In der Küche am Kühlschrank klebt die Nummer von Danas Mutter. Ich laufe panisch in die Küche und hole den kleinen gelben Zettel. Schnell wähle ich die Nummer.
„Margaret Scully“, meldet sie sich.
„Hallo?“
Was soll ich eigentlich sagen?
„Wer ist denn da?“
„Hallo?“
„Hallo“, bringe ich endlich heraus.
„Fox? Was ist los? Geht es Dana nicht gut?“
Ich schluchze in den Hörer.
„Bitte sag mir was los ist…“
Ich bringe es nicht über die Lippen etwas zu sagen.
„Ich komme sofort…“
Der Hörer gleitet mir aus der Hand und fällt zu Boden. Ich taumele, lehne mich an die Wand und gehe in die Knie. Gedankenverloren starre ich nach vorne. Sie ist tot.
Mein ganzer Körper zittert.
Nein, sie ist nicht tot, das glaube ich einfach nicht. Nein, nein, nein…
Ich springe auf und laufe zurück zum Bett.
„Dana“, schreie ich sie an und beginne, den aussichtslosen Kampf der Wiederbelebung.
Ich weiß nicht wie lange ich es probiere, doch irgendwann sehe ich aus dem Augenwinkel Danas Mutter.
Sie sagt etwas, doch ich kann sie nicht hören, ich bin viel zu sehr auf Dana fixiert. Sie wird bestimmt gleich wieder anfangen zu atmen…
Langsam nehme ich die Geräusche um mich herum wieder wahr.
„Hör auf, Fox“, schreit Margaret Scully mich an und weint dabei. Wie lange ist sie schon hier? Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Wer ist das jetzt schon wieder? Ich sehe auf und das ganze Zimmer ist voller Leute. Ich kenne den Mann in Weiß nicht, der hinter mir stehe. Verwirrt höre ich mit der Reanimation auf.
„Es ist zu spät, das weißt du…“, flüstert Danas Mutter.
Ich ziehe ihren Oberkörper auf meinen Schoss und wiege sie hin und her, streichele ihr über die Wange und übers Haar.
Tränen laufen über mein Gesicht und sind nicht mehr zu stoppen.
Der Mann, der hinter mir steht, ist Arzt. Er und ein paar Sanitäter ziehen mich von ihr weg. Wo kommen die alle her? Habe ich sie gerufen? War es Mrs. Scully gewesen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Es ist auch egal. Alles ist egal.
Nichts hat mehr Bedeutung.
28. Dezember
Die letzten Tage waren die Schlimmsten meines Lebens.
„Kopf hoch… Nur nicht aufgeben… Das wir schon wieder.“
Ich höre diese Sprüche so oft von Kollegen und Bekannten und ich kann es einfach nicht mehr hören! Die wissen doch überhaupt nicht wie es ist…
Ich habe das Gefühl nichts mehr im Griff zu haben.
Der Boden scheint mir unter den Füßen wegzurutschen und ich fühle mich krank und elend. Es ist so leer in meiner Wohnung. Ich kann noch nicht in ihre gehen, denn zu viel würde mich an sie erinnern.
Ihre Stimme fehlt mir.
Mir schmeckt das Essen nicht mehr, seit sie nicht mehr da ist. Ich kann nicht schlafen, denn ich muss immer an sie denken. Warum habe ich erst morgens bemerkt, dass sie nicht mehr atmet? Hätte ich sie noch retten können? Geht es ihr da wo sie jetzt ist, besser? Wo bist du? Kannst du mich hören? Du fehlst mir so sehr…
Wieder beginne ich zu weinen. Kann ich überhaupt jemals wieder etwas anderes tun?
Der Schmerz ist so groß, dass ich das Gefühl habe, es zerreißt mich innerlich.
Nie wieder werde ich ihr Lächeln sehen, ihre strahlenden Augen. Nie wieder.
Ich möchte mich einfach nur verkriechen, mich am liebsten unsichtbar machen.
Es ging ihr die letzten Tage vor ihrem Tod doch so gut, wieso ging jetzt plötzlich alles so schnell?
Hatte sie schon vorher Schmerzen? Nein, sie hätte mir etwas gesagt.
Vielleicht war es gut so, dass es so schnell ging, denn so musste sie nicht leiden. Der Arzt sagte sie sei einfach eingeschlafen. Einfach eingeschlafen.
Und sie wird nie mehr aufwachen. Nie wieder…
Mir ist schlecht.
Ich laufe wie so oft in dien letzten drei Tagen zur Toilette und übergebe mich.
Die Gedanken müssen endlich aufhören! Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Immer die gleichen Fragen. Warum? Warum? Warum? Immer die gleichen Antworten.
Es gibt keine Wunder. Es gibt keine Hoffnung.
