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Deliberation

von Sophia Jirafe

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Es tut ihr Leid, dass sie überhaupt damit begonnen hat. Diesen - diesen unglaublichen Horror eines falschen Schrittes, diesen Alptraum von Dummheit, diesen schrecklichen Frevel gegen ihre eigenen besten Interessen. Sie ist keine dumme Frau, warum besteht sie darauf, sich wie eine zu benehmen?

Gestern schien es richtig zu sein. Vielleicht war es das einfach nur, weil es durch den Schleier gefiltert wurde, der in der letzten Zeit ihren Verstand umhüllt, vielleicht weil sie es einfach müde war, gegen sich selbst anzukämpfen, vielleicht einfach nur, weil sie einsam war und kalt und es satt hatte, abends allein zu Hause zu sitzen.

Fehler scheinen die Maßeinheit ihres Lebens zu sein.

Sie braucht das, aber sie will es nicht. Sie will es, aber sie braucht es nicht. Wie man es auch betrachtet, ein Teil des Puzzles passt nicht, etwas, das sie gestern in ihren grimmigen, feurigen Träumen übersehen hat ist zurückgekommen, um sie zu verfolgen und ihr weh zu tun.

Es ist Liebe, denkt sie. Sie hat zuwenig Liebe.

***

Sie denkt, sie könnte sich in ihn verlieben, nur wegen der Art, wie er ihre Tränen aufhält und ihr die Haare aus der Stirn streicht. Die Bewegungen sind zärtlich und sicher - er ist ein Mann, der Tränen trinken und Sorgen schlucken würde, ohne es jemals zu zeigen, obwohl er den Schmerz von anderen versteht. Sie könnte ihn auch dafür lieben, die angenehme Toleranz eines gutmütigen Mannes, der die liebt und nicht bedauert, die schwächer sind als er selbst. Sie könnte für alle Ewigkeit mit ihm den Weg in ein ruhiges Leben gehen, einfach nur deswegen, weil er sie auf den Mund küsst und nicht auf die Stirn, wenn er sie tröstet.

Sie könnte ihn lieben, wenn sie nicht lebendig begraben wäre.

Sie liegt zusammengerollt auf der Seite, unfähig ihn anzusehen, die zarte Berührung seiner Fingerspitzen auf ihrer Wange ein schläfriger Trost, während Tränen in das Kissen gleiten und feuchte Spuren auf ihrer Haut hinterlassen. Sie fröstelt ein bisschen unter dem Laken, mit dem er ihren fast nackten Körper bedeckt hat, aber sie wagt es nicht, um eine Decke zu bitten, weil sie weiß, dass ihre zitternde Stimme ihr einen weiteren Weinanfall einbringen würde. Sie zuckt beim Gedanken an diesen Sturm zusammen, an diesen dunklen Ort, wo sie nur eine Stimme erreichen kann. Die Stimme, die zu hören sie nicht mehr ertragen kann, weil sie weiß, dass sie sie nie wieder im Leben hören wird.

Seine Stimme.

Ihr Atem beruhigt sich, langsam. Er lässt seine Hand von ihrem Gesicht gleiten und legt sich neben sie, den Arm um ihren Oberkörper gelegt mit einer Behutsamkeit, die sie nie bei ihm vermutet hätte.

"Ist dir kalt?", flüstert er leise und reibt ihren Rücken.

Da sie ihrer Stimme nicht traut, nickt sie ein wenig.

"Ich hole dir eine Decke."

Er setzt sich auf und tastet nach der Überdecke, die sie vor ein paar Minuten in ihrer Eile vom Bett geschoben hatten. Dann legt er sich wieder hin, bringt weiche Wärme mit sich und legt seinen Arm über sie. Sie wünscht sich fast, er würde sie an sich ziehen, so dass sie ihr Gesicht an ihm vergraben könnte und es ihr Dunkelheit und Vergessen bringen könnte. Sie will Drogen, Alkohol, einen Schlag auf den Kopf, alles, was sie die letzte Stunde ihres Lebens vergessen lassen könnte.

Sie hat sich zu ihm hingezogen gefühlt, weil sie nicht annimmt, dass sie ihn zerbrechen könnte. Sie hat sich vorgestellt, wie sie sich gegen die solide Wand wirft, die er ist, wie sie sich in der gepolsterten Zelle seiner Stärke verlieren würde. Er kennt sie nicht gut genug, um sich über die Haarrisse Gedanken zu machen, die sie sich in all den Jahren zugezogen hat. Sie weiß, dass er diese dritte Dimension von ihr jetzt noch nicht sehen kann und er ihr nur Trost und Zärtlichkeit zu bieten hat, nicht wissend, dass sie gebrochen ist.

Er ist nicht die Sorte Mann, den sie in der Art benutzen kann, wie sie es gewohnt ist, Männer zu benutzen. Er würde ihr Spiel nicht spielen, er würde sich nicht von den imposanten Barrieren abwenden, die sie aufgebaut hat und er würde nicht vor Ehrfurcht erstarren, wenn sie ihn hindurch lässt. Er ist nicht davon beeindruckt, wenn sie Vertrauen zu ihm schöpft, doch er hat auch keine Angst davor, wenn sie es nicht tut. Er ist einfach da, wartet auf sie, egal ob sie ihn hasst oder willkommen heißt.

