World of X

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Dance without sleeping

von Lydia Bower

Kapitel 1

Es hat überhaupt nichts mit Hellsehen zutun. So lebhaft und impulsiv er auch sein kann, Mulder ist trotzdem durchschaubar geworden. Und ich weiß immer, wenn er mich anruft.

"Ich bin in einem Stück nach Hause gekommen, Mulder", sage ich ihm am Telefon ohne ein großartiges Hallo vorher.

"Spooky, Scully", antwortet er.

"Nein, das heißt 'Spooky' Mulder."

Er lacht. Für einen Moment ist es still und ich kann ihn mir ganz deutlich vorstellen. Wer braucht schon Bildtelefone? Mulder und ich bestimmt nicht.

"Hey", sagt er, "ich habe gerade eine Pizza fürs Abendessen geholt. Genug für zwei. Wie wär's, wenn ich vorbeischneie und wir essen sie zusammen?"

"Mulder, sie wird eiskalt sein, wenn du hier ankommst."

"Nein, das wird sie nicht."

Ich hebe eine Augenbraue.  "Wo bist du?"

"Sieh' nach", sagt er. Ich trete ans Fenster und spinkse durch die Gardine.

Mulders Auto steht auf der anderen Straßenseite. Er lehnt an der Motorhaube, Telefon am Ohr, und sieht mich an. Ich kann den weißen Pizzakarton auf der Motorhaube liegen sehen.

Ich lächle ihm zu. Er muss es gesehen haben, denn er grinst zurück und ich sehe, wie er auf den Knopf auf seinem Telefon drückt, als im selben Moment die Verbindung beendet wird.

Es ist mittlerweile zu einem eingespielten Rhythmus geworden. In den zwei Monaten seit Penny Northern gestorben ist und ich mich entschieden habe, wieder zu arbeiten, haben Mulder und ich eine stille Vereinbarung getroffen: er hat versprochen, mich nicht anders als sonst auf der Arbeit zu behandeln, wofür ich mich von ihm in unserer Freizeit bemuttern lassen muss. Es ist schwer, diese Abmachung einzuhalten—für uns beide. Ich kann hier nur für mich sprechen, und ich weiß nicht, ob er es verstehen würde, aber es ist nicht so, dass ich die Zeit, die wir zusätzlich miteinander verbringen, nicht schätze. Ich tue es, mehr als ich es je vor mir zugeben würde. Es ist nur so, dass es Nächte gibt, in denen ich nichts weiter tun möchte, als mich mit dem Gedanken an meinen bevorstehenden Tod zusammenzurollen und mich bittere Tränen vergießend in einem Loch zu verkriechen. Und das tut man nicht so leicht in Gesellschaft. Vor allem nicht, wenn diese Gesellschaft Fox Mulder ist.

Ich höre das Klopfen an der Tür und senke genervt meinen Kopf. Ich muss es ihm geradeheraus sagen—die Andeutungen haben nichts gebracht. Ich schließe auf und lasse ihn herein, während ich vor ihm her ins Wohnzimmer zurück laufe.

"Mulder, benutze doch von jetzt an deinen Schlüssel. Du brauchst nicht zu klopfen". Ich setze mich wieder in die Ecke der Couch, kreuze meine Beine unter mir und sehe zu ihm auf. Er sieht mich an, während er sich herunter beugt, den Pizzakarton auf dem Wohnzimmertisch abstellt und dann seinen Mantel auszieht.

"Bist du sicher?"

"Ja, ich bin mir sicher. Benutze deinen Schlüssel. Ich sehe keinen Sinn darin, jedes Mal aufstehen zu müssen, wenn wir doch beide wissen, dass du es bist."

Er schaut weg. "Aber was wenn.... ich meine, du könntest gerade im Badezimmer sein, oder dich umziehen oder so...."

"Dann fange ich eben an, die Türen zu schließen."

"Ich will dich nicht erschrecken."

"Ich habe keine Angst vor dir, Mulder."