Woran soll ich jetzt noch glauben?
29 Dezember
Heute habe ich den schwersten Tag meines Lebens vor mir… ich muss mich von ihr verabschieden…
Ich ziehe mir meinen Schwarzen Anzug an, unter dem Jackett habe ich das Knicks-Shirt an, welches sie jede Nacht wie ein Fels in der Brandung umklammert hielt.
Ich sehe in den Spiegel. Was ich da sehe, sollte mich eigentlich erschrecken. Ich sehe furchtbar aus. Meine Augen sind rot vom Weinen und ich habe tiefe Augenringe.
Ich verlasse meine Wohnung und mache mich auf den Weg zur Kapelle. Alles kommt mir so unwirklich vor…
Der Himmel ist grau. Die Sonne schafft es einfach nicht die dicke Wolkendecke zu durchbrechen. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen. Kaum ein Mensch ist bei diesem Wetter auf den Straßen.
Vor der Kapelle stehen schon eine Menge Leute, als ich eintreffe. Es beginnt zu schneien.
Ich mochte noch nie gerne Beerdigungen. Wenn ich mir es recht überlege, hasse ich Beerdigungen.
Leute, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, kommen auf mich zu und schütteln mir die Hand und verkünden ihr Beileid. All die Geräusche und Personen scheinen so weit weg zu sein. Was sind das für Leute? Alte Freunde… Bekannte…? Wo waren sie die letzten Wochen, als sie eigentlich hätten da sein sollen?
Ich gehe auf Margaret Scully zu und sie kommt mir entgegen.
Jetzt hat sie auch noch ihre zweite Tochter verloren… Ich sehe den Schmerz und die Tränen in ihren Augen. Wann wache ich bloß aus diesem Albtraum auf?
Wir umarmen uns und sie schluchzt in meine Schulter. Ich glaube, es gleich nicht länger aushalten zu können. Wieder überkommt mich das Gefühl mich einfach nur verkriechen zu wollen.
„Sie war die letzten Wochen so glücklich mit dir, Fox. Sie hat bei unserem Essen so gestrahlt. Du hast ihr so gut getan. Du warst immer für sie da und hast ihren Lebenswillen verstärkt. Danke.“
Die Dämme brachen. Jetzt war es an Margaret Scully mich zu trösten.
„Ich vermisse sie so sehr…“
„Ich weiß, Fox. Wir vermissen sie alle.“
Ich gehe hinter der Familie Scully in die Kapelle und setze mich in eine der vordersten Reihen.
Alles ist wunderschön geschmückt. Im hinteren Teil der Kirche brennen große Kerzen. Rund um den Sarg stehen und liegen Blumen. Vor ihm liegen viele Kränze und rechts vom Sarg steht ein Portrait von ihr.
Ich kann es nicht länger ansehen. Der Gedanke, dieses wundervolle Gesicht nie wieder zu sehen ist einfach zu schrecklich. Bald wird es von Maden und Würmern zerfressen sein und einfach nicht mehr da sein.
Der Pastor erzählt von ihrem Leben. Was weiß der schon?! Er hat keine Ahnung wie sie wirklich war.
Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie und vergrabe meinen Kopf in den Händen.
Am Ende der Rede spielen sie zum Abschluss „Tears in Heaven“ von Eric Clapton. Wer wollte kann sich jetzt noch von ihr verabschieden.
Als die meisten gegangen sind, sitze ich noch immer auf meinem Platzt in der dritten Reihe. Langsam, als auch die letzten die Kapelle verlassen, stehe ich auf und gehe nach vorne.
Da liegt sie. Blass, leblos, die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Ich schlucke schwer.
Ich ziehe mein Jackett und das Knicks-Shirt aus. Das Jackett ziehe ich wieder an, das Knicks-Shirt lege ich in ihre Arme.
„Hab keine Angst in der Dunkelheit. Unsere Seelen werden sich wieder finden. Ich liebe dich.“
Dann gebe ich ihr einen letzten Kuss.
Nach der Beerdigung fahre ich zu ihr in die Wohnung. Seit DEM Morgen bin ich nicht wieder da gewesen.
Ich hätte schwören können, dass sie im nächsten Augenblick um die Ecke kommt und mich begrüßt.
Wie surreal alles wirkt…
Der geschmückte Baum, der Geruch von Keksen, die wir letzte Woche gebacken haben… ein Päckchen unterm Baum… ein Päckchen unterm Baum? Das lag Heiligabend aber noch nicht da… Dana musste es in der Nacht zum 25. dort hingelegt haben.
Ich stehe von der Couch auf und setze mich vor den Baum, neben das Geschenk.
Wieder überkommt mich eine Welle von Trauer. Wir hätten hier gemeinsam sitzen sollen, nicht ich alleine. Im Hintergrund wären Weihnachtslieder gelaufen und ich hätte in ihrer Gegenwart das Geschenk ausgepackt.