Sie weiß, dass sie niemals Vergessen in seinen Armen finden wird. Er ist keine fehlende Hälfte, keine einsame Seele, die auf Vervollständigung wartet. Er verachtet sie nicht dafür, dass sie Trost braucht, noch will er, dass sie diesen Gefallen zurückgibt. Sie kann sich nicht vorstellen, diese stille Geduld mit ihm zu haben, oder seinen Schmerz wegzuwischen.

Sie kann sich nicht vorstellen, einen Mann zu lieben, der sie nicht braucht.

***

Sie wacht auf und wünschte, sie hätte es nicht getan. In einer eigenartigen Position zusammengerollt, steifer Schmerz von Krämpfen in ihrem Nacken, als sie ihren Kopf von seiner Schulter hebt.

Das erste mal in ihrem Leben wünscht sie, sie würde nicht die Fähigkeit haben, sich am Morgen an alles zu erinnern, gleichgültig, welche betrunkenen Eskapaden ihrem Erwachen auf der Couch vorangegangen waren, im Auto, auf dem Boden im Haus des Cousins des besten Freundes des Zimmergenossen ihres Bruders.

Stocknüchtern in ihrem eigenen Bett, mit ihrem Partner zusammengekuschelt wie ein Paar gottverdammte Turteltäubchen.

Er beobachtet sie und sie kann an der Intensität seines Blickes sehen, als sie sich aufsetzt, dass er das schon eine ganze Weile getan hat. Sie ist nicht überrascht, dass er ein Frühaufsteher ist, nur erstaunt, dass er nicht schon lange gegangen ist. Sie starrt ihn eine Weile an und senkt dann ihre Augen, um ihrer eigenen Nacktheit gewahr zu werden, den neuerdings vollen Brüsten und der leichten Wölbung ihres Bauches, die letzte Nacht alles zum Teufel gejagt hat.

Dumm -- ja, dumm zu glauben, er würde es sich nicht denken können, dass ein Mann, geübt darin zu beobachten, ihr Geheimnis in nicht weniger als zehn geschockten Sekunden entdeckt hätte, die er gebraucht hatte.

Sehr viel dümmer war es noch, ihn so völlig missverstanden zu haben, darin versagt zu haben, diese Qualitäten zu verstehen, die sie zuerst an ihm so angezogen haben. Er ist ein Mann der alten Schule, ein anständiger Mann, der niemals zögern würde, seine Partnerin zu trösten, egal ob sie nackt ist oder nicht, aber der für sich die Grenze dort zieht, mit ihr zu schlafen, wenn der Name eines anderen Mannes so deutlich quer über ihren Körper geschrieben steht.

Sie dreht sich unbeholfen weg und greift nach ihrem Bademantel auf dem Boden, während sie sich an den Ausdruck in seinen Augen letzte Nacht erinnert, als sie ihm ihr Geheimnis enthüllt hat. Ihre Küsse waren schnell und schmelzend, als wenn der eine oder der andere an irgend einem Punkt aufhören könnte und Gefühl mit Vernunft ersetzen würde. Sie erinnert sich daran, wie sie ihm sein Hemd mit brennender Verzweiflung ausgezogen hat in der Hoffnung, es hinter sich zu bringen, bevor sie anfangen würde zu weinen. Sein Gesicht - Leidenschaft, die seine klaren Augen dunkel werden ließ, seine Hände, die sie abschätzten und ihre Rundungen lernten, bevor sie ihn wegstoßen konnte.

Sie erinnert sie an die plötzliche Stille, an seinen Blick, der über den glatten, nackten Bauch unter ihm glitt und an den Verrat in seinen Augen, als er sie ansah. Ihr wurde in diesem Moment bewusst, was für ein gemeiner Streich das war, den sie ihm gespielt hatte. Er ist immer noch ganz, immer noch unberührt von den Flammen, die sie bis auf das wesentliche verbrannt haben und Täuschung ist ihm noch fremd. Er muss es sich vorher schon gedacht haben, hat sie sich eingeredet und sie wusste von der Art, wie er sich von ihr abwendete, dass dies die einzige Sache ist, bei der er willens ist, sich etwas vorzumachen. So viel bedeutet sie ihm.

Die Tatsache, dass er immer noch hier ist, sie tröstet und sich um sie kümmert ist das, was sie beschämt, als sie den Bademantel um sich schlingt. Er sollte jetzt schon gegangen sein, fort um sich um den Schlag ins Gesicht zu sorgen, den sie ihm verpasst hat, um sich darauf vorzubereiten, sie am Montag wieder professionell anzulächeln.

Ich habe dich getäuscht, denkt sie. Lass nicht die Zweifel für mich sprechen. Ich habe es mit Absicht gemacht.

