World of X

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Gustav

von Sid

Kapitel 2

3

"Wollen Sie Zuckerwatte? Ich spendier Ihnen eine."
Scully sah Mulder mit hochgezogenen Brauen an. Er blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüfte. Es war warm für diese Jahreszeit, und er schwitzte, aber die Jacke verbarg sein Holster mit der Waffe darin. Er kniff die Augen gegen die tiefstehende Wintersonne zusammen und schaute sich um. Bei dem Trubel auf dem Jahrmarkt fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Scully ging einen Schritt zur Seite und blickte an ihm vorbei.
"Ich glaube, es ist da hinten." sagte sie und deutete mit dem Kinn auf eine brüllende Menschenmasse, die sich um eine rechteckige Tribüne drängte.
Bei genauerem Hinsehen entpuppte sich die Tribüne als Boxring, in dem sich zwei Kontrahenten gegenseitig auszuknocken versuchten. Ein Schild prangte an einem Pfeiler, auf dem in typischer Schnörkelschrift "Besiegen Sie Victor Kortlow und Sie gewinnen 150 $" stand.
Mulder folgte Scully und beobachtete fasziniert den laufenden Kampf. Victor Kortlow schien seinem Gegner haushoch überlegen zu sein.
Die mit einfachen Seilen eingefasste Tribüne spottete jedem Boxring, und dort, wo die Ecken gepolstert und der Boden beschichtet sein sollten, knarzte altes Holz, als der Herausforderer taumelnd zu Boden fiel. Ein mächtiger Leberhaken hatte den mutigen Kirmesbesucher auf die Bretter geschickt.
Scully schaute ohnmächtig zu dem Hünen auf, der seinem Gegner auf die Beine half und ihm einen kameradschaftlichen Klaps auf die Schultern gab. Der Mann lächelte noch etwas benommen und bedankte sich für den Kampf.
Victor Kortlow wirkte wie das unerschütterliche Zentrum in dem kleinen Boxring. Seine weiße Haut war schweißbedeckt und schimmerte unter den grellen Strahlen der sinkenden Herbstssonne. Sein kurzes dunkles Haar klebte ihm im Nacken und sein Kopf war vom vielen Kämpfen gerötet, doch Scully konnte keine Anzeichen von Müdigkeit in seinen Bewegungen entdecken.
Sein Manager stachelte die Männer an, ihr Glück zu versuchen, die sich schaulustig um den Ring versammelt hatten. Sein neckender Ton schmerzte und seine stichelnden Worte verleiteten. Ein Kampf kostete fünf Dollar, doch wenn der Herausforderer - so unwahrscheinlich es war - gewinnen sollte, so winkten ihm 150 Dollar Siegesprämie. Offenbar fühlte sich der Manager sehr sicher, und wenn Scully zu Victor Kortlow aufsah, konnte sie ihm nur zustimmen. Sie sah zu Mulder, der gespannt die Reaktion der Männer beobachtete, die mit ihrem Vertrauen in ihren eigenen Fertigkeiten zu dem hünenhaften Gegner im Boxring rangen.
"Ich frage mich, welcher schwachsinnige Idiot sich nur freiwillig von diesem Riesen verprügeln lässt. Und dafür fünf Dollar zahlt."
Mulder murmelte zustimmend und gesellte sich unter die Schaulustigen. Scully hatte Mühe, in dem Gedränge an seiner Seite zu bleiben.
Ihr behagte der Gedanke nicht, in diesen Boxring zu steigen, ihren FBI-Ausweis zu zeigen und Victor Kortlow um ein Gespräch zu bitten. Ein kurzer Blick zu dem leicht untersetzten, stämmigen Mann, der mit Mikrophon und glitzernder Aufmachung um die Gunst der Zuschauer buhlte, machte ihr jedoch klar, dass daran wohl kein Weg vorbeiführte, wenn sie nicht den Rest des Tages damit vergeuden wollten, bis einer der Kirmesbesucher Victor Kortlow besiegte. Sie musste sich jedenfalls wohl oder übel den Umweg über seinen windigen Manager ersparen. Sicherlich würde er alles versuchen, um sie loszuwerden. An diesem Tag schien man viel Geld mit Boxkämpfen verdienen zu können.
Mulder drehte sich zu Scully um, in seinen Zügen lag eine undefinierbare Unschlüssigkeit. Sie erwiderte fragend seinen Blick, doch er drückte ihr nur sein Jackett in die Hand, unter dem sein Holster mit der Waffe verborgen war.
"Warten Sie hier." sagte er schnell, und noch ehe Scully etwas erwidern konnte, stand er schon bei dem Manager und drückte ihm fünf Dollar in die Hand. Scully schaute ungläubig zu ihm auf, als er die Stufen zum Boxring hinaufschritt.
"Mulder, was tun Sie da?!" Sie schob sich durch die gaffende Menge an die Seile und suchte seinen Blick. In seinen Zügen hatte sich ein aufgeregtes Grinsen geschlichen, und seine Augen funkelten wie die eines Kindes. Scully stöhnte und wollte es nicht wahrhaben. "Kommen Sie da herunter, Mulder. Mulder?"
Im nächsten Moment ertönte der Gong, der den Kampf einleitete, und Scullys Bemühungen, an die Vernunft Mulders zu appellieren, gingen im tosenden Jubel der Zuschauer unter.
Mulder hob seine in Boxhandschuhe gepackte Hände zur Deckung und umkreiste mit wippenden Schritten seinen Gegner. Sein Körper kribbelte vor Aufregung und ließ ihn ungeduldig auf den ersten Schlag warten. Er konzentrierte sich auf die Bewegungen von Victor Kortlow und suchte nach jedem Anzeichen eines Angriffes, doch die Züge seines Gegenübers waren unergründlich. Es schien, als wäre der hünenhafte Mann durch sein bloßes Erscheinen in die Defensive verfallen. Nichts erinnerte an den unbesiegbaren Champion von vorhin.