Ich schlucke schwer und öffne das längliche Röllchen mit zittrigen Fingern. An dem Kräuselband ist eine Karte befestig auf der „Für Mulder“ steht.
Unter dem Geschenkpapier kommt eine dunkelblaue Rolle zum Vorschein. Ich öffne den Deckel an der Seite und ziehe eine zusammengerollte Karte heraus. Was mochte es nur sein?
Ich falte die Karte auseinander. Zum Vorschein kommen ein Brief und eine Sternenkarte. Ich erkenne den Großen Wagen, die Milchstraße… den Großen Bär… die Sterne des Orion…
Außer der großen Sternkarte ist auch noch ein Zertifikat in der Rolle, welches ich jetzt auch auseinander rolle. Es ist ein Zertifikat über eine Patenschaft eines Sterns. Mir stockt der Atem, als ich es lese.
„Dana Scully Stern“
Wieder rollen Tränen über meine Wangen.
Ich öffne den Brief. Ich erkenne ihre Handschrift sofort.
„Hi Mulder,
die letzten Wochen waren unglaublich schön mit dir.
Ich weiß, dass wir nicht mehr lange zusammen sein werden und ich möchte dir etwas schenken was dich immer an mich erinnert.
Wenn es dir schlecht geht brauchst du nur in den Himmel schauen,
ich werde da sein und über dich wachen.
Unsere Seelen werden sich wieder finden.
In Liebe, Dana
Als ich den Brief gelesen habe, weiß ich plötzlich wieder woran ich glauben kann.
Seelenverwandtschaft.
ENDE
Ich schleppe diesen Monster-Baum die letzen Treppen rauf und lasse mich gegen den Türrahmen fallen. Vielleicht ist er doch ein wenig zu groß?
Ich suche den Schlüssel für Scullys Tür, kann ihn aber nicht finden, also klingele ich. Kurz darauf öffnete sie mir die Tür.
„Ach du meine Güte… hihihi…“
Ich umfasse den Baum wieder und taumele mit ihm ins Wohnzimmer.
„Wo soll er hin Dana… schnell, wohin? Er ist verdammt schwer…“
„Da, neben das Fenster“, sagt sie immer noch lachend.
Als ich den Baum an die Wand gelehnt habe, lasse ich mich erschöpft auf die Couch fallen. Ich bin dreckig vom Matsch im Wald und vom Schnee durchnässt. Sie setzt sich neben mich und gibt mir einen Kuss.
„Warum hast du nicht einfach einen fertig geschlagenen Baum gekauft?“
„Der ist schöner, ich zeig’s dir.“ Ich gehe in die Küche und hole eine Schere, um das Netz in dem er eingewickelt ist durchzuschneiden.
Eh ich mich versehe, schlagen mir die Zweige ins Gesicht. Der Baum ist mit solch einer Spannung eingenetzt worden, dass sich jetzt da wo ich das Netz entfernen wollte, die Spannung der Zweige entlud.
Scully lacht auf.
Mir fiel sofort der Film „Verrückte Weihnachten“ ein. Wie gut, dass mir nicht noch ein Eichhörnchen entgegen springt…
Scully kommt mit gespielter Sorge auf mich zu.
„Alles okay?“
„Sehr lustig“, sagt ich trotzig.
Ich sehe sie mit meinen Schrammen im Gesicht an und wir fangen beide an zu lachen.
„Ich fälle nie wieder einen Baum!“, schwöre ich.
„Ach… ich finde den Baum wirklich schön und das mit ihren Kratzern im Gesicht bekommen wir auch wieder hin…“ Sie steht auf und geht in Richtung Bad.
„Vielleicht sollten wir dich aber erst einmal Baden, damit der Matsch von deinem hübschen Gesicht verschwindet…“, lächelt sie mich verschmitzt an. Sie hebt eine Augenbraue.
„Kommst du?“
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, stehe auf und folge ihr ins Bad.
24. Dezember
Bei Familie Scully beim Weihnachtsessen
Wir sind bereits seit 5 Stunden bei Danas Mutter. Das Haus und der Garten sind typisch amerikanisch geschmückt.
Alle Verwandten sind da. Von vornherein zeigen wir offen, dass wir ein Paar sind. Bill guckt nicht schlecht, als er es bemerkt. Danas Mutter freut sich hingegen für uns. Alle fragen Dana nach ihrem Befinden. Ich weiß, dass sie das Thema heute am liebsten vergessen hätte. Sie will einfach Weihnachten genießen und nicht von jedem auf ihre Krankheit angesprochen werden. Als irgendwann der Fünfte fragt, wie es Dana ginge und so tut, als würde sie gleich umfallen und nicht mehr aufstehen, platzt ihr der Kragen. Sie hasst Mitleid. Genervt erzählt sie jedem der es wissen will, dass es ihr momentan gut ginge.
