World of X

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Jahrestag

von Viola Anna Wittek

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Ich lehnte gegen den Tresen. In meinem Fingern hielt ich ein Glas, das ich mit einem Tuch trocknete. Ich mochte diese Pose; ich kam mir dann vor, wie der Keeper eines Western Saloons. Ein altes Luftschloß aus meiner Kindheit; ich wollte schon immer mal den Wilden Westen unsicher machen und auf dem Rücken meines Pferdes dem Sonnenuntergang entgegen traben.



In Wirklichkeit aber besaß ich nur einen kleinen Irish Pub am Westende der Hauptstadt unseres Landes. Diese Bar war schon seit Generationen Familienbesitz. Mein Urgroßvater hatte sie eröffnet. Dann war sie an meinen Großvater, Vater und schließlich an mich übergegangen. Und das obwohl ich immer Cowboy werden wollte.



Es herrschte nur mäßiger Betrieb an diesem späten Donnerstagabend. Niemand saß am Tresen, nur einige Nischen, in denen Tische standen, waren besetzt. Ich vernahm Gelächter und Geschwätz aus einigen Ecken, aber im Grunde war es ruhig. Auch Zigarettenraucher waren an diesem Abend offenbar keine hier. Denn oft konnte man um diese Uhrzeit vor Qualm die Hand kaum noch vor Augen sehen. Aber heute war es ruhig.



Ich sah um mich. Diese Bar war seit dreißig Jahren mein ganzer Stolz. Als mein Vater mit dem Auto verunglückte, war ich noch ein junger Mann. Seitdem war ich nahezu jeden Abend hier gestanden, hatte Gläser gewischt und Drinks ausgeschenkt. Und ich hatte Geschichten gehört. Die meisten würden vermutlich nicht glauben, wie viele Menschen meinten, mir ihre ganze Lebensgeschichte erzählen zu müssen, wenn sie, mehr oder weniger leicht, angeheitert waren. Im Grunde liefen alle Geschichten auf die selben Dinge hinaus: Liebe, Sehnsucht, Sex, Lug, Betrug, Verzweiflung, Geld oder Gier. Jede einzelne Geschichte schöpfte aus diesen Komponenten; jede.



Aber jedesmal, wenn ich selbst fest davon überzeugt war schon alles gesehen und alles erlebt zu haben, geschah etwas neues. Oder zumindest etwas, das ich in dieser Form noch nicht gekannt hatte.



Als die Tür aufging und sie den Raum betrat, sah ich augenblicklich auf. Sie war auffällig wie ein bunter Hund und vermutlich gab es in dieser Bar keinen der sie nicht anstarrte. Sie zog unglaublich viele anstößige Blicke von Männern auf sich. Aber ich hatte den Eindruck, daß sie das gar nicht wirklich bemerkte. Auf mich machte es den Eindruck, als sei sie viel zu sehr in ihrer eigenen Welt gefangen, als daß sie das alles wirklich wahrnahm.



Sie war klein und zierlich, gut einen Kopf kleiner als alle anderen in diesem Laden. Sie hatte eine wundervolle weibliche Figur, die nicht allzu weit vom 90-60-90 Ideal abweichen konnte. Ihre rötlichen Haare umrahmten ihr strenges, aber unschuldig wirkendes Engelsgesicht. Und das Gesicht eines Engels hatte sie tatsächlich. Ihre Lippen waren sinnlich rot und ihre Augen kristallblau. Ihre Haut war milchig weiß, aber keineswegs blaß, und ihre Wimpern untermauerten ihre ausdrucksstarken, schimmernden Augen. Und trotz ihres tristen Blickes fehlten ihr nur die großen, weißen Flügel zu dem vollen Bild eines wahren Engels.



Die meisten, die hierher kamen, waren Männer. Kaum eine Frau betrat diese Bar. Und das schon gar nicht ohne Begleitung. Eine der einzigen, die in diesen dreißig Jahren jemals hierher gekommen ist, war meine Frau. Sie kam durch diese Tür und ging direkt auf den Tresen zu, wie es keine vor ihr getan hatte. Sie hatte sich vor mir auf den Hocker geschmissen und starken Alkohol bestellt. Wir kamen ins Gespräch, denn es hatte mich ungeheuerlich interessiert, was eine gut gekleidete Karrierefrau in meinen Laden machte. Natürlich war es eine der acht Komponenten gewesen, aus der alle Probleme zu bestehen schienen. Bei ihr war es die Liebe und Sehnsucht gewesen. Ihr Freund hatte sie sitzenlassen.



Möglicherweise rätselte ich deshalb, was es bei ihr wohl sein mochte. Sie kam direkt auf die Theke, direkt auf mich zu. So wie meine Frau es getan hatte. Sie trug einen Blazer, der verriet, daß sie offenbar einen gut bezahlten Job ausübte. Erst nun fiel mir das Stück Plastik auf, daß an ihrer Brust hin und her baumelte. Es war mit einem Metallstück festgeklippt und zeigte allen deutlich, in großen blauen Buchstaben, daß sie eine hohe Position in der Regierung unseres Landes zu haben schien; FBI.



Im ersten Moment rätselte ich angestrengt, ob meine Steuererklärung dieses Jahr korrekt gewesen war oder ob ich etwas anderes verbrochen haben könnte, das das FBI dazu bringen würde, bei mir anzutanzen. Aber ein weiterer Blick in ihre verruchten, blauen Augen verriet mir, daß sie aus privaten Gründen hier zu sein schien. Sie zog sich direkt vor mir auf den noch freien Barhocker.



Einige Männer starrten sie noch immer an, nun, wo sie ihre attraktiven Beine übereinander schlug und die Arme nachdenklich vor der Brust verschränkte. Ihre forschenden Blicke erkundeten die Flaschen hinter mir und die Vitrine mit den Gläsern darin. Ihre Haltung war streng, aber ich war mir sicher, daß sie dahinter etwas verbarg. So als wollte sie damit etwas schützen, tief in ihrem Innern.



„Whiskey“, sagte sie plötzlich und riß mich aus meinen grübelnden Gedanken. „Je stärker desto besser!“



Ich war erstaunt. Frauen bestellten sich für gewöhnlich irgendwelche leicht alkoholischen Drinks. Und sie erschien mir eher wie eine Frau, die auf tropische Cocktails mit einem winzigen Schuß Alkohol wert legte. Und vor allem erschien sie mir wie eine Frau, die nicht gerade viel Alkohol vertrug. Aber sie bestellte Whiskey. Vielleicht machte mich das noch interessierter daran, weshalb sie überhaupt hier war. Oder was in ihrem hübschen Kopf vor sich ging.