Und plötzlich griff er an. Eine schnell hintereinander folgende Anzahl von Schlägen und Hieben prasselte auf ihn ein und Mulder wich überrascht zurück, bis die Seile seinen Rückzug stoppten und er zur Seite ausweichen musste. Kortlow beendete seine Angriffsserie und marschierte zurück in die Mitte des Rings. Mulder folgte ihm, die Fäuste vor das Gesicht verschanzt. Adrenalin pulste durch seine Adern, seine Bewegungen wurden aufgeregter, sein Körper unruhig. Er startete erste vage Angriffe und ließ die Fäuste nach vorne schnellen, doch jeder Schlag glitt wirkungslos von der Barriere, die Victor Kortlows Fäuste bildeten, ab. Sie tauschten weitere Schläge aus, ein leichter Kinnhaken schickte Mulder kurz in die Seile, doch er sprang zur Seite und startete seinerseits einen Gegenangriff, diesmal mit mehr Elan, doch mit nicht mehr Erfolg. Victor Kortlow blieb weiterhin unbeeindruckt und wehrte jeden Schlag seines Gegners ohne Mühe ab.
Scullys anfängliche Wut wich nun tiefer Besorgnis, dann Bestürzung, als wieder ein Schlag Kortlows traf. Sie rief Mulders Namen, doch er hörte sie nicht. Er war so auf seinen infantilen Kampf konzentriert, dass er mal wieder alles um sich herum vergaß, und er genoss sichtlich die jubelnde Menge um ihn herum. Scully verzog das Gesicht, als ein weiterer Hieb ihren Kollegen erschütterte, doch dieses Mal saß der Gegenhieb von Mulder und zwang seinen Gegner zurück in die Mitte des Rings.
Im Affekt ballte Scully angespannt die Fäuste, bis sie registrierte, was sie tat, und sich verlegen räusperte.
Aber wieder zeigte Victor Kortlow keine Reaktion und setzte den Kampf unbeirrt fort.
Scully hatte genug und wühlte sich durch die Menge zu den Stufen vor, wo der Manager stand und gespannt den Kampf verfolgte. Er grinste bei jedem Treffer seines Schützlings, und Gier loderte in seinen Augen auf, als er die jubelnde Menge erblickte, die ihre heißeren Rufe brüllte und Champion und Underdog mit Anfeuerungen zum Äußersten trieb.
Scully stand jetzt oben an den Seilen, und ein eisiger Blick ihrerseits ließ den plötzlich besorgt wirkenden Manager gefrieren, als der sie entdeckte. Sie bückte sich, um durch die Seile zu steigen, und kaum hatte sie sich im Ring wieder aufgerichtet, sah sie die beiden in einer nicht abreißenden Angriffsserie auf einander zustürzen. Mulder wich vor den herandonnernden Schlägen seines Gegners zurück, sprang im letzten Moment zur Seite und setzte einen kräftigen Kinnhaken mit seiner Linken gegen das Kinn seines Angreifers. Victor Kortlow taumelte zur Seite, die Menge raste, und Mulder sonnte sich im Jubel der Zuschauer. Das Adrenalin pulste durch seinen Köper, und je lauter die Menge schrie, desto erregter wurde er.
Scully sah geschockt zu ihm hinüber. Mulder strahlte über beide Ohren.
Er ließ seine Deckung vor Unbedachtheit fallen, seine Haltung strotzte vor Überschwang. Mit einer riesigen Portion neuen Selbstvertrauens stellte er sich wieder seinem Gegner, hob die Fäuste, holte zum finalen Schlag aus. Er fühlte sich unbesiegbar, wie der einsame Held in der Schlacht gegen den Drachen. Seine Faust ballte sich in dem weichen Handschuh, seine Sehnen an Arm und Hals traten hervor und er presste seinen erhobenen Arm mit all seiner nicht unbeachtlichen Kraft in sein anvisiertes Ziel.
Victor Kortlow wich blitzschnell zur Seite, Mulders Faust schoss ins Leere. Durch seinen eigenen Schwung fiel er noch vorne, drohte aus dem Gleichgewicht zu geraten, und im selben Moment nutzte Kortlow die Schwäche und setzte einen wuchtigen Kinnhaken gegen Mulder ein. Sein Sturz nach vorne wurde umgekehrt, und durch die Gewaltigkeit des Schlages sein Kopf nach hinten geschleudert.
Scully sah mit Entsetzen einen Klumpen blutigen Speichels aus seinem Mundwinkel fliegen, und sie zuckte erschrocken zusammen, als Mulder mit einem dumpfen Aufprall zu Boden ging. Das Holz knirschte nervenzerreißend.
"Oh mein Gott, Mulder?!" rief sie benommen. Der Manager, der nun als Ringrichter fungierte, zählte ihren Kollegen aus und feierte Victor Kortlow als Sieger. Die Menge raste und klatschte Beifall. Scully rannte auf Mulder zu und kniete sich neben ihn zu Boden. Sie barg seinen Kopf in ihren Armen und versuchte seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein verschwommener Blick klärte sich und er lächelte sie halbherzig an.
"Schätze, ich hab verloren." sagte er und ließ sich in ihre Arme zurücksinken.
Scully verzog verärgert das Gesicht und half ihm auf die Beine. Seine Lippe war aufgeplatzt, und Bluttropfen waren über sein durchgeschwitztes Hemd verspritzt. Sie brachte ihn zu den Seilen und half ihm aus dem Ring. Mulder, der vom Kampf noch immer befangen war, stand noch immer die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Die Niederlage konnte seinem Glücksgefühl allem Anschein nach nichts anhaben, er war wie aufgekratzt. Scully ging zurück in den Ring und holte ihren FBI-Ausweis hervor, hielt ihn jedoch so, dass die Zuschauer ihn nicht sehen konnten. Sie bat Victor Kortlow höflich um ein Gespräch, und er führte sie unter den abfälligen Bemerkungen der schaulustigen Menge von der Tribüne. Der Manager war verärgert, unternahm einen halbherzigen Versuch, sie fortzuschicken, sah sich aber schließlich außerstande, gegen die gereizte FBI-Agentin etwas auszurichten. Er brummte etwas Unhöfliches und beschränkte sich darauf, die Menge bei Laune zu halten. Ein Ersatzboxer betrat nun den Ring und führte das Spektakel weiter.