Wir haben Braten gegessen und alle möglichen Beilagen, die man sich vorstellen kann. Hinterher gibt es noch Nachtisch. Mittlerweile sitzen wir im Wohnzimmer und unterhalten uns. Draußen ist es schon lange dunkeln.
„Fox, noch ein Glas Wein?“
„Nein danke, wir müssen gleich los.“
„Wohin?“, schoss es aus Danas Mund. Sie ist wirklich vollkommen überrascht, genauso wie ich’s geplant habe.
Am Tisch ist es plötzlich still. Alle Augen sind auf mich gerichtet.
„Es ist eine Überraschung, ich kann’s leider nicht erzählen.“ Ich zucke mit den Schultern.
Alle anderen fragen nicht weiter nach und unterhalten sich weiter, doch Dana lässt nicht locker. Als sie allerdings merkt, dass aus mir nichts rauszubekommen ist, hört auch sie auf zu fragen.
Als wir uns eine halbe Stunde später von der gesamten Familie Scully verabschieden, sind wir satt und aufgedreht. Ich vom Wein und Dana, weil sie endlich wissen will, was es für eine Überraschung gibt. Sie hakt sich bei mir im Arm ein und wir gehen die dunkle Straße entlang. Die Straßenlaternen leuchten uns den Weg und das fahle Licht glitzert auf dem Schnee zu unseren Füßen.
„Hier lang, wir fahren nicht mit dem Auto zurück…“ Ich ziehe sie mit mir nach rechts Richtung Parkt, statt nach links zu unserem Auto.
„Nicht? Was hast du vor, sag schon!“
„Warte doch bis wir da sind.“
„Mulder, bitteeeeeeee…“
„Na gut… du bekommst dein Weihnachtsgeschenk schon heute Abend, aber mehr sag ich nicht! Du musst warten bis wir da sind.“
„Wie? Und was ist es?“, fragt sie mit großen Augen.
„Wart’s doch ab, sonst ist es doch keine Überraschung mehr!“ Ich ziehe einen schwarzen Schal aus meiner Tasche und verbinde ihr die Augen.
„Was soll das jetzt schon wieder?“, kichert sie.
„Halt dich an meinem Arm fest, wir müssen noch ein kleines Stückchen gehen.“
Vorsichtig setzt sie einen Schritt vor den anderen. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen.
Endlich sind wir da. Wie verabredet wartet eine kleine, offene Kutsche vor dem Parkeingang auf uns. Normalerweise können hier Touristen am Tag eine Runde durch den Park drehen. Ich habe am Tag, an dem ich den Tannenbaum geschlagen hatte angefragt, ob sie auch nachts fahren würden. Erst hatte Eddie, der Kutscher nein gesagt, doch als ich ihm 50 Dollar mehr bot hatte er schließlich eingewilligt uns hier und heute um 22 Uhr zu treffen. Für weitere 50 Doller hatte er eingewilligt auch noch ein paar Dinge zu kaufen. In einem kleinen Korb auf der Rückbank lag eine Flasche alkoholfreier Sekt, weil Dana wegen der Medikamente keinen Alkohol trinken durfte, dann noch ein paar Lebkuchen und in einer Thermoskanne Weihnachtstee.
Er lächelt als er mich erkennt und zwinkert uns mit seinem Zylinder auf dem Kopf an.
„So, jetzt sind wir da.“ Ich küsse sie kurz und nehme dann den Schal von ihren Augen.
Erst sieht sie nur mich, da ich genau vor ihr stehe, doch dann kippt sie den Kopf nach links und sieht um mich herum. Ihre Augen leuchten als sie die Kutsche mit den beiden braunen Pferden sieht.
„Eddie fährt heute nur für uns…“
„Oh…“, stößt sie aus und umarmt mich.
Ich steige als erstes in die Kutschte und strecke ihr meine Hand entgegen.
„Darf ich bitten, Madam.“
Dana strahlt mich an. Wortlos greift sie meine Hand und klettert zu mir nach oben. Wir setzen uns beide auf die Rückbank die mit flauschigem Fell bedeckt ist, Dana kuschelt sich an mich und ich decke uns zu. Unter der Decke wärmen meine Hände die ihren.
„Okay, Eddie, wir können.“
Wortlos gibt der alte Mann, der so freundlich mit seinen ganzen Falten aussieht, den Pferden ein Zeichen und wir fahren los.
Es geht in den Park hinein und bald sind wir links und rechts von Bäumen und Sträuchern umgeben. Man hört nur das Schnaufen und Trampeln der Pferde.
Es beginnt zu schneien.