„Danke“, raunte sie mir zu, als ich ihr schließlich das Glas vor die Nase setzte. Ich stellte noch eine Schale Erdnüsse dazu. Sie löste die verschränkten Arme vor ihrer Brust nicht, lehnte sich aber vor und stützte die Unterarme auf der Platte des Tresens. Sie starrte den Whiskey eine Weile lang nur an, bevor sie das Glas überhaupt berührte. Es erschien mir, als sei sie in einer vollkommen anderen Welt gefangen.



„Sie arbeiten für das FBI?“, fragte ich neugierig darauf, was in ihr vorging. Ich fragte mich, welche meiner acht Komponenten auf sie zutraf. Es interessierte mich plötzlich mehr als alles andere, weshalb sie hier war. Vielleicht war sie meiner Frau noch ähnlicher als ich zunächst annahm, dachte ich. Ich wollte nur einmal bisher unbedingt erfahren, was in einem meiner Gäste vorgegangen war. Und das war sie. Aber möglicherweise schwatzten sonst so viele Männer auf mich ein, daß mich deshalb die Probleme von Frauen einfach brennend interessierten.



Sie nickte schließlich nachdenklich. Sie zog den Ausweis von ihrer Jacke und starrte ihn einen Moment an. Ich spürte, daß ihr Job offenbar teilweise ein Grund für ihren Besuch war. Schließlich knallte die den Ausweis direkt auf den Tresen, neben dem Glas, indem der Whiskey schwappende Bewegungen machte.



„Harter Tag?“, versuchte ich wieder ein Gespräch anzustiften. Sie starrte einen Moment auf den Ausweis vor sich, bevor sie erneut nickte.



„Wollen Sie darüber sprechen?“, startete ich einen letzten Versuch. Sie sah fragend zu mir auf, bis das skeptische Blau ihrer Blicke meine grünbraune Milde traf. Dann zog sich langsam ein Lächeln über ihr Gesicht. Aber das Lächeln kam nur langsam; ging von den Winkeln ihres Mundes aus, zog sich dann weiter über ihr ganzes Gesicht, endete schließlich bei ihren Augen. Ihr Lächeln war einzigartig, erkannte ich augenblicklich.



„Nein, nein, ich brauche keinen Unterhalter“, sagte sie, amüsiert grinsend und räusperte sich. „Trotzdem danke.“



Ich behielt sie in den nächsten Stunden ständig im Augenwinkel. Schließlich hatte ich mich auch noch um andere Gäste zu kümmern. Trotzdem ging ich an diesem Abend ständig in meinen Gedanken durch, was ihr passiert sein könnte. Ich glaubte nicht, daß es mit Geld zu tun hatte; eine Sache weniger. Nur die wenigsten zogen solch ein deprimiertes Gesicht, wenn es um Geldsorgen ging. Es ging um einen Kerl, bestimmt, dachte ich nachdenklich. Wenn ich sie mir so ansah, könnte ich mir sogar zwei Kerle vorstellen. Möglicherweise einen Ehemann und einen Liebhaber? Ich seufzte, es schien mich einfach nicht loslassen zu wollen, was mit ihr war.



Mein Sohn half mir aus. Das tat er an vielen Abenden, wenn es voll hier wurde. Er hatte den Teil der Theke übernommen, an dem sie saß. Ich sagte ihm, er solle ein Auge auf sie haben, denn sie schien nicht gerade viel Erfahrung im Umgang mit Alkohol zu haben.



Es wurde spät und später. Viele Gäste gingen und die Bar wurde leerer. Einige, die zu zweit gekommen waren, gingen nun getrennt, mit trotzigen Blicken auf ihren Gesichtern. Andere, die allein gekommen waren, gingen nun teilweise zu zweit. Ich beobachtete das immer mit einem skeptischen Zwinkern. Wieviel ein Abend doch ändern konnte, dachte ich jedesmal.



Nur sie saß noch immer unverändert da. Ab und zu sah sie um sich, starrte dann wieder auf ihren Ausweis, nahm dann einen weiteren Schluck von ihrem Getränk, was auch immer mein Sohn ihr gegeben hatte. Sie drehte das Glas zwischen ihren Fingern und beobachtete, wie die klare, hellbraune Flüssigkeit darin hin und her schwappte im Rhythmus ihrer Bewegungen. Die Erdnüsse waren kaum angerührt. Klar, dachte ich, eine Frau mit ihrer Figur schien sich niemals Fehltritte zu erlauben. Auch nicht, wenn der Abend noch so einsam und deprimierend war.



Sie tat mir unglaublich leid. Ich beschloß schließlich, meinen Sohn nach Hause zu schicken. Es waren nur noch einige Leute hier und ich würde ich in spätestens zwei Stunden schließen. Dieser nickte und folgte den meinen Worten. Er war ein guter Junge, durch und durch. Er versicherte mir, daß sie nicht viel getrunken hatte, als ich ihn danach fragte. Ich seufzte nachdenklich, als mein großer, dunkelhaariger Junge schließlich ging.



Ich spülte einige Gläser und wischte sie trocken. Ich erinnerte mich wieder daran, ein Cowboy sein zu wollen. Ja, das war es. Das wollte ich immer schon machen. Und obgleich ich nicht mehr der Jüngste war, wußte ich, daß ich irgendwann nach Texas ziehen würde. Oder nach Arizona, Nevada oder Oklahoma. Irgendwohin, wo es entsetzlich heiß war, wo es Wüste gab, wo ich eine Bar eröffnen konnte.



„Sind Sie verheiratet?“, fragte sie mich plötzlich und riß mich aus meinen Wachträumen. Ich drehte mich zu ihr. Ich denke, das war das erste, was sie wirklich gesagt hatte, seit sie diese Bar betreten hatte. Schön, sie hatte ihre Getränke bestellt. Aber das war der erste volle Satz, den sie zwischen ihren schönen, vollen Lippen hervorpreßte.



Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie mit mir sprechen würde. Sie schien nicht der Mensch zu sein, der einem Fremden gleich ihr Herz ausschüttete. Sie schien eine sonst sehr reservierte, zurückhaltende Frau zu sein. Eine FBI-Agentin eben, so wie es diese Jodie Foster in diesem Horrorfilm gewesen war, den ich vor einigen Tagen gesehen hatte. Eine intellektuelle, belesene, clevere Frau, deren Herz dennoch verletzlicher war, als das vieler anderer verheulter Weiber. Aber deren Stärke im Schweigen lag.