4

Victor Kortlow führte die beiden Agenten zu seinem Wohnwagen und bat sie, Platz zu nehmen. Er löste die Boxhandschuhe von seinen Fäusten und bot Mulder einen Eisbeutel an, um die aufgeschlagene Lippe zu kühlen. Mulder nahm dankbar an.
Er setzte sich den beiden Agenten gegenüber auf einen Stuhl und legte beide Hände auf den Tisch. Sein riesiger Oberkörper schwitzte noch immer und schien den beengten Raum in dem kleinen Wohnwagen völlig auszufüllen.
"Sie haben einen kräftigen Schlag, Mr. Mulder, und gute Reaktionen." Kortlow lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nippte an einem Glas Wasser. "Aber Sie sind zu ungeduldig und lassen sich zu schnell von einem kleinen Erfolg begeistern. Das hat Sie zu Boden geschickt."
Mulder lachte halbherzig und drückte den Eisbeutel gegen sein schmerzendes Kinn.
"Mr. Kortlow," begann Scully. "Wir sind eigentlich hergekommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen."
"Ja, sicher, das hätten Sie auch wirklich einfacher haben können. Sie hatten Glück. Hätte ich gewusst, dass mir ein Regierungsbeamter im Ring gegenübersteht, hätte ich fester zugeschlagen."
Mulder verzog das Gesicht. "Fester." echote er leise.
Scully beugte sich nach vorne und übernahm die Führung des Gesprächs.
"Mr. Kortlow, Sie kannten einen Mann namens Ivan Vasilew. Sie waren mit ihm befreundet, bis er vor zwei Jahren starb."
"Nein." erwiderte er strikt. "Ich war schon davor nicht mehr mit ihm befreundet. Wir hatten uns zerstritten, kurz bevor er starb." Er lehnte sich in der Couch zurück und breitete gelassen seine Arme über der Rückenlehne aus. Sein mächtiger Brustkorb, der sich ihnen nun entgegenstreckte, drückte pure Trotzigkeit aus. Es war eine Warnung, und Scully respektierte sie räuspernd.
"Man hat uns, äh, weiterhin gesagt, Sie wären der, äh, der letzte gewesen, der kurz vor seinem Tod noch mit ihm zusammen war."
"Das ist richtig. Wir wollten diese Sache ein für alle mal klären."
"Ähm, welche Sache?" warf Mulder ein.
Victor Kortlow sah ihn durchdringend an und beugte sich zu ihm vor. Mulder blieb vom Spiel der Muskeln unter seiner glänzenden Haut unbeeindruckt.
"Er wollte mich bescheißen. Er war mein Manager und hat meine Kämpfe organisiert. Damals war es noch keine Jahrmarktsattraktion. Er hat einen Großteil der Wetteinnahmen selbst eingesteckt, ohne dass ich je davon erfahren hätte, wenn ich ihn nicht zufällig dabei erwischt hätte."
"Wo war es, wo sie sich trafen?" fragte Scully nervös. Sie hoffte, das ihr Kollege die Situation nicht mit unbedachten Äußerungen eskalieren ließ. Kortlow sah sie an, und seine hellen Augen schimmerten fahl im schummrigen Licht des Wohnwagens. Scully wurde wieder ruhiger. Dieser Mann war keine unberechenbare Kampfmaschine, die plötzlich ausrasten und über sie herfallen würde. Sie konnte kein Anzeichen von Wut oder Raserei in seinem Blick entdecken.
"Auf einer Wiese nahe dem Waldrand. Dort war es auch, wo dieser schreckliche Unfall passiert ist, der zu seinem Tod geführt hat."
"Bei der alten Eiche?" vergewisserte sich Mulder.
"Ja. Wir haben uns dort früher immer mit Mädchen getroffen, als wir noch Jungs waren. Wir waren seit der Grundschule miteinander befreundet. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass er mich hintergehen konnte."
"Sie trafen sich also bei der alten Eiche, um ihren Streit ein für alle mal zu beenden. Sie wollten sich nicht schlagen."
"Ja, wir wollten den Streit ein für alle mal beenden. Aber wir sind nicht mehr dazu gekommen, uns zu schlagen."
"Mr. Kortlow, Ivan Vasilew starb an einer Lungenquetschung, verursacht durch einen schweren Schlag gegen seinen Brustkorb. Es ist noch immer nicht ganz geklärt, wie es dazu kam." Scully's Stimme klang professionell und sie versuchte, es nicht zu sehr wie eine Anschuldigung klingen zu lassen. Das Gewicht ihrer Smith & Wesson bestärkte sie jedoch und nahm ihr etwas von dem Gefühl der Hilflosigkeit, die sie in seiner Gegenwart empfand.
"Ich habe der Polizei erzählt, wie es war, und ein Arzt hat meine Geschichte bestätigt."
"Sie haben in Ihrem Bericht erwähnt, dass der Baum Ivan Vasilew zu Boden geschleudert hat und für die daraus resultierende Lungequetschung verantwortlich ist." rezitierte Mulder aus der Akte, die er sich am Morgen noch einmal durchgelesen hatte.
"Ja. Ein Ast hatte sich zwischen zwei Ausläufern verfangen, und als er sich löste, hat es Ivan erwischt. Er ging sofort zu Boden und starb kurz darauf. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. Ich hab dann die Polizei angerufen, die den Fall untersucht haben. Ich bin unschuldig."
"Das glaube ich Ihnen, Mr. Kortlow. Aber ich hätte da noch eine Frage. War irgend etwas anders, als sie sich unter dem Baum getroffen haben? Fühlten Sie sich irgendwie stark... oder verunsichert? Hatten Sie Furcht, oder Wut?"
"Ich fühlte mich großartig. Ich war fest entschlossen, dass wir uns wieder vertragen würden. Aber als ich ihn sah, fühlte ich wieder die Wut über seinen Verrat aufsteigen. Ich schrie ihn an und er schrie zurück. Und dann ist es passiert. Ich war wie geschockt, ich wollte ihm nur noch helfen, und es hätte mir fast das Herz zerrissen, als ich ihn da liegen und sterben sah, und ich konnte ihm nicht helfen."
Jetzt wirkte Victor Kortlow nicht mehr wie der große Sieger, sondern wie ein großer Haufen Elend. Scully glaubte einen Tränenschimmer in seinen Augen zu entdecken, aber Victor Kortlow strich sich mit dem Handrücken über das Gesicht, ehe sie sicher sein konnte. Seine Trauer war echt, dessen war sie sich sicher. Aber ob dies ein Beweis für die Richtigkeit seiner Geschichte war, bezweifelte sie.
Mulder nickte, stand auf und legte den Eisbeutel auf den Tisch. Scully richtete sich ebenfalls auf und trat neben ihn.
"Vielen Dank, Mr. Kortlow, Sie haben uns sehr weitergeholfen."
Mulder ging und Scully verabschiedete sich noch kurz, ehe sie ihm folgte. Victor Kortlow entgegnete nichts und blieb mit seinen Gedanken und Erinnerungen allein zurück. Draußen vor dem Wohnwagen ging Scully mit Mulder zurück zum Wagen.
"Glauben Sie ihm seine Geschichte?"
"Warum nicht, sie würde zu den Indizien passen, die man bei der Untersuchung gefunden hat. Und der Obduktionsbericht hat seine Geschichte bestätigt." Mulder ging um den Wagen herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Scully, die sich auf dem Beifahrersitz niederließ, machte ein skeptisches Gesicht. "Sie haben den Obduktionsbericht doch selbst gelesen, Scully. Nicht einmal Victor Kortlow könnte so wuchtig zugeschlagen haben, und außerdem fand man Holzsplitter von der Eiche auf seinem Hemd und in seinem Brustkorb."
"Sie geben also auch dem Baum die Schuld?"
Er sah sie schweigend an, was Scully ein leises Seufzen entlockte. Natürlich tat er das.