Dana zieht die kalte Winterluft in ihre Lungen.
„Ich möchte, dass dieser Moment nie endet… Ich möchte, dass die Zeit mit dir nie endet. Warum kann nicht alles so bleiben wie es ist?“
Sanft streichele ich ihr übers Haar und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Diese Frage habe ich mir selbst schon so oft gestellt.
„Ich möchte noch so viel Zeit mit dir verbringen… manchmal ärgere ich mich darüber, dass wir nicht schon viel früher diesen Schritt gewagt haben. Ich liebe es neben dir aufzuwachen, dich im Schlaf zu beobachten, deinen warmen Körper an meinem zu spüren. Du gibst mir so viel Kraft. Es ist so ungerecht, dass all das bald zu ende sein soll…“
Traurig rückt sie noch ein wenig dichter an mich.
„Ärger dich nicht, Dana. Sei froh darüber, dass wir es endlich geschafft haben zueinander zu finden. Vielleicht war es ja Schicksal. Vielleicht musstest du erst so krank werden, damit wir beide begreifen, dass wir zusammen gehören.“ Als ich meine Gedanken ausspreche, merke ich erst wie doof dieser Versuch einer Antwort klingt. Das was ich da eben gesagt habe, glaube ich doch selber nicht.
„Was soll das bitte für ein Schicksal sein? Zwei Seelen finden endlich wieder zusammen, und werden gleich darauf wieder voneinander getrennt. Das ist kein Schicksal, sondern Scheiße!“ Sie hat vollkommen Recht.
„Glaubst du an Wunder, Dana?“
„Vielleicht war es ein Wunder, dass sich bei meiner ersten Krebserkrankung all die Metastasen zurückgebildet haben und ich als gesund entlassen wurde… vielleicht war es aber auch ein Wunder der Medizin… Falls es Wunder gibt, wage ich nicht, sie als solche zu bezeichnen, zu groß ist die Gefahr enttäuscht zu werden.“
„Was wäre, wenn die Liebe Wunder herbei rufen könnte… was wäre, wenn die Liebe zweier Menschen eine Krankheit bekämpfen könnte?“
„Ich weiß, dass die Zeit, die mir die Ärzte gegeben haben, schon um ist, aber ich würde es nicht als Wunder bezeichnen. Die Ärzte haben sich vielleicht einfach geirrt. So oder so, ich bin jedenfalls froh, dass ich noch hier bei dir bin und mit dir dieses wundervolle Weihnachten feiern kann. Vor wenigen Wochen hätte ich das für sehr unwahrscheinlich gehalten.“
„Aber du musst doch zugeben, dass es wirklich komisch ist, dass es dir besser geht, seit du aus dem Krankenhaus bist… auch wenn es zwischenzeitlich ein paar Komplikationen gab. Ist das etwa kein Wunder für dich?“
„Vielleicht ist die Liebe wirklich Schuld daran…aber ich würde es nicht als Wunder bezeichnen…“
Langsam verlassen wir den Park und fahren durch die festlich geschmückten Straßen. Ich habe mit Eddie abgemacht, dass er uns bis nach Hause fahren würde.
Die Schaufenster sind festlich dekoriert. Überall leuchten grün-rote Lämpchen in den verschiedensten Formen: Weihnachtsmänner, Rentiere, Geschenke und viele mehr.
Ich hole den Sekt heraus und wir genießen das prickelnde Getränk. Vergessen war die nachdenkliche Stimmung von eben.
„Hast du gesehen wie Bill geguckt hatte, als er sah, dass wir Hand in Hand zum Tisch gingen“, kichert sie.
„Ja, ich dachte seine Augen würden ihm gleich rausfallen“, lache ich.
„Aber ich finde er hat sich wirklich wacker geschlagen. Ich meine, er ist nicht ausgeflippt oder so. Ich habe es ihm zwar angesehen, dass er nicht so glücklich damit ist, aber ich glaube er akzeptiert es. Wir müssen ihm nur ein wenig Zeit geben, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass Spooky-Mulder jetzt mit seiner kleinen Schwester zusammen ist.
„Deine Mom hätte ihn aber auch sicher zusammengefaltet, falls er irgendetwas gesagt hätte.“
„Stimmt. Ich glaube sie hat ihm aber auch schon vorher die Leviten gelesen. Es hat ihm schließlich schon ziemlich gewurmt, dass du dich um mich gekümmert hast. Er hat vielleicht eingesehen, dass du doch nicht so ein schlechter Kerl bist, wie er immer dachte. Hast du gemerkt, er hat sich sogar vorhin fast freundlich von dir verabschiedet. Das hat er noch nie gemacht. Ich bin wirklich froh, dass er es langsam einsieht.“
„Ich auch“, stimme ich zu. Wir reden noch ein wenig über den Abend und das gute Essen.