„Ja“, beantwortete ich schließlich ihre Frage und stellte das saubere Glas zurück in die Vitrine. „Ja, seit fast fünfundzwanzig Jahren. Ich habe meine Frau hier in der Bar kennengelernt. Sie saß auf dem gleichen Hocker, auf dem Sie jetzt sitzen.“



Ich sah, wie ein ironisches Lächeln über ihr Gesicht floß. Es war ein Lächeln, wie das, das mir vorhin aufgefallen war. Begonnen bei einem skeptischen Heraufziehen ihrer Mundwinkel, welches sich nach und nach, wie in einem Dominoeffekt, über alle Züge ihres Gesichts ausbreitete. Und schließlich endete es bei ihren Augen. Aber es war nichts desto trotz ein Lächeln voller Ironie. Wie wunderbar sah diese Frau wohl aus, wenn sie wirklich lächelte –aus Glück oder aus Freude? Wie glücklich mußte der Mann sein, dem dieses Lächeln galt?



„Kinder?“, fragte sie nun neugierig. Ich runzelte zunächst etwas verwundert die Stirn. Normalerweise fragten Gäste nicht nach mir. Normalerweise setzten sie sich hierher, an den Barhocker und erwarteten, mir augenblicklich von ihrem Erlebnissen und Erfahrungen berichten zu können. Ich möchte mich nicht beschweren, ich hörte diesen Geschichten gerne zu. Aber niemals zuvor hatte jemals irgend jemand zuerst nach mir gefragt.



„Ja, ich habe drei Töchter. Alle drei sind noch Teenager. Und meinen Sohn Frank haben Sie ja kennengelernt. Alle samt wunderbare Kinder“, antwortete ich stolz. Aber ich sah, wie etwas in ihren Augen sich trübte, als ich das sagte. Ihre Blicke senkten sich hinunter zu ihrem Whiskeyglas, das inzwischen erneut leer war. „Was ist mit Ihnen?“, überwand ich mich schließlich zu fragen.



Sie antwortete nicht sofort, sondern zögerte bedeutend. Ich spürte, wie in ihr irgend etwas sich wandelte. Das Blau der Regenbogenhaut in ihren nachdenklichen Augen wurde traurig und das schimmernde Leuchten ihrer Augen verwandelte sich in triste Trübe. Sie räusperte sich leise. „Ich nicht“, sagte sie dann seufzend. „Keine Kinder, keine Ehe, kein Kerl, keine Beziehung. Nicht mal ein bißchen bedeutungslosen Sex.“



Nun stutzte ich. Kerle sprachen mehr über Sex als man dachte. Aber daß die kleine, zierliche, brav aussehende FBI-Agentin ihr Gespräch so eröffnete raubte mir dann doch die Sprache. Ich fragte mich, was genau noch folgen würde. Und ich konnte fühlen, daß da eine ganze Menge war. Aber vor allem fühlte ich, daß ihre Worte getrieben wurden von Einsamkeit... und von Alkohol.



„Sehen Sie dieses Ding hier?“, fragte sie und deutete mit ihrem Finger auf den Ausweis. Zum ersten Mal warf ich einen wahren Blick darauf. Unter den Buchstaben entdeckte ich ihren Namen. Dana Scully. Special Agent Dana Scully. Das klang stark, mächtig und gleichzeitig ungeheuer feminin. Dana. Sie hieß wie meine älteste Tochter. „Mit diesem verdammten Ding hier, hängt all das zusammen.“



„Aber trotzdem sitzen Sie wegen eines Kerl hier?“, versuchte ich zu raten und traf damit offenbar den Nagel auf den Kopf. Ihr Kopf senkte sich langsam und hob sich wieder. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das nur ein nachdenklicher Moment war oder ein Nicken. Vermutlich war es sowohl als auch.



„War das so verdammt offensichtlich?“, fragte sie plötzlich und strich sich mit der Hand einige Haarsträhnen aus ihrem hübschen Gesicht. Ihre blauen Augen versuchten augenblicklich jegliche Emotion mit einem aufgesetzten, herzzerreißenden Lachen zu kaschieren.



Ich nickte schließlich lächelnd, als sie mich mit ihren blauen Augen musterte. Ich versuchte grob ihr Alter zu schätzen. Dreißig... Fünfunddreißig... möglicherweise. Ich hätte sie vielleicht sogar jünger geschätzt, wären die Ränder unter ihren Augen nicht gewesen. Ich wußte nicht, ob sie von Müdigkeit herrührten, zu viel Arbeit, zu wenig Schlaf oder von dem, wie es in ihr drin aussah. Aber sie machten ihr Gesicht älter und weiser.



Es war ein Werktag und unter der Woche leerte sich die Bar meist ebenso schnell, wie sie sich sonst füllte. Langsam aber sicher wurden die ersten Tische frei. Aber sahen die noch in den Nischen sitzenden Männer doch mal auf, dann starrten sie die rothaarige Agentin an. Keiner sah, so wie ich, in ihre blauen Augen. Aber auch nur die wenigsten versuchten überhaupt einen Blick in ihr Gesicht zu werfen. Die meisten schienen mehr an ihrem Hintern oder anderen ihrer weiblichen Kurven interessiert zu sein, was ich ihnen im Grunde auch nicht verübeln konnte.



„Ich habe einen Partner“, begann sie schließlich zu erzählen, während ihr Blick sich auf ihre Hände senkte. Zwischen ihren Fingern hielt sie eine Erdnuß, die ihre Blicke zu inspizieren schienen. Sie strich mit den Nägeln an der Schale entlang. Ich hörte den Worten, die ihre feste Stimme formten, aufmerksam zu. Trotzdem konnte sie nicht zu mir aufsehen. Fürchtete sie sich davor, in meine Augen zu blicken, weil sie Angst hatte, daß ich etwas in ihren Augen sah? Etwas verletzliches?



„Er ist mein beruflicher Partner. Wir sind nicht miteinander...“, sagte sie und zögerte an dieser Stelle. „Unsere Beziehung ist rein platonisch, keineswegs romantisch. Ich denke, man kann uns Freunde nennen. Besonders gute Freunde.“



Ihre Worte sprudelten nur so hervor. Wie gesprächig sie der Alkohol gemacht hatte, hätte ich nicht geahnt. Doch an dieser Stelle stockte sie wieder und ich brannte regelrecht darauf zu erfahren, was zwischen den beiden vorgefallen war. Oder nicht vorgefallen war. Und was sie dachte; was sie beunruhigte und was sie dazu gebracht hatte, hier in diese Bar zu kommen. Und ich glaube ich sah in ihren Augen, was es war. Mein Konzept bestätigte sich; Komponente Nummer Eins.



„Sie haben sich in ihn verliebt, richtig?“, schloß ich aus ihren Worten und traf damit offenbar erneut ins Schwarze. Ich sah, wie etwas in ihren Augen bröckelte. Vielleicht war das die imaginäre Mauer um ihre Seele, die dort zerfiel. Vielleicht war es die Illusion, daß keiner wußte, was in ihr vorging, wenn sie diese Mauer um ihr Herz aufbaute, die ich mit diesen Worten zerstört hatte.