5

Der Sheriff war gar nicht erfreut sie zu sehen, jedenfalls tat er so. Er ließ sie einige Minuten warten, bevor er sich aus seinem Büro bemühte und sie in Empfang nahm. Das unbestimmte Lächeln auf Mulders Gesicht ließ ihn misstrauisch werden.
"Sheriff?"
"Agent Mulder." grüßte er bärbeißig.
"Sheriff Dalton," begann Scully und drängte sich zwischen Mulder und dem griesgrämigen Ordnungshüter. "Wir hätten einige Fragen an Sie."
Dalton nickte.
"Wir möchten wissen, ob sich an der alten Eiche noch andere Vorfälle abgespielt haben. Kleinere Unfälle, Streitereien, mögliche Verletzte." Sie hielt ihre Stimme bewusst emotionslos und versuchte nicht, aus ihrer Mimik lesen zu lassen, doch der allseits misstrauische Sheriff beäugte sie nur prüfend, als beobachtete er ein zappelndes Insekt. Schließlich schüttelte er den Kopf.
"Nein. Da hängen nur die jungen Leute rum, aber was die da treiben, will ich gar nicht wissen."
Scully nickte und wollte sich verabschieden, als Mulder das Wort ergriff.
"Die "Alte Berta", wie der Baum genannt wird, ist Treffpunkt von vielen Paaren. Sicher war Nathaniel nicht alleine dort gewesen. Wer war bei ihm?"
Der Sheriff warf ihm einen feindseligen Blick zu, doch Mulder blieb stur.
"Was tut das zur Sache?" fragte der Sheriff abwehrend.
"Nun, ein Mensch ist gestorben." erwiderte Mulder ebenso trotzig.
"Rosa war nicht mehr bei ihm gewesen, als es passierte. Sie hat mir gesagt, als sie ging, war er noch putzmunter. Rosa Peterson ist ein gutes Mädchen."
"Und weshalb ist sie gegangen?"
"Nun, das müssen Sie sie schon selbst fragen."
"Wo finden wir Rosa Peterson, Sheriff?" schaltete sich nun auch Scully wieder dazwischen.
Sheriff Dalton sah beide abschätzend an, dann kramte er aus seiner Hemdstasche einen Stift hervor und schrieb ihnen die Adresse auf.