Die Zeit vergeht wie im Flug. Eddie unterbricht uns schließlich.
„Ich will das junge Glück ja nicht stören, aber wir sind da.“
Er hat Recht, wir stehen genau vor Danas Haustür.
„Vielen Dank, Eddie.“
Ich klettere von der Kutsche und helfe dann Dana hinunter. Das letzte Stück hebe ich sie hoch und setze sie dann geschickt unten ab.
Wir warten noch bis Eddie um die nächste Ecke gebogen ist und gehen dann ins Haus.
„Es war wirklich wunderschön, Foohox.“ Als sie meinen Namen ausspricht, grinst sie mich schelmisch an und zieht, abwartend auf meine Reaktion, eine Augenbraue hoch.
Ich verziehe das Gesicht. Sie weiß ganz genau wie sie mich ärgern kann. Ich hasse es beim Vornamen genannt zu werden.
„Na warte…“, ich bücke mich um einen Schneeball zu formen. Dana erkennt meine Absicht und läuft ins Haus. Ich treffe die Wand oberhalb der Tür und der Schneeball zerfällt über ihr.“
„Ihhh…“, lacht sie und verschwindet im Haus.
Als wir beide in ihre Wohnung kommen bewundern wir als erstes den Baum, den wir am Morgen geschmückt haben. Im Dunklen sieht er noch leuchtender und schöner aus. Wann habe ich das letzte Mal einen Weihnachtsbaum? Ich kann mich nicht erinnern. Die letzten Weihnachten habe ich meist alleine verbracht. Letztes Jahr war Scully bei mir, aber es war längst nicht so schön wie dieses Jahr. Vor allem, weil wir bei zwei Geistern zu Besuch waren…
Wir sitzen noch einige Zeit auf Danas Sofa, bis wir schließlich erschöpft ins Bett fallen.
25. Dezember
Ich wache gegen 7h auf. Danas kalte Füße liegen zwischen meinen. Ich gebe ihr einen Kuss um sie zu wecken.
„Hey Schatz, ich habe dir gestern Abend noch gesagt: zieh dir Socken an. Hey, aufwachen…“, ich streiche ihr leicht über den nackten Oberarm.
Ihre Armhaare stellten sich nicht auf wie sonst, wenn ich es tat.
„Dana?“
Mein Herz setzt aus.
Ich kann nicht mehr denken.
Automatisch greife ich nach ihrem Puls.
Nichts.
„Nein“, flüstere ich.
Mein Herz schlägt jetzt so schnell, dass ich glaube es müsse mir gleich aus der Brust springen.
Langsam sickert das Signal zu meinem Gehirn durch, dass sich ihre Armhaare nie wieder aufstellen würden.
Ich schüttele den Kopf um diesen schrecklichen Gedanken wieder loszuwerden, doch es geht nicht. Er hat sich bereits fest in meinem Gehirn verankert.
Geschockt laufe ich zum Telefon. Mir fällt keine einzige Nummer mehr ein.
In der Küche am Kühlschrank klebt die Nummer von Danas Mutter. Ich laufe panisch in die Küche und hole den kleinen gelben Zettel. Schnell wähle ich die Nummer.
„Margaret Scully“, meldet sie sich.
„Hallo?“
Was soll ich eigentlich sagen?
„Wer ist denn da?“
„Hallo?“
„Hallo“, bringe ich endlich heraus.
„Fox? Was ist los? Geht es Dana nicht gut?“
Ich schluchze in den Hörer.
„Bitte sag mir was los ist…“
Ich bringe es nicht über die Lippen etwas zu sagen.
„Ich komme sofort…“
Der Hörer gleitet mir aus der Hand und fällt zu Boden. Ich taumele, lehne mich an die Wand und gehe in die Knie. Gedankenverloren starre ich nach vorne. Sie ist tot.
Mein ganzer Körper zittert.
Nein, sie ist nicht tot, das glaube ich einfach nicht. Nein, nein, nein…
Ich springe auf und laufe zurück zum Bett.
„Dana“, schreie ich sie an und beginne, den aussichtslosen Kampf der Wiederbelebung.
Ich weiß nicht wie lange ich es probiere, doch irgendwann sehe ich aus dem Augenwinkel Danas Mutter.
Sie sagt etwas, doch ich kann sie nicht hören, ich bin viel zu sehr auf Dana fixiert. Sie wird bestimmt gleich wieder anfangen zu atmen…
Langsam nehme ich die Geräusche um mich herum wieder wahr.
„Hör auf, Fox“, schreit Margaret Scully mich an und weint dabei. Wie lange ist sie schon hier? Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Wer ist das jetzt schon wieder? Ich sehe auf und das ganze Zimmer ist voller Leute. Ich kenne den Mann in Weiß nicht, der hinter mir stehe. Verwirrt höre ich mit der Reanimation auf.