„Ja. Ich habe mich in ihn verliebt“, seufzte sie schließlich.



„Was ist mit ihm?“, fragte ich. Ich ging in Gedanken durch, was diesen Mann wohl davon abhielt, sie zu verführen. Ich hatte die Ausdrücke in den Blicken der Männer gesehen, die heute um sie herum gesessen waren. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie mit mindestens fünfzehn Kerlen anbändeln können, die ihr hinterher gesehen hatten. Aber ich bezweifelte, daß sie überhaupt bemerkt hatte, welche Aufmerksamkeit sie allein durch ihr Erscheinen hier auf sich gezogen hatte.



„Was ist mit ihm?“, wiederholte sie meine Frage und ein weiteres ironisches Lächeln passierte ihr Engelsgesicht. „Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn seit Jahren und kann ihn nicht durchschauen... kann seine Gefühle nicht durchschauen. Einmal denke ich, er liebt mich möglicherweise. Im nächsten Moment flirtet er mit einer anderen und ich weiß genau, daß ich mir etwas vormache. Aber ich weiß, was ich ihm gegenüber empfinde. Und ich glaube, er weiß es auch.“ Sie stockte einen Moment nachdenklich, nickte dann mehrmals leicht. „Ja, ich bin mir sicher, er weiß es.“



„Haben Sie es ihm gesagt?“, fragte ich, neugierig, worin das Problem lag. Ich begann in meinen Gedanken zu spekulieren. Hatte er eine Freundin? War er möglicherweise verheiratet oder hatte er Kinder?



„Nein, das könnte ich nicht“, gestand sie schließlich und ich bemerkte, wie verletzlich sie der Alkohol in den letzten Stunden gemacht hatte. Das war nicht etwas, das sie gesagt hätte, als sie sich noch am frühen Abend auf diesen Barhocker gezogen hatte. „Er ist mein Partner, es ist besser so. Aber es gibt diese Gelegenheiten, bei denen ich zweifle. Manchmal bin ich mir unsicher, was ich eigentlich will und welche Rolle er darin spielt.“



„Wovor haben Sie Angst?“, fragte ich mitfühlend. „Vor Zurückweisung? Oder Vertrauensbruch?“



„Ja und ja“, sagte sie seufzend. „Und möglicherweise weil ich ihm, meinem einzigen Freund, eingestehen müßte, daß ich schwach bin. Und das tut eine Dana Scully nicht“, sagte sie und lachte wieder. Aber in ihrem Lachen steckte so viel Ironie, daß es schon fast in meinen Ohren schmerzte. Ich hörte den Alkohol, der ihre feste Stimme unklarer machte. Keineswegs war sie so betrunken, daß sie durch den Raum torkeln würde, wenn sie wieder auf ihren Füßen stand. Sie erschien mir relativ nüchtern, aber nicht mehr vollkommen.



„Er ist eine Art Vater- oder Leitfigur in meinem Leben. Und zum Teil brauche ich das auch. Nein, ich brauche es nicht nur, ich stehe sogar darauf. Ich fühle mich nur gut, wenn ich mich ihm entgegensetzen kann. Wenn ich ablehne, was auch immer er sagt und krampfhaft versuche, seine Theorien und Ansichten bloßzustellen“, sagte sie. „Das ist wie eine Droge, ein Adrinalinstoß, der einen abhängig macht.“



Sie brach mit den Nägeln die Erdnußschale auseinander. Das Krachen, als sie zerbrach, übertönte ihr unsicheres Räuspern. Sie senkte ihren Blick noch ein wenig tiefer, damit meine Augen keinen Kontakt zu ihren herstellen konnten. Ich vermutete zunächst, daß ihr schwindlig wurde, wenn sie etwas fixierte. Schließlich hatte ich nicht genau verfolgt, was sie getrunken hatte heute Abend und vermutlich hatte sie auch auf leeren Magen getrunken. „Und wenn ich mit ihm streite, dann ist das ein unbeschreibliches Hochgefühl“, sagte sie schließlich. Ich erkannte, daß es nicht alleinig der Alkohol war, der sie dazu brachte, ihr Gesicht vor mir abzuwenden. Es war Scham. „Ich steigere mich in diese Dinge so unwahrscheinlich hinein, daß ich die Kontrolle über mich verliere. Ich ertappe mich dann selbst dabei, wie ich mir wünsche, daß er mich an sich reißt und mich einfach nur vögelt. So sehr, daß ich meinen Namen vergesse und den Verstand verliere.“



Nun zog ich verwundert die Brauen in die Höhe. Sie sah nicht aus wie eine Frau, die das Wort ‚vögeln‘ häufig gebrauchte. Überhaupt wirkte sie wie eine Frau, die in ihrem Leben noch niemals Kontakt mit diesen Worten gehabt hatte. Vielleicht scherte ich sie mit meinem klischeehaften Denken nun mit einem vorgefertigten Bild der Karrierefrau über einen Kamm. Möglicherweise irritierte mich ihre formelle Kleidung einfach zu sehr. Jedenfalls hätte ich vor wenigen Sekunden noch, nicht geglaubt, daß sie tatsächlich mit einem eigentlich fremden Mann, der rund zwanzig Jahre älter war als sie selbst, so redete. Trotz Alkohol. Ich war erstaunt.



Sie lachte, als sie in meine verwirrten Augen sah. Offenbar hatte sie auch keine andere Reaktion ihres Gegenübers erwartet. „Sexentzug macht einen auf Dauer verrückt“, sagte sie schließlich lachend und senkte den Blick auf ihre Erdnuß.



Ich hatte keine Ahnung, welche Sorte Mann er sein mochte. Schließlich kannte ich ihren Partner nicht. Aber entweder war er blind oder... war er vielleicht schwul? Wie konnte er in ihren unschuldigen, blauen Augen nicht sehen, daß sie diese Phantasien von ihm hatte? Nun, da sie ausgesprochen hatte, an was sie dachte, sah ich, wie sich ihre Gedanken zu ihm entfernten. Wie sich diese Unschuld in ihren Augen zu etwas anderem, zu etwas Verruchtem verwandelte. Und, großer Gott, ich glaubte ihr regelrecht ansehen zu können, wie sehr sie sich nach ihm sehnte. Dieser Kerl mußte ein glücklicher Mann sein.



„Und er hat überhaupt keine Ahnung?“, fragte ich ungläubig. Wie konnte man das übersehen, fragte ich mich innerlich. Wie konnte man diesen umwerfenden Ausdruck ihrer blauen Augen übersehen?