6

"Sie sollten sich nicht noch mehr mit ihm anfeinden, Mulder. Sie haben ihn ganz schön in eine Ecke gedrängt. Ich glaube nicht, dass das Dalton sehr gefallen hat."
"Er hat uns bewusst einen wichtigen Zeugen vorenthalten, Scully."
Sie stiegen aus dem Wagen und gingen über die Straße zu der Adresse, die ihnen der Sheriff aufgeschrieben hatte.
Mulder klingelte an der Haustür. Eine junge Frau öffnete ihnen und sah die beiden verwundert an. Scully und Mulder zeigten ihre Ausweise.
"Wir sind Agent Scully und Agent Mulder vom FBI. Rosa Peterson?"
Die Frau nickte.
"Wir hätten einige Fragen an Sie. Dürfen wir reinkommen?"
Wieder nickte die Frau und Scully und Mulder folgten ihr in die Wohnung.
"Möchten Sie etwas zu Trinken? Ein Glas Wasser?" Die Agenten schüttelten den Kopf. "Setzen Sie sich doch bitte." sagte sie und deutete auf eine Couch. Mulder und Scully ließen sich nebeneinander nieder und Rosa setzte sich ihnen gegenüber auf einen Sessel.
"Es geht um Nathaniel Rodney. Wir haben gehört, Sie waren mit ihm befreundet?" fragte Mulder sanft. Rosa's Gesicht verzog sich schmerzerfüllt.
"Wir hatten uns kurz zuvor getrennt, bevor es passierte. Er hatte mich zum Picknick eingeladen. Er wollte sich wieder mit mir versöhnen, aber wir haben uns nur mehr zerstritten. Dann bin ich gegangen. Der alte Pete hat mich an der Straße aufgelesen und ich bin mit ihm zurückgefahren. Ich habe Nathaniel alleine zurückgelassen."
"Sie haben sich gestritten?" fragte Mulder vorsichtig. "Gab es einen Grund für diesen Streit?"
"Ich habe ihn verlassen, weil er mich betrogen hat, und das habe ich ihm vorgeworfen. Und dann ist die Sache eskaliert. Ich hatte so eine Wut auf ihn, ich wollte ihn nicht mehr sehen. Also bin ich gegangen. Aber ich habe nichts mit seinem Tod zu tun, bitte, glauben Sie mir das." Jetzt war Rosa nahe den Tränen. Mulder wechselte einen Blick mit Scully, die kurz nickte.
"Wir glauben Ihnen, Rosa, aber es ist wichtig, dass Sie uns alles so genau wie möglich erzählen."
Rosa beruhigte sich langsam und wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen. "Er hat mich angerufen und mir vorgeschlagen, ein Picknick zu machen, um über alles zu reden. Ich habe zugestimmt, denn ich wollte die Sache ein für alle mal klären. Es war sehr heiß. Er hat die Decke ausgebreitet, aber der Wind hat sie immer wieder aufgewirbelt. Es war sehr stürmisch. Zuerst haben wir nur über Belanglosigkeiten geredet, es war uns wohl beiden peinlich, den ersten Schritt zu tun. Dann wollte er sich entschuldigen, und in diesem Moment habe ich eine unerklärliche Wut auf ihn bekommen. Ein Wort gab das andere, wir haben uns angeschrien, dann sagte ich ihm, dass ich ihn nicht mehr sehen wollte und bin davon gegangen. Der Wind hat meinen Hut davon geweht. Er hat sich im Baum verfangen, aber ich wollte nicht mehr zurückgehen um ihn zu holen. Dann bin ich zur Straße gelaufen und kurz darauf kam Pete und hat mich auf seinem Traktor mitgenommen. Danach habe ich nichts mehr von Nathaniel gesehen." Rosa schluchzte und kämpfte die Tränen zurück. Mulder und Scully standen auf, um sich zu verabschieden.
"Danke, Rosa, das hat uns sehr geholfen." Er reichte ihr seine Karte. "Wenn Ihnen noch irgendetwas dazu einfällt."
Sie nickte und geleitete die beiden Agenten zur Tür. Wieder im Freien tauschten Mulder und Scully ihre Eindrücke.
"Wahrscheinlich wollte Nathaniel den Hut für Rosa holen und ist auf dem Baum geklettert. Dann hat er sich verfangen und ist gefallen."
Mulder schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht glauben, dass Nathaniel aus so großer Höhe unbeschadet auf dem Boden aufgeschlagen ist. Jedes Kind könnte mit Leichtigkeit diesen Baum erklimmen." Er fuhr sich mit der Hand nachdenklich über die Lippen. "Außerdem ging dem Tod immer ein Streit voraus. Alle berichteten, dass sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatten."
Scully seufzte, widersprach aber nicht. Sie wollte abwarten, was die Obduktion ergab, bevor sie sich eine Diagnose erlaubte.


7

Mulder klatschte sich mit gewölbten Handflächen einen Schutt Wasser ins Gesicht und genoss das kühlende Nass auf seiner schweißverklebten Haut. Die Krawatte pendelte gelockert um seinen Hals und lag mit dem Ende im Waschbecken, während Mulder gleichgültig in den Spiegel starrte. Er atmete einmal tief durch und griff nach seiner Zahnbürste, als es an der Tür klopfte. Er legte die Zahnbürste auf den Waschbeckenrand und schlenderte aus dem Bad. Er öffnete die Tür und grinste Scully herzlich an. Sie ignorierte sein Schauspiel und wedelte verheißungsvoll mit einem Bogen Papier, als sie sein Zimmer betrat. Mulder ließ die Tür wortlos zufallen und sah sie fragend an. Scully musterte sein ungepflegtes Erscheinungsbild und zog kritisch eine Augenbraue nach oben, als sie das durchweichte Ende seiner Krawatte entdeckte, die scheinbar gleichgültig um seinen Hals gewickelt war.
"Das sind die Ergebnisse von den Holzproben, die Sie angefordert haben. Die Wurzel, die Nathaniel Rodneys Brust durchbohrte und somit zu seinem Tod führte, stammt eindeutig nicht von unserem Baum. Es handelt sich um einen abgebrochenen Wurzelstrang einer gefällten Lärche am Waldrand, nicht der einer Eiche. Die Ärzte vermuten, er sei gestürzt, als er versucht hat, auf den Baum zu klettern, und wäre in das spitze Ende eines herumliegenden Astes gefallen."
"Erzählen Sie mir nicht, Sie wären mit dieser Aussage zufrieden."
Scully, gerade im Begriff, weitere Ergebnisse vorzutragen, hielt inne. Sie hätte sich denken können, das Mulder nichts von dem glaubte, was Ärzte und Wissenschaftler in Washington vermuteten, und schon gar nicht, wenn sie selbst nicht zufrieden mit dieser Erklärung war. Die Proben mochten vielleicht bewiesen haben, durch was Nathaniel Rodney ums Leben kam, doch sie bewiesen nicht, wie.
Ein betretenes Schweigen trat ein. Schließlich seufzte Scully ergeben und ließ sich auf's Bett fallen.
"Gut. Und was schlagen Sie vor, das wir jetzt tun?" Sie sah ihn hilflos an.
"Ich schlage vor, wir stellen ein paar Untersuchungen in der Nähe des Baumes an. Erdproben, atmosphärische Störungen, magnetische Felder... Vielleicht finden wir irgend etwas Ungewöhnliches. Etwas, was diese Unfälle ausgelöst haben könnte."