Sie schließt die Badezimmertür hinter sich und dreht den Hahn auf, so heiß wie es geht und steigt in das Wasser, dass nur ein paar Grad weniger hat als nötig wären, um sie zu verbrühen. Sie schließt ihre Augen und stellt sich sich selbst vor, ohne Haut, ihr altes Leben so von ihr fortgebrannt, wie sich Fleisch vom Knochen löst.

Sie sieht einen Brustkorb, in dem eine trauerndes Herz gefangen ist und ein vaterloses Kind. Sie stellt sich vor, in ihren eigenen Leib zu kriechen, um die Landschaft aus blühenden schwarzen Blumen und weichen Geräuschen mit dem Kind zu teilen, das eine Mutter verdient, die keine Fehler macht.

***

Als sie sauber und trocken ist, scheint es ihr unmöglich, ihm noch länger auszuweichen. Der Fehler hängt klar sichtbar zwischen ihnen, beide gleichermaßen daran schuld. Sie erinnert sich an letzte Nacht, daran, die Zähne zusammenzubeißen und ihn mit Lasagne und verkochtem Spargel zu verführen, daran, wie er über ihr lehnte, während sie das Geschirr abwusch. Wie sie sich selbst glauben ließ, sie wolle seine harten Muskeln und seinen warmen Atem auf sich spüren.

Diese ganze Sache scheint so lächerlich zu sein, dass sie fast lächelt, als sie die Tür öffnet. Das Schlafzimmer ist leer und sie fühlt, wie ihre schwer errungene Haltung schwankt, als sie einen verwirrten Blick durch das Zimmer richtet. Sein Gürtel liegt allerdings immer noch auf dem Boden neben dem Bett und sie hört den Klang von Geschirr aus der Küche. Sie hebt den Gürtel auf, atmet tief durch und geht zum Wohnzimmer.

Er nimmt Tassen für den Kaffee aus dem Schrank und die Tatsache, dass er nicht die guten aus Porzellan benutzt, bricht ihr das Herz. Er muss verheiratet gewesen sein, denkt sie als sie ihn von der Schlafzimmertür aus studiert. Er ist zu umsichtig mit ihr, um es nicht gewesen zu sein, zu sorgfältig mit sich selbst. Bei ihm gibt es keine schlampige Vernachlässigung und der Art, wie er sie behandelt, liegt ein Verständnis für Frauen zugrunde, das nach mehr als nach einer mütterlichen Beziehung aussieht. Ein guter Mann, ein zuverlässiger Mann, eine sehr gute Partie.

Nicht ihre Partie.

Sie räuspert sich und geht in die Küche, nimmt eine Tasse und nickt ihm zu. Ihre Blicke treffen sich kurz und sie erkennt mit Erleichterung, dass er genug weiß, um nichts zu sagen. Sie warten an entgegengesetzten Seiten der Arbeitsplatte darauf, dass der Kaffee fertig wird, studieren die beigen Fliesen in fast angenehmem Schweigen. Er gießt ihr mit natürlicher Höflichkeit ein, schüttet dann selbst vier schwarze Schlucke hinunter und spült anschließend die Tasse in der Spüle aus.

Sie müssen sich jetzt ansehen, weil dies das letzte Mal sein wird, dass sie das tun, ohne zusammenzuzucken. Sie starrt in seine Augen, versucht ihm zu danken ohne zu schwanken oder zu zerbrechen, ohne so auszusehen als wenn sie den Trost, den er ihr gegeben hat so verzweifelt gebraucht hätte.

Sie versagt.

Er lächelt ein winziges Lächeln und sie sieht, wie ihr eine viel versprechende Welt entrissen wird, weil sie gebunden ist und nur für einen einzigen Mann geschaffen wurde. Die Tränen ersticken sie wieder und er geht mit offenen Armen auf sie zu.

Schnell tritt sie zurück, dreht ihren Kopf, so dass die Tränen hinter ihren Haaren verschwinden. Sie wischt mit dem Handgelenk über ihre Wangen und setzt ein schmerzverzerrtes Lächeln auf.

Er streckt ihr die Hand entgegen und sie nimmt sie, wobei sie niemals den Blick von seinem Gesicht lässt. Er senkt seinen Blick und spricht schließlich.

"Du wirst ihn finden", sagt er leise. "Weil du es musst."

Er drückt ihre Hand und sieht zu ihr auf. "Und ich bin für dich da."

Es gibt nichts in der Welt, was sie zu ihm sagen könnte, was nicht dumm wäre, oder bedeutungslos, oder gemein, oder sinnlos. Sie nickt.

Nach einem Moment lässt er seine Hand sinken und wendet sich zum gehen. Sie hält die Tür, als er hinausgeht und legt plötzlich die Hand auf seine Schulter.

"Danke, John", flüstert sie und schließt die Tür.



ENDE
Danke an Diana und Epur für die lebensrettende Beta und an Sabine, für das erste ermutigende Durchlesen.

Dies und mehr bei http://www.dreamwater.com/mcaact/maren.html
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