„Doch,... nein... ich weiß nicht“, stammelte sie. „Als er eines Abends vor meiner Wohnung auftauchte, mit einer Flasche Wein in der Hand, da haben wir den ganzen Abend lang geredet. Und geredet, und getrunken und geredet und getrunken. Daß heißt, ich hab getrunken, denn er hat mich abgefüllt. Und dann wollte er mich küssen.“



„Hat er es getan?“, fragte ich, irritiert, wie diese Sache wohl enden würde.



„Nein“, stammelte sie. „Denn dieser Kerl war gar nicht wirklich Mulder. Er sah nur aus wie er. Es war so ein Kerl, der sich verwandeln konnte. Ich weiß auch nicht, wie er das gemacht hat, aber er hat ausgesehen wie Mulder, als er sich zu mir vorbeugte. Und er wollte mich küssen. Und in seinen Augen habe ich gesehen, daß er mich flachlegen wollte. Und, gütiger Himmel, ich hätte ihn mich flachlegen lassen, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken. Aber dann kam der echte Mulder zur Tür rein und der Mulder, der mich vögeln wollte, verwandelte sich in Eddie.“



Okay, okay, okay. Ich hatte mich geirrt. Ganz offensichtlich war sie doch betrunken. Sogar sehr viel betrunkener, als ich dachte. Denn nun begann sie tatsächlich wirres Zeug zu reden. Ich versuchte, das, was sie gesagt hatte in einen logischen Zusammenhang zu bringen. Ich versuchte krampfhaft zu grübeln, ob sie vielleicht in Metaphern oder so einem Scheiß redete. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger Sinn machte es und desto mehr hoffte ich, daß ich mich irrte und sie doch versuchte bildlich zu sprechen.



„Also hat dieser... ähm... Eddie sich für Mulder ausgegeben?“, fragte ich nochmal und sie nickte. Ich glaubte in ihren Augen sogar einen Funken der Freude darüber zu sehen, daß ich vorgab zu verstehen, wovon sie sprach. „Und dieser Eddie, den Sie für Mulder hielten, wollte Sie verführen“, erkundigte ich mich nochmal und wieder nickte sie zustimmend. Ihre rötlichen Haarsträhnen wippten dabei sanft. „Und Sie haben nicht bemerkt, daß es nicht Mulder war?“



„Nein, ich war betrunken“, sagte sie verlegen und ich nickte. Na schön, sie war in jedem Falle ordentlich dicht. Aber irritierenderweise wirkte sie gar nicht so betrunken. Sie schaukelte nicht von einer Seite auf die andere, sie lachte nicht vollkommen überschwenglich oder machte irgendwelche anderen beschwipsten Bewegungen, wie Betrunkene es für gewöhnlich taten. Und ich hatte schließlich öfters schon mit Angeheiterten zu tun gehabt. Und sie erschien mir eigentlich ziemlich nüchtern. Na ja, wenn man vom fehlenden Zusammenhang und fehlender Glaubwürdigkeit ihrer Worte absah.



„Aber Mulder hat es gesehen“, sagte sie schließlich, als ich noch immer damit beschäftigt war, meine Gedanken zu ordnen. „Er hatte gesehen, daß ich fast Eddie geküßt hätte und daß ich geglaubt hatte, daß er es wäre. Und er hat trotzdem nichts darüber gesagt. Nie wieder. Und einmal wollte mich Mulder auch selbst küssen.“



Okay, nun begaben wir uns wieder auf glaubwürdigeres Terrain. „Mulder selbst?“



„Ja, als ich kündigen wollte, da hat er mich aufgehalten. Er sagte, er brauche mich und daß ich ihn zu einer ganzen Person machen würde“, sagte sie und ich konnte ihr ansehen, wie sie in sanfter Erinnerung schwelgte. „Er hat mir gesagt, daß er mir alles schulde und ich ihm gar nichts. Und dann habe ich begonnen, in seinen Armen zu weinen. Er war so richtig süß, wie er sich um mich bemühte. Und darum, daß ich bei ihm blieb. Er hat mir dann in die Augen gesehen und als er mich küssen wollte, da habe ich meinen Blick gesenkt. Eine Biene stach mir in den Nacken und hat den Kuß damit verhindert.“



„Was ist dann passiert?“, fragte ich neugierig. Ganz so blind schien dieser Mulder ja doch nicht zu sein. Immerhin hatte er versucht sie zu küssen, richtig?



„Ich bin ohnmächtig geworden. Mulder hat einen Krankenwagen gerufen und die haben mich entführt“, sagte sie und ich sah, wie ihre blauen Augen wieder kühl wurden. „Die haben mich nach Alaska in ein UFO gebracht. Er glaubte, daß das der Ort war, an dem sich diese Außerirdischen, die aussehen wie schwarzes Öl oder dickflüssige Cola, in sich Menschen vermehren. Ich habe ihm gesagt, daß es Quatsch ist, aber er war der festen Überzeugung, daß es so ist. Aber ich erinnere mich an nichts mehr wirklich bis zu dem Punkt, an dem Mulder mich gerettet und zurück nach D.C. gebracht hat.“



Glaubwürdigkeit Ade! Logik Ade! Nun war es vorüber!



„Nein, ich meine, wie ging es zwischen Ihnen und Ihrem Partner weiter?“, sagte ich, um wieder auf den Teil der Story zu lenken, den ich als halbwegs glaubwürdig empfand. Aber was mich verunsicherte, war, daß ihre verstörten blauen Augen mich noch immer ungeklärt ansehen konnten. Wie konnte man so betrunken sein und dennoch so nüchtern wirken?



„Er hat mich niemals wieder darauf angesprochen, ich habe kein Wort darüber verloren. Damit hatte sich die Sache für uns erledigt.“ Sie lachte schwermütig und grinste traurig. „Im Gefühle verstecken sind wir Meister und auch im tun-als-wäre-nichts-gewesen.“



Nun tat sie mir leid. So sehr auch der Alkohol ihren Verstand verwirrt haben mochte, ihre Gefühle waren eisern und unangreifbar. Sie senkte ihren Blick wieder zu der Erdnuß, die zwischen ihren Fingern klemmte. Sie spielte mit ihr, kratzte mit ihren langen, gepflegten Fingernägeln darauf herum. „Und was war der Anlaß? Ich meine, weshalb haben Sie sich entschieden ausgerechnet heute ihre Sorgen zu ertränken?“



Sie sah zu mir auf und lachte wieder schwermütig. Sie lachte nicht, wie eine Angeschwipste, sondern wie eine traurige, einsame Frau. „Wo soll ich anfangen?“, fragte sie amüsiert und ich sah sie nur erwartungsvoll an.