Einen kleinlauten Protest und eine Viertel Stunde später bogen Mulder und Scully von der Hauptstraße in einen Feldweg ein. Kieselsteine spritzten von der staubigen Straße auf und knirschten unter den breiten Reifen. Mulder manövrierte das Fahrzeug an den Wegrand, der durch das Absperrband der örtlichen Polizei vom Schauplatz des Todes getrennt war. Sie benutzten den bereits niedergetrampelten Pfad durch die hohe Wiese bis hin zur "Alten Berta". Hier war alles platt getreten und die Agenten konnten sich ungehindert bewegen. Scully kratzte eine Probe von der Erde in einen Beweisbeutel, während Mulder das Messgerät herumschwenkte.
"Keine Anzeichen von atmosphärischen Störungen oder magnetischen Feldern." brummelte er enttäuscht. Scully stand auf und ging zu ihm hinüber. Sie ließ ihren Blick über das Feld schweifen.
"Ich habe ja gleich gesagt, dass das nur Zeitverschwendung ist." Sie stemmte die Fäuste in die Hüften.
"Schlagen Sie was vor." gab Mulder gereizt zurück. Er stapfte mit dem Fuß auf den Boden. "Ahh, blöde Viecher. Die Ameise hat mich gebissen." Er kratzte sich am linken Fußknöchel. Scully lächelte mitleidlos.
"Sie würden den Biss einer Ameise gar nicht spüren. Ich würde eher sagen, sie hat Sie vollgepinkelt." Ihr Lächeln wurde noch eine Spur grausamer. Eigentlich hatte sie das gar nicht so schadenfroh vorbringen wollen, aber es juckte sie gerade zu auf der Zunge, sich über ihn lustig zu machen. Mulder schenkte ihr ein humorloses Grinsen. Sein Blick wanderte zu der "Alten Berta". Wortlos stapfte er zu dem alten Baum hinüber. Scully sah ihm fragend nach, aber er drehte sich nicht um, um es ihr zu erklären. Erst als er am Stamm angekommen war und er sie rief, folgte sie ihm.
"Hier, sehen Sie?" er deutete auf die eingeritzten Herzen mit Initialien. "Vielleicht sollten wir herausfinden, wer die da reingeschnitzt hat. Vielleicht weiß jemand etwas von ihnen, was es mit der "Alten Berta" auf sich hat."
"Das ist nur ein alter Baum, Mulder, der als Treffpunkt für Frischverliebte und ihre romantischen Liebesschwüre herhalten muss."
"Wir sollten das trotzdem überprüfen." erwiderte er trotzig.
"Das ist Zeitverschwendung." gab Scully ebenso unnachgiebig zurück. Ihr Ton hatte bereits eine gewisse Schärfe angenommen. Warum ärgerte es sie so, was Mulder sagte?
"Wenn Sie weiter alles als Zeitverschwendung abtun, können wir den Fall auch gleich abheften und ein großes X draufkritzeln." Mulder sah sie herausfordernd an. Sein Blick war trotzig auf ihr zartes Gesicht geheftet, das jetzt eine neue Härte annahm.
"Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es überhaupt einen Fall gibt. Aber anstatt einer konkreten Spur nachzugehen, zerren Sie mich zu diesem alten Baum und verschwenden unsere Zeit mit sinnlosen Spekulationen über atmosphärische Störungen und magnetische Felder oder eingeschnitzte Herzen."
Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm und atmete tief durch. Ihr Blick war starr zu Boden gerichtet. Mulder stellte sich vor sie, sein zorniger Ausdruck auf dem Gesicht wurde sanfter. Er wollte die Hand ausstrecken, sich bei seiner Partnerin entschuldigen, ihr erklären, dass es einfach mit ihm durchgegangen war, aber er stand nur da und starrte sie an. Ihr rotes Haar blähte sich sanft im Wind und wirbelte eine lose Strähne auf, die sanft ihr Kinn streichelte. Schweißperlen rannen ihren Hals hinunter, sie schluckte sanft. Ihr eisblauen Augen glitzerten im Spiel von Schatten und Licht des Blattwerks. Er spürte Trockenheit seine Kehle hinaufsteigen und er fuhr sich unbewusst mit der Zunge über die Lippen.
"Scully, was tun wir hier eigentlich?" fragte er sanft. Sie wirkte so zerbrechlich, so schön.
Scully schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht." erwiderte sie leise. Mulder trat auf sie zu, legte eine Hand auf ihre Schulter und strich ihr mit der anderen eine Strähne aus dem Gesicht. Sie hob den Kopf und sah ihm tief in die Augen. Ihre Lippen kamen sich näher, bis sie nur noch Zentimeter trennten. Sie spürte seinen heißen Atem. Sie hatte plötzlich so ein unerklärliches Verlangen. Sie beugte sich weiter nach vorne, ihre Hände wanderten seinen Rücken hoch. Mulder packte sie fester. Scully beugte sich nach vorne, wollte ihre Lippen auf seine pressen, ihn an sich drücken. Mulder stemmte sich gegen sie, seine Hand umfasste nun ihren Nacken. Ihre Lippen streiften sich in einem zarten, kurzen Kuss. Scully versank in seiner Umarmung, eine Träne rann ihr über die Wange. Sie blinzelte sie weg.
"Was ist das?" fragte Scully verwirrt und vergrub ihr Gesicht in seiner Schulter. Mulder strich ihr über den Rücken und löste sich aus ihrer Umarmung. Sein Blick war fest auf die raue Borke des Stammes gerichtet.
"Der Baum tut diese Dinge. Er lässt Gefühle außer Kontrolle geraten." Er ließ Scully los und tastete mit beiden Händen die raue Borke des Stammes ab. "Irgendwie scheint dieser Baum die Fähigkeit zu besitzen, die Gefühle, die ein Mensch empfindet, zu verstärken."
Scully lachte ungläubig. Sie schüttelte den Kopf, als sie an dem Baum hochsah. Die knorrigen Äste und das verwelkende Blattgrün knarzten und raschelten im auffrischenden Wind.
"Das ist nur eine Eiche Mulder. Sie kann nicht die Gefühle von Menschen kontrollieren." Sie beobachtete ihn, wie er um den Stamm herumging. "Und selbst wenn, was sollte es ihr bringen?"
"Pflanzen werden stark von ihrer Umgebung geprägt. Anders wie wir Menschen oder die Tiere können sie sich nicht einen anderen Ort suchen, an dem sie gerne sein würden. Sie passen sich an ihre Umgebung an und richten ihre Bedürfnisse danach aus, die sie entweder durch den Boden oder die Luft stillen. Was, wenn diese Eiche sich von menschlichen Ausdünstungen ernährt. Sie sagen doch selbst, dass ein Mensch in Stresssituationen eine Menge Adrenalin ausschüttet, dass über den Schweiß an die Luft gelangen könnte."
"Mulder, das ist doch Unsinn." Scully hatte ihre Fassung wiedererlangt. "Kein Baum ernährt sich von menschlichen Ausdünstungen."
"Nein, aber viele müssen mit ihnen leben. Vielleicht arrangiert der Baum solche menschlichen Schicksale, damit sie die benötigten Nährstoffe für ihn produzieren. In der griechischen Mythologie wurden Dryaden solche Dinge zugeschrieben, Baumgeister, die Reisenden fürchterliche Angst einjagten oder ihnen Schutz gewährten."
Scully schüttelte lachend den Kopf. "Angenommen es wäre so, wie sie sagen, und der Baum braucht tatsächlich diese... Ausdünstungen der Menschen..., warum starb der erste Mensch vor zwei Jahren? Der Baum muss über hundert Jahre alt sein. Und zuvor war der Ort immer ein sehr beliebtes Liebesnest gewesen."
"Vielleicht ist irgendetwas hier vorgefallen, woran der Baum Geschmack gefunden hat. Ein Streit. Ein Mord. Etwas, dass Energien in Form von heftigen Emotionen und Gefühlen freigesetzt hat. Sehen Sie sich diesen Baum an. Seine Blätter waren schon verwelkt, seine Äste fast kahl, und dann das frische Blattgrün? Woher sollte er die Energie für neues Leben genommen haben, wo der Winter vor der Tür steht? Es muss noch einen Toten hier gegeben haben." Mulder grinste unbestimmt, wie immer, wenn er eine neue Theorie aufwarf, an die er unerschüttlich glaubte.