„Es ist zu spät, das weißt du…“, flüstert Danas Mutter.
Ich ziehe ihren Oberkörper auf meinen Schoss und wiege sie hin und her, streichele ihr über die Wange und übers Haar.
Tränen laufen über mein Gesicht und sind nicht mehr zu stoppen.
Der Mann, der hinter mir steht, ist Arzt. Er und ein paar Sanitäter ziehen mich von ihr weg. Wo kommen die alle her? Habe ich sie gerufen? War es Mrs. Scully gewesen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Es ist auch egal. Alles ist egal.
Nichts hat mehr Bedeutung.
28. Dezember
Die letzten Tage waren die Schlimmsten meines Lebens.
„Kopf hoch… Nur nicht aufgeben… Das wir schon wieder.“
Ich höre diese Sprüche so oft von Kollegen und Bekannten und ich kann es einfach nicht mehr hören! Die wissen doch überhaupt nicht wie es ist…
Ich habe das Gefühl nichts mehr im Griff zu haben.
Der Boden scheint mir unter den Füßen wegzurutschen und ich fühle mich krank und elend. Es ist so leer in meiner Wohnung. Ich kann noch nicht in ihre gehen, denn zu viel würde mich an sie erinnern.
Ihre Stimme fehlt mir.
Mir schmeckt das Essen nicht mehr, seit sie nicht mehr da ist. Ich kann nicht schlafen, denn ich muss immer an sie denken. Warum habe ich erst morgens bemerkt, dass sie nicht mehr atmet? Hätte ich sie noch retten können? Geht es ihr da wo sie jetzt ist, besser? Wo bist du? Kannst du mich hören? Du fehlst mir so sehr…
Wieder beginne ich zu weinen. Kann ich überhaupt jemals wieder etwas anderes tun?
Der Schmerz ist so groß, dass ich das Gefühl habe, es zerreißt mich innerlich.
Nie wieder werde ich ihr Lächeln sehen, ihre strahlenden Augen. Nie wieder.
Ich möchte mich einfach nur verkriechen, mich am liebsten unsichtbar machen.
Es ging ihr die letzten Tage vor ihrem Tod doch so gut, wieso ging jetzt plötzlich alles so schnell?
Hatte sie schon vorher Schmerzen? Nein, sie hätte mir etwas gesagt.
Vielleicht war es gut so, dass es so schnell ging, denn so musste sie nicht leiden. Der Arzt sagte sie sei einfach eingeschlafen. Einfach eingeschlafen.
Und sie wird nie mehr aufwachen. Nie wieder…
Mir ist schlecht.
Ich laufe wie so oft in dien letzten drei Tagen zur Toilette und übergebe mich.
Die Gedanken müssen endlich aufhören! Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Immer die gleichen Fragen. Warum? Warum? Warum? Immer die gleichen Antworten.
Es gibt keine Wunder. Es gibt keine Hoffnung.
Woran soll ich jetzt noch glauben?
29 Dezember
Heute habe ich den schwersten Tag meines Lebens vor mir… ich muss mich von ihr verabschieden…
Ich ziehe mir meinen Schwarzen Anzug an, unter dem Jackett habe ich das Knicks-Shirt an, welches sie jede Nacht wie ein Fels in der Brandung umklammert hielt.
Ich sehe in den Spiegel. Was ich da sehe, sollte mich eigentlich erschrecken. Ich sehe furchtbar aus. Meine Augen sind rot vom Weinen und ich habe tiefe Augenringe.
Ich verlasse meine Wohnung und mache mich auf den Weg zur Kapelle. Alles kommt mir so unwirklich vor…
Der Himmel ist grau. Die Sonne schafft es einfach nicht die dicke Wolkendecke zu durchbrechen. Ein eisiger Wind fegt durch die Straßen. Kaum ein Mensch ist bei diesem Wetter auf den Straßen.
Vor der Kapelle stehen schon eine Menge Leute, als ich eintreffe. Es beginnt zu schneien.
Ich mochte noch nie gerne Beerdigungen. Wenn ich mir es recht überlege, hasse ich Beerdigungen.
Leute, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, kommen auf mich zu und schütteln mir die Hand und verkünden ihr Beileid. All die Geräusche und Personen scheinen so weit weg zu sein. Was sind das für Leute? Alte Freunde… Bekannte…? Wo waren sie die letzten Wochen, als sie eigentlich hätten da sein sollen?
Ich gehe auf Margaret Scully zu und sie kommt mir entgegen.
Jetzt hat sie auch noch ihre zweite Tochter verloren… Ich sehe den Schmerz und die Tränen in ihren Augen. Wann wache ich bloß aus diesem Albtraum auf?