„Zunächst war ich in der letzten Woche mehrmals im Krankenhaus“, begann sie und stockte nur, um sich zu räuspern. „Ich habe einen früheren Liebhaber besucht, der nicht nur mein Collegeprofessor war. Diese ganze... Sache... zwischen uns war nicht nur rechtlich verboten, sondern auch moralisch keineswegs akzeptabel. Er war sehr viel älter als ich, war verheiratet und er hatte eine Tochter meines Alters. Er hat mir immer abgeraten FBI-Agentin zu werden. Aber ich bin weggegangen, habe ihm und der Medizin meinen Rücken gekehrt, um hier ein neues Leben beim Bureau anzufangen. Und in der letzten Woche habe ich Dinge erfahren, die ich gar nicht wirklich wissen wollte. Nicht nur, daß er mich anscheinend noch immer liebt. Er hat seine Frau verlassen, obwohl ich gegangen bin, um mir zu folgen. Und ich habe es nicht bemerkt. Ich habe in den letzten Tagen aber erkannt, daß er mir im Grund all das hätte geben können, was ich mir heute wünsche. Durch ihn hätte ich heute möglicherweise eine Familie, Kinder und ein stinknormales Privatleben. Aber ich war jung und wollte die Welt verändern. Durch meine Arbeit beim FBI bin ich nicht nur unfruchtbar geworden, sondern ich bin gar nicht fähig eine wirkliche, romantische Beziehung zu einem Kerl zu führen. Denn ich bin nirgendwo lange genug, um Wurzeln schlagen zu können. Denn ich bin mit immerzu mit Mulder unterwegs. Aber nicht zu vergessen habe ich meine Zukunft auf ein ganz normales Familienleben aufgegeben. Heute Morgen vor dem Spiegel habe ich ein graues Haar entdeckt und am Samstag, morgen, werde ich sechsunddreißig. Mir geht nach und nach die Zeit aus und ich habe nichts wirklich erreicht.“



Großer Gott, nun tat sie mir wirklich leid! Nun ziepte es in meinem Herzen, als ich hörte, was sie mitgemacht hatte. Die Ringe unter ihren Augen wirkten mit einem Mal tiefer, als sie mir bis eben erschienen waren. Selbst ihre Blicke hatten sich getrübt und ihre Stimme war rauh geworden, als sie mit all dem hervorsprudelte, was sie zu belasten schien. Oh je, dachte ich. Das würde für sie nicht nur einen Kater am nächsten Morgen bedeuten, sondern auch eine wahre Tortur durch diese Nacht.



Niemand, der bei mir am Tresen gesessen war, hatte bisher wirklich über Außerirdische geredet und von Leuten, die sich in andere verwandeln konnten. Betrunken genug waren einige schon gewesen, aber dennoch waren phantastische Bett- und Sexgeschichten an dieser Stelle üblicher. Oder Übertreibungen bezüglich der Ausstattung der eigenen Lendengegend. Aber Außerirdische, das war etwas neues.



Aber im Grunde kristallisierte sich eine weitere Komponente heraus, die ich bei meiner Aufzählung vergessen hatte. Eitelkeit. Es war kurzum eine Mid-Life Crisis, die sie dazu gebracht hatte, meine Bar aufzusuchen. Anläßlich ihres Geburtstages am morgigen Tag war sie deprimiert. Das passierte Männern auch häufig.



Nur waren graue Haare seltener der Grund. Geburtstage schon eher. Aber meistens gründete sich die Absicht ihres Besuches der Bar meist darin, daß sie mit ihren eigenen Leistungen im Bett nicht zufrieden waren. Weil sie ihre Frauen und Freundinnen nicht befriedigen zu können schienen oder impotent waren. Es war erfrischend, die Gründe einer Frau für eine Mid-Life Crisis zu hören. Als ahnte sie, in welche horizontale Richtung meine Gedanken gingen, sah sie mich mit ihren großen, kühlen, blauen Augen an.



„Und ich habe nicht einmal ein bißchen bedeutungslosen Sex“, sagte sie seufzend und warf die hellbraunen Erdnußschalen auf den Haufen zu den anderen. Es waren nicht viele, vielleicht Überreste von zehn, elf, zwölf Nüssen. Sie hielt die beiden geschälten, dunkelbraunen Nüsse in der flachen Hand und schob sie auf diese Weise in ihren Mund. „Und es muß nicht einmal guter Sex sein, nein, aber ich habe nicht einmal schlechten. Heute... oder nein... gestern eigentlich... hatte ich Jahrestag. Es ist nun acht Jahre her, das ich das letzte Mal gevögelt wurde. Und vögeln ist freundlich gesagt, das war nicht halb so gut, wie es vielleicht klingt.“



Ich warf schließlich einen kurzen Blick auf meine Uhr. Es war mitten in der Nacht, gut drei Uhr durch. Um vier schloß ich meinen Laden. In mir kam die Sorge auf, wie sie nach Hause käme. Und ich fühlte mich verantwortlich dafür zu verhindern, daß sie selbst heimfuhr. Sie war mir sympathisch und tat mir leid und keineswegs wollte ich ihren Namen jemals an einem Holzkreuz am Straßenrand lesen müssen.



„Es ist schon nach drei“, sagte ich schließlich schwerfällig. „Wie werden Sie nach Hause kommen?“



Sie dachte nach. Ich sah, wie sie ihre Lippen aufeinander preßte und den Daumen dagegen drückte. So, als helfe diese Geste ihre dabei zu grübeln. Ihre blauen Augen sahen mich nachdenklich an. „Ich schätze, ich sollte lieber nicht selbst fahren.“



„Sie können von hier telefonieren. Haben Sie jemand, der Sie abholt?“, fragte ich. Gütiger Himmel, ich wußte genau, wenn sie nein sagte, würde ich ihr selbst anbieten, sie heimzubringen. Sie tat mir so ungeheuerlich leid und ihre blauen, emotionsgeladenen Augen brachten irgend etwas in mir dazu, alles was sie sagte, sofort zu tun. Glücklicherweise hatten meine Frau und meine Kinder diese unglaubliche Gabe nicht, dachte ich und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Sonst wäre ich übermorgen schon pleite, weil meine Frau mich zum Shopping überreden würde und meine drei Töchter uns vermutlich begleiteten...



Nachdem ihre blauen Augen sich wieder zurück auf die Erdnüsse gesenkt hatten, nickte sie. Es war ein langsames und gründlich bedachtes Nicken. „Ja“, stammelte sie schließlich, ein wenig verwirrt. Ihre Hand fuhr sich über die Stirn und warf die vorderste Strähne ihres vollen Haares zurück. „Ja, ich denke, ich werde Mulder anrufen.“



~*~*~*~



Und es dauerte nicht lange, bis der legendäre Agent Mulder hier eintraf, um seine Partnerin abzuholen. Er fiel mir sofort auf, schon bevor er den Laden wirklich betrat. Seitlich der Tür befanden sich einige Fenster. Ich konnte zwar nur einen Umriß sehen, aber nicht viele ordentlich und treu dreinschauende Männer strolchten um diese Uhrzeit an meinem Laden vorbei.