Sie saßen gerade im Wagen auf dem Weg zurück, als Scully's Handy klingelte. Sie ging ran, nickte kurz und legte wieder auf. Mulder sah sie fragend an.
"Der Deputy ist wieder bei Bewusstsein. Sein Zustand ist einigermaßen stabil. Wir können jetzt zu ihm."
Mulder fuhr geradewegs zum Krankenhaus.


8

Auf der Intensivstation wartete bereits der Sheriff mit zwei Deputies. Er kam gerade aus dem Krankenzimmer, als Mulder und Scully eintrafen. Sie nickten ihm kurz zu und betraten das Zimmer. Scully schloss die Tür hinter sich.
"Thomas Crichton? Wir sind Agents Mulder und Scully. Sie erinnern sich?" Er reichte dem verletzten Deputy die Hand. Ein kurzer Schmerz zuckte in seinem Gesicht auf, als er den Händedruck erwiderte. Scully wollte ihm diese Tortour ersparen und nickte freundlich.
"Sicher, Sir. Ma'am. Sind Sie in dem Fall schon weiter gekommen?"
"Wir haben noch nichts Handfestes. Deswegen würden wir Ihnen auch gerne einige Fragen stellen."
Der Deputy nickte. "Nur zu."
"Als sie den Tatort untersucht haben, an dem Nathaniel Rodney ums Leben kam, waren Sie in irgend einer Weise emotional daran beteiligt? Hatten Sie sch kurz zuvor mit jemandem gestritten?"
"Ich empfand Wut und Trauer. Ich habe Nathaniel gekannt. Haben gern einen über den Durst getrunken. Er war ein feiner Kerl. Aber warum fragen Sie mich das, ich verstehe nicht..."
"Wissen Sie, ob es schon mehrere Vorfälle unter der "Alten Berta" gegeben hat?"
"Paare lieben sich und Paare streiten sich. Sicherlich hat die alte Eiche schon einiges miterlebt."
"Können Sie sich daran erinnern, ob vor zwei Jahren so ein Zwischenfall war?"
"Nein, das weiß ich wirklich nicht, obwohl..." Der Deputy fuhr sich mit dem Handrücken über die schweißbedeckte Stirn. "Da war etwas mit der kleinen Madeleine. Das arme Ding. Sie war ganz aufgelöst."
"Was war denn passiert?" fragte Scully.
"Eines Tages stürmte ein kleiner Junge bei uns rein, Benny war das, und schrie "Er ist tot, Gustav ist tot, jemand hat ihn umgebracht!" Wir fragten, was passiert sei, und er sagte uns, dass Madeleine bei ihm wäre und zeigte uns den Weg. Wir sind mit ihm zur "Alten Berta" gefahren. Und da stand sie, das arme Mädchen. Ich werde den Anblick wohl nie vergessen. Ihre Augen waren verweint, ihr Haar flatterte wie wild um ihren Kopf und ihr hübsches Kleidchen war voller Blut. Im Arm hielt sie ein schwarzes, totes Lämmchen. Sie war tottraurig."
"Was ist denn mit dem Lamm passiert?" wollte Mulder wissen.
"Jemand hatte ihm den Kopf abgeschnitten. Zu der Zeit haben wir viele Diebstahlmeldungen von jungen Lämmern erhalten."
"Von schwarzen Lämmern? Sie erwähnten, Gustav wäre ein schwarzes Lamm gewesen." sagte Scully. Der Deputy lächelte sie milde an.
"Heidschnucken. Eine in Deutschland verbreitete Schafsrasse. Alle Lämmer sind zu Anfang schwarz."
"Ja, wegen ihrer imposanten Hörner hat man sie bei Schwarzen messen geopfert." fügte Scully hinzu. "Hat man aufgeklärt, wer das getan hat?"
Der Deputy schüttelte den Kopf. "Die kleine Madeleine war sehr traurig. Sie hat das arme Ding unter dem Baum vergraben, die Kinder haben einen regelrechten Trauergottesdienst daraus gemacht. Seitdem ist die "Alte Berta" nicht mehr das unbefleckte Liebesnest."
Mulder nickte dankbar und klopfte dem Deputy kameradschaftlich gegen den Arm. "Danke, Mr. Crichton, Sie haben uns sehr weitergeholfen."
Der Deputy lächelte dankbar, aber unsicher. Er wüsste nicht, wie er den Agenten geholfen haben könnte mit seiner Geschichte. Er lächelte freundlich, als sie sein Zimmer verließen.