Wir umarmen uns und sie schluchzt in meine Schulter. Ich glaube, es gleich nicht länger aushalten zu können. Wieder überkommt mich das Gefühl mich einfach nur verkriechen zu wollen.
„Sie war die letzten Wochen so glücklich mit dir, Fox. Sie hat bei unserem Essen so gestrahlt. Du hast ihr so gut getan. Du warst immer für sie da und hast ihren Lebenswillen verstärkt. Danke.“
Die Dämme brachen. Jetzt war es an Margaret Scully mich zu trösten.
„Ich vermisse sie so sehr…“
„Ich weiß, Fox. Wir vermissen sie alle.“
Ich gehe hinter der Familie Scully in die Kapelle und setze mich in eine der vordersten Reihen.
Alles ist wunderschön geschmückt. Im hinteren Teil der Kirche brennen große Kerzen. Rund um den Sarg stehen und liegen Blumen. Vor ihm liegen viele Kränze und rechts vom Sarg steht ein Portrait von ihr.
Ich kann es nicht länger ansehen. Der Gedanke, dieses wundervolle Gesicht nie wieder zu sehen ist einfach zu schrecklich. Bald wird es von Maden und Würmern zerfressen sein und einfach nicht mehr da sein.
Der Pastor erzählt von ihrem Leben. Was weiß der schon?! Er hat keine Ahnung wie sie wirklich war.
Ich stütze die Ellenbogen auf die Knie und vergrabe meinen Kopf in den Händen.
Am Ende der Rede spielen sie zum Abschluss „Tears in Heaven“ von Eric Clapton. Wer wollte kann sich jetzt noch von ihr verabschieden.
Als die meisten gegangen sind, sitze ich noch immer auf meinem Platzt in der dritten Reihe. Langsam, als auch die letzten die Kapelle verlassen, stehe ich auf und gehe nach vorne.
Da liegt sie. Blass, leblos, die Hände auf dem Bauch gefaltet.
Ich schlucke schwer.
Ich ziehe mein Jackett und das Knicks-Shirt aus. Das Jackett ziehe ich wieder an, das Knicks-Shirt lege ich in ihre Arme.
„Hab keine Angst in der Dunkelheit. Unsere Seelen werden sich wieder finden. Ich liebe dich.“
Dann gebe ich ihr einen letzten Kuss.
Nach der Beerdigung fahre ich zu ihr in die Wohnung. Seit DEM Morgen bin ich nicht wieder da gewesen.
Ich hätte schwören können, dass sie im nächsten Augenblick um die Ecke kommt und mich begrüßt.
Wie surreal alles wirkt…
Der geschmückte Baum, der Geruch von Keksen, die wir letzte Woche gebacken haben… ein Päckchen unterm Baum… ein Päckchen unterm Baum? Das lag Heiligabend aber noch nicht da… Dana musste es in der Nacht zum 25. dort hingelegt haben.
Ich stehe von der Couch auf und setze mich vor den Baum, neben das Geschenk.
Wieder überkommt mich eine Welle von Trauer. Wir hätten hier gemeinsam sitzen sollen, nicht ich alleine. Im Hintergrund wären Weihnachtslieder gelaufen und ich hätte in ihrer Gegenwart das Geschenk ausgepackt.
Ich schlucke schwer und öffne das längliche Röllchen mit zittrigen Fingern. An dem Kräuselband ist eine Karte befestig auf der „Für Mulder“ steht.
Unter dem Geschenkpapier kommt eine dunkelblaue Rolle zum Vorschein. Ich öffne den Deckel an der Seite und ziehe eine zusammengerollte Karte heraus. Was mochte es nur sein?
Ich falte die Karte auseinander. Zum Vorschein kommen ein Brief und eine Sternenkarte. Ich erkenne den Großen Wagen, die Milchstraße… den Großen Bär… die Sterne des Orion…
Außer der großen Sternkarte ist auch noch ein Zertifikat in der Rolle, welches ich jetzt auch auseinander rolle. Es ist ein Zertifikat über eine Patenschaft eines Sterns. Mir stockt der Atem, als ich es lese.
„Dana Scully Stern“
Wieder rollen Tränen über meine Wangen.
Ich öffne den Brief. Ich erkenne ihre Handschrift sofort.
„Hi Mulder,
die letzten Wochen waren unglaublich schön mit dir.
Ich weiß, dass wir nicht mehr lange zusammen sein werden und ich möchte dir etwas schenken was dich immer an mich erinnert.
Wenn es dir schlecht geht brauchst du nur in den Himmel schauen,
ich werde da sein und über dich wachen.
Unsere Seelen werden sich wieder finden.
In Liebe, Dana
Als ich den Brief gelesen habe, weiß ich plötzlich wieder woran ich glauben kann.
Seelenverwandtschaft.
ENDE
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