Und genauso sah er aus; ordentlich und treu dreinschauend. Er war ungeheuerlich groß und hatte dunkles Haar, das vom Regen draußen leicht zerzaust war. Sein Gesicht war relativ durchschnittlich, nicht weiter auffällig. Nur seine kamillenteefarbenen Augen, die nach ihr suchten, als er die Bar betrat, machten sein Gesicht auf eine merkwürdige Art und Weise friedlich. Und als seine Blicke gefunden hatten, wonach sie suchten, begann die farbenfrohe Iris seiner grünbraunen Augen zu schimmern und zu leuchten.



Er wirkte weder böse noch genervt zu sein darüber, daß er seine, offenbar ja nur berufliche Partnerin, mitten in der Nacht in einer Bar abholen sollte. Im Gegenteil. Das ganze schien ihn offenbar zu amüsieren. Und ihre leicht verlegenen Blicke verrieten mir, daß er sie vermutlich noch jahrelang damit aufziehen würde.



„Scully“, brachte er mit warmer Stimme besorgt hervor, als er sie entdeckt hatte und auf sie zuging. Ich runzelte einen Moment lang die Stirn. Vielleicht, weil ich einfach kein ‚Scully‘, sondern vielmehr ein besorgtes ‚Dana‘ mit folgendem Wimpernschlag erwartet hatte. Aber ich hatte mich geirrt. Scully war alles, was er bis hierhin über die Lippen gebracht hatte.



Er berührte ihre winzige Schulter, die unter seiner Hand nahezu ganz verschwand.



„Ich hätte ja vieles gedacht, Scull“, sagte er grinsend. „Aber mir wäre niemals in den Sinn gekommen, daß ich Sie eines Nachts tatsächlich in einer Bar abholen müßte, weil Sie zu viel getrunken haben, um heimzufahren.“ Seine amüsierten Gesichtszüge verrieten sehr wohl den ungeheuren Spaß, den er daran hatte, seine Partnerin in dieser Situation vorzufinden.



„So viel habe ich nicht getrunken, Mulder“, versicherte sie ihm und wollte aufstehen. Im ersten Moment dachte ich, sie wäre von ihrem Hocker gefallen und hielt sich nun daran fest. Aber das war sie nicht. Sie hatte nur einfach einen Satz zurück auf ihre Füße gemacht und erst nun fiel mir auf, wie klein sie eigentlich war. Oder wie groß er war. Jedenfalls sahen sie nebeneinander äußerst interessant ist.



Das ist er also; Mulder. Ich hatte mich den ganzen Abend über gefragt, wer genau der mysteriöse Mann hinter diesem Namen war. Und ich glaubte stolz sagen zu dürfen, daß ich ihn mir in etwa so vorgestellt hatte. Er sah aus wie ein ehrgeiziger Workaholic, der sich außerhalb seiner Arbeitszeit mit drei Dingen beschäftigte: Essen, Schlafen und sich Pornofilme ansehen, um sich wenigstens durch Hüten eines privaten Geheimnisses die Illusion eines Privatlebens zu verschaffen. Ich hatte einfach von meinen Gästen schon genügend Geschichten gehört, um Männer kategorisieren zu können. Und ich denke, in diese Gruppe paßte auch Agent Mulder.



„Wieviel hat sie getrunken?“, fragte er mich schließlich, als sie außer Hörweite war. Sie war nochmal auf der Toilette verschwunden. Um sich frisch zu machen, vermutete ich.



„Nicht allzuviel. Ein bißchen verdünnten Whiskey“, sagte ich und versuchte mich daran zu erinnern, wie viel es genau gewesen war. „Auf jeden Fall sagte ich ihr, daß ich es für besser hielte, wenn sie nicht selbst fährt, denn sie hatte gerade begonnen von gestaltenwandelnden Männern, Außerirdischen, Killerbienen und Aliens in Form von dickflüssiger Cola zu erzählen. Mir war es wohler zu wissen, daß sie gut heim kommt.“



Mulder stand mir gegenüber und lachte amüsiert. Es ist war ein belustigtes, gutturales Lachen, das er von sich gab. Es brachte mich dazu selbst zu grinsen, obwohl er anscheinend mehr über die Hintergeschichte zu wissen schien. Denn in seinen Augen erkannte ich etwas Wissendes, das ihn noch mehr belustigen zu schien. Ja richtig, dachte ich, als ich mich an ihre Erzählungen erinnerte. Er hatte sie ja aus dem UFO gerettet...



„Ja, es ist wohl besser, wenn sie dann nicht mehr fährt“, sagte er und das breite Grinsen in seinem Gesicht weitete sich noch mehr. Wüßte ich es nicht besser, hätte ich vermutet, daß er mit einem Kleiderbügel in seinem Mund geschlafen hatte. „Schulden wir Ihnen noch etwas?“



Ich versicherte ihm, daß sie alle ihre Schulden beglichen hatte, als sich die Tür zur Damentoilette öffnete und Miss Scully wieder herauskam. Es war ihr deutlich anzusehen, daß sie ihre Lippen mit einem roten Stift nachgebessert hatte, denn sie waren plötzlich noch roter, noch voller, noch sinnlicher als an der Bar. Ihr rötlichgoldenes Haar saß noch immer so perfekt wie zuvor, aber trotzdem vermutete ich, daß sie sie bei einer erneuten Korrektur ihres Aussehens ebensowenig ausgelassen hatte, wie Wimperntusche und Lidschatten. Merkwürdig, dachte ich schließlich. Meine Frau versuchte mir immer weiß zu machen, daß eine gewöhnliche Frau für diese Dinge mindestens eine Stunde brauchte...



Scully warf mir ein verabschiedendes Lächeln und irgendeine gestammelte Floskel als Abschied zu. Mulder verabschiedete sich gänzlich mit seinen Blicken, bevor er auf Scully hinunter blickte. Als die sich auf dem Weg zum Ausgang machten, sah ich ihnen noch eine ganze Weile nach.



„Soll ich Sie beim gehen stützen, Scully?“, fragte er belustigt und sie stieß ihm verlegen ihren Ellenbogen in die Rippen. Nicht fest, aber fest genug, damit er spürte, daß es ihr unangenehm war. Ich hatte selten zwei Menschen gesehen, bei denen wortlose Kommunikation so gut funktionierte. Ich wußte, man konnte den einen in ein Labyrinth stellen und er würde herausfinden, solange ihm das Gesicht des anderen dabei vorschwebte. Das war etwas, das man nicht allzu häufig sah, dachte ich schwermütig.