Auf dem Krankenhausflur trafen die Agenten auf einen sauertöpfischen Sheriff Dalton, der schnurstracks zu ihnen herüberkam.
"Haben Sie etwas in Ihrem Mordfall herausgefunden?" fragte der Sheriff herablassend. Mulder schenkte ihm ein gönnerhaftes Lächeln.
"Ja. Es wird keine tödlichen Unfälle mehr geben."
Der Sheriff verschluckte ein Lachen und räusperte sich. Mit dieser Antwort hatte er ebenso wenig gerechnet wie Scully. Sie sah Mulder ungläubig an.
"Aber da wäre noch eine Sache. Könnten sie alle Familien und jungen Paare der Stadt aufrufen, sich an der "Alten Berta" zu versammeln?"
"Mulder?" flüsterte Scully und sah ihn verständnislos an.
"Ja, aber was..."
"Ich möchte den Ort nur wieder zu dem machen, was er einst war."


9

"Mulder, was um Gottes Willen sollte das eben?" fragte Scully leicht erzürnt, als sie aus dem Krankenhaus gingen.
"Ich will verhindern, dass noch mehr tödliche Unfälle passieren. Offenbar war der Tod des kleinen Gustav der Auslöser, oder besser gesagt Madeleines Trauer darüber. In diesem Moment wurde das kleine Mädchen wie der alte Baum zum ersten mal mit dem Bösen in der Welt konfrontiert. Und seither versucht der Baum solche Geschehnisse, bei denen große Gefühle im Spiel sind, zu wiederholen. Er hat Geschmack am Geruch der Angst gefunden."
"Das ist doch Schwachsinn, Mulder." Sie stieg auf der Beifahrerseite ein, während Mulder den Motor startete. "Sie unterstellen einem Baum bewusster Mord?"
"Bäume sind unter ihrer rauen Schale sehr sensible Wesen, sie registrieren jede Veränderung in der Atmosphäre und passen sich ihr an. Was, wenn dieser Baum die Atmosphäre an sich anpasst?" Er sah sie ernst an. Scully schüttelte entschieden den Kopf, doch so sicher war sie sich ihrer Sache nicht mehr.
"Sie haben selbst gesagt, dass niemand anderer für den Tod von Nathaniel Rodney verantwortlich sein kann. Es sei denn der Baum oder er ist durch seine eigene Dummheit ums Leben gekommen."
"Und warum die Liebespaare? Was wollen Sie damit bezwecken? Die "Alte Berta" vor den Augen der Leute verhaften?"
Mulder grinste schelmisch. "Wir müssen den Baum nur zeigen, dass Liebe viel mehr bewirken kann als Tod und Trauer. Dann wird er dafür sorgen, dass es unter seinem Dach wieder friedlich zugeht."
Scully lächelte sanft. Sie hielt nicht viel von Mulders Geschichte, auch wenn sie schön war, aber ebenso wusste sie, dass sie in dieser Sache keinen menschlichen Mörder finden würde. Also ließ sie sich auf das Spiel ein. Das einzige, was ihr Sorgen machte, war der Bericht, in dem sie ihr Hiersein und ihre Ermittlungen rechtfertigen mussten.

Am späten Mittag hatte sich eine beträchtliche Menge von Leuten unter dem Baum versammelt. Sheriff Dalton war mit ein paar Deputies gekommen und schlenderte nun hinüber zu Mulder und Scully. Mit jedem weiteren Liebespaar, Eheleuten und ihre spielenden Kinder schien sich auch die Sonne aufzuhellen, und der Baum erstrahlte in einem für die Jahreszeit ungewöhnlich saftigem Grün. Scully, die die fröhlichen Menschen eine Weile beobachtet hatte, wandte sich Mulder zu, als der Sheriff bei ihnen eintraf.
"Ich hab's als ein gemeinsames Einwohnerpicknick ausgehängt. Die Leute fanden wohl, das sei eine gute Idee." Scully musste zweimal hinschauen, aber auf dem Gesicht des Sheriff's lag tatsächlich ein Lächeln.
Mulder nickte. Mehr und mehr Einwohner kamen und packten ihre Körbe aus und legten Decken auf dem Boden. Lachende Kinder rannten an ihnen vorbei.
"Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken wollen, aber es ist eine gute Sache. Seit dem Tod von Nathaniel Rodney und dem Zwischenfall mit Thomas haben die Leute diesen wunderschönen Flecken hier gemieden. Ich danke Ihnen." Er schüttelte Mulder und Scully die Hand. Sie sah zu ihrem Partner, der sie gewinnend anlächelte.
"Sie waren so davon überzeugt, dass Nathaniels Tod kein Unfall war. Was hat Ihre Meinung geändert?"
"Die "Alte Berta". Sie ist tatsächlich für seinen Tod verantwortlich. Aber solange glückliche und sich liebende Menschen hier leben, wird hier keine weitere Tragödie geschehen."
Der Sheriff nickte, auch wenn er nicht ganz zu verstehen schien. Er bedankte sich noch einmal und verabschiedete sich von den Agenten. Scully stellte sich neben Mulder und sah ihm nachdenklich nach.
"Wie ein bisschen Freundlichkeit einen Menschen verändern kann." sagte sie und schaute zu Mulder. Er blickte zu ihr hinab und legte seinen Arm um ihre Schultern. Lächelnd beobachteten sie gemeinsam das bunte Treiben und die fröhlichen Menschen. Wenn dieser Fall auch nie gewesen war, was er zu sein schien, so hatte er doch ein glückliches Ende genommen.


Epilog

Die Sonne schien klar am azurblauen Himmel. Ein lauer Sommerwind fegte durch das raschelnde Blattwerk der Bäume, Kinderlachen durchschnitt die Luft. Und inmitten in einem Meer aus wogenden Grashalmen und fröhlichen Menschen ragte die "Alte Berta" herrschaftlich dem Himmel entgegen, und ihre frischen, grünen Blätter verneigten sich ehrwürdig vor der Sonne und dem Licht.
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