Als die Tür hinter beiden zufiel, fluchte ich innerlich. Das ist das beschissene an meinem gottverdammten Job, dachte ich. Es störte mich nicht, mir die Geschichten anzuhören. Nein, es war belustigend oder lehrreich. Und manchmal war es sogar beides. Aber ich wußte niemals wie die Geschichten ausgingen. Nur bei meinen Stammkunden, die sich jedes Wochenende hier zulaufen ließen. Aber bei einmaligen Gästen wie bei ihr, ganz besonders bei ihr, interessierte es mich, wie es weitergehen würde.



In meinem Kopf drängten Fragen nach Antworten. Brachte er sie wohlbehalten nach Hause? Was würde er sagen? Was würde sie ihm sagen? Inwiefern veränderte sich beider Beziehung zueinander durch diese Sache? Vertraute sie ihm die Dinge an, die sie mir an diesem Abend bereits anvertraut hatte? Von ihrem Jahrestag? Ihrem grauen Haar? Ihrer Verzweiflung hinsichtlich der Wahl, FBI-Agentin zu werden?



Ich schickte die letzten Gäste heim, stellte die Stühle verkehrt herum auf die Tische, um den Boden aufzuwischen. Dabei machte ich mir Gedanken, um Scully und Mulder. Ich wußte, daß mich diese Dinge nichts angingen. Aber vermutlich war ich ein zu neugieriger Mensch, als daß ich all das, was sie mir erzählt hatte, einfach innerhalb von Sekunden wieder vergaß.



Als die Sonne bereits über der Stadt aufging, machte ich mich auf den Weg nach Hause. Ich hatte meine Arbeit gemacht, würde erst an diesem Abend wieder meine Bar aufsuchen, um mir die nächsten Geschichten von Liebe, Sex, Lug, Betrug, Verzweiflung, Sehnsucht, Gier, Eitelkeit und Geld anzuhören. Nur eines wußte ich sicher. Außerirdische würden an diesem Abend nicht dabei sein. Ich schloß die Bar ab und ging die leere Straße entlang.



Die Bürgersteige waren wie leergefegt und lediglich einige Autos fuhren die breite Straße entlang. Die Autos derer, die zur Kategorie Mulders gehörten; büroarbeitende Workaholics. Hauptsächlich waren es schwere Schlitten, die zu dieser Zeit die Straße entlang rasten. Mercedes, Ford, BMW. Eine Ente, ein Käfer oder jegliches andere Auto, das nicht die Startfarben schwarz, weiß, silber, dunkelblau besäße, wäre hier auffällig.



Kritisch wunderte ich mich, welches Auto Mulder wohl fuhr. Und welche Farbe es hatte.



Ein quietschendes Geräusch erregte meine Aufmerksamkeit, als ich auf eine kleine Seitenstraße zuging. Es war eine Seitenstraße fernab der Hauptstraße, verzweigt und um die Ecke weisend. Ich beschloß, dem merkwürdigen, rhythmischen, aber metallischen Geräusch, schließlich auf den Grund zu gehen. Ich verschränke meine Arme vor der Brust, um mich vor dem Wind zu schützen, der um mich herum wehte.



Ich bog in die Seitenstraße, überlegte mir, daß ich auf diesem Wege auch nach Hause käme. Es war wieder meine Neugier die mich leitete, denn es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, was die Quelle des Geräusches sein könnte. Eine Weile vergaß ich darüber sogar Mulder und Scully. Erst nun, als ich erkannte, woher das Geräusch stammte, sprangen die beiden mit einem Satz zurück in meine Erinnerung.



Ich erblickte einen Wagen in der sonst wie leergefegten Gasse; einen großen, dunkelblauen Ford. Ganz klar ein Auto der Kategorie Workaholic. Das quietschende Geräusch war das Schreien und Keuchen des Metalls des Wagens in einem mir äußerst bekannten Rhythmus. Ein wippendes Hin und Her und Auf und Ab. Durch die schmale Heckscheibe sah ich nackte Haut. Ich wußte nicht genau, was ich eigentlich sah oder was zu wem gehörte.



Ich sah, wie sie sich auf dem Rücksitz aufbäumte und den Kopf stöhnend nach hinten warf. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Mund geöffnet. Aber ihr mir bekanntes, rötlich schimmerndes Haar verriet mir, daß Scully im nächsten Jahr keinen neunten Jahrestag feiern mußte.



Meine Personenprofil hatte sich erneut als korrekt erwiesen. Es war tatsächlich Mulders Wagen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich würde mir keine Sorgen mehr machen müssen, darüber wie diese Sache mit den beiden FBI-Agenten ausging. Ich wußte, daß er sie nach acht Jahren endlich gevögelt hatte, so wie sie es gewollt hatte.



Ich sah nicht mehr, als ihre nackten Schultern. Das schreiende, ohrenbetäubende Quietschen des Metalls erreichte seinen Höhepunkt, ebenso wie es die beiden Insassen des Wagens offensichtlich taten. Sie atmete schwer, hielt sich fest an der Kopflehne des Vordersitzes und dann sackten ihre Schultern erschöpft zusammen. Die Geräusche des Wagens wurden abrupt langsamer, verschwanden schließlich. Ihr Kopf, der nach hinten gelehnt gewesen war, sah nun hinab –auf ihn, wie ich annahm.



In diesem Moment tauchte er auch von unten auf. Sie schien auf ihm zu sitzen, denn ihre Gesichter waren auf gleicher Höhe. Ich sah, wie sie sich etwas zustammelten, bevor sie sich innig küßten. Sie schlang ihre nackten Arme um seinen Hals, als sich ihre Lippen aufeinander schlossen.



Ich wandte dem Geschehen den Rücken zu, mit einem breiten Grinsen auf meinen Lippen und dem plötzlichen Wunsch, meine Frau flachzulegen. Ich war in einer Laune, in der ich die Welt hätte umarmen können und vor unidentifizierbarer Freude Auf und Ab springen. So ganz genau wußte ich nicht warum. Möglicherweise einfach, weil ich wußte, daß diese bemitleidenswerte Frau, die bis vorhin an meiner Bar gesessen war, das bekommen hatte, was sie wollte?



Vermutlich war es das. Aber was auch immer Grund für meine Laune war, meine erbarmungslose Neugier war befriedigt. Die Geschichten kannte ich eigentlich alle. Nur wußte ich meist nicht, wie sie endeten. Aber das Ende dieser Geschichte hatte ich gesehen. Und es brachte mich dazu, mich auf mein Zuhause, meine Frau und den nächsten Arbeitstag zu freuen.





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