"Das ist nicht, was ich...." Er verstummt und sieht mich wieder an. Ich merke, dass Mulder es wieder einmal geschafft hat zu wissen, was ich denke; oder zumindest verdammt gut zwischen den Zeilen gelesen hat. Und gerade in diesem Moment fällt mir auf, was genau er darin gelesen haben könnte. Bis vor kurzem hat es an Mulder viele Dinge gegeben, die mir Angst gemacht hatten. Doch jetzt ist das anders. Ich habe keinen Grund mehr, Angst zu haben. Mein Leben ist zu einer Abfolge einfachster Dinge geworden - ein dunkler Tunnel meiner Seele. Es gibt Mulder, mich, die Arbeit und den Krebs. Und ich lege all mein Vertrauen und meinen Glauben in die ersten drei.

Was den Krebs betrifft, fange ich an, meine Krankheit kennenzulernen und ich lerne langsam, mich damit abzufinden. Wo vorher Angst war, ist jetzt Wut. Und mit der Wut kommt die Kraft.

Ich sehe zu, wie Mulder einige Sekunden braucht, um diese neue Seite an mir zu verarbeiten, die ich ihm offenbart habe. Wie so oft in letzter Zeit. Ich war immer direkt mit ihm gewesen, wenn es um unsere Arbeit geht. Jetzt merke ich, wie ich außerhalb unseres Jobs ebenfalls so handele. Ich habe keine Zeit, um den heißen Brei herum zu reden.

Seine Augen ändern ihren Farbton, eine schwache aber merkliche Veränderung von braun zu grün. Er hebt einen Mundwinkel in einem schiefen Grinsen und nickt langsam. "Das ist gut, Scully. Da bin ich froh." Er dreht sich um und geht in die Küche, und ich höre ihn murmeln, "Das ist gut."

Dann höre ich das leichte Klicken von Gläsern. "Wasser, Eistee oder Saft?" ruft er.

"Wein. Im Kühlschrank ist in der unteren Schublade eine Flasche. Der Korkenzieher ist...."

"Ich weiß", ruft er zurück. "Ich hab' ihn schon. Ein Gläschen Wein, kommt sofort."

Ich beuge mich nach vorne und hebe den Deckel der Pizzaschachtel. Das warme, würzige Aroma von zerlaufenem Käse strömt zu mir hoch, und ich hebe mein Kinn, um zu schnuppern. Meine Hälfte ist mit Champignons, Zwiebeln und grünem Pfeffer. Mulders Hälfte hat noch Schinken dazu.

Mrs. Bottenfield, die Frau von gegenüber, hatte mich am Tag zuvor bei den Briefkästen angesprochen, ob der "nette junge Mann, mit dem Sie arbeiten", bei mir eingezogen war. Ich kann gut verstehen, warum sie diesen Eindruck hat. Es sieht offensichtlich ganz so aus. Mulder verbringt viel mehr Zeit, hier als bei sich zu Hause. Er hat ein eigenes Schrankfach für einen oder zwei seiner Anzüge, eine Schublade für seine Socken, Unterwäsche und Krawatten und ein weiteres für seine Jeans, T-Shirts und Hosen. Er hat eine eigene Zahnbürste und Rasierklingen hier und ein altes Paar Turnschuhe im Schuhschrank. Seine halbe CD- und Videosammlung steht neben meiner im Regal. Jedes Mal, wenn er etwas Neues herbringt, fragt er zögerlich und verlegen, ob er es hier lassen dürfe. In letzter Zeit war er so umsichtig und höflich gewesen, dass ich gut Lust bekommen hatte, ihn auf der Stelle zu erwürgen. Ich vermisse den streitlustigen, arroganten Mistkerl, der er manchmal sein kann. Ich glaube, ich werde ihm das mal sagen müssen.

Er kommt mit zwei Weingläsern in einer und einem Stapel Servietten in der anderen Hand aus der Küche. Er reicht mir eins der Gläser und setzt sich neben mich auf das Sofa. "Brauchst du noch etwas, Scully?"

"Nein."

"Sicher?" fragt er und steht schon fast wieder. "Ich hole dir noch schnell einen Teller."

"Willst du dich nicht *endlich* hinsetzen?!" keife ich, viel lauter als beabsichtigt.

Mulder murmelt ein leises "'Kay", und setzt sich wieder hin, mir zugewandt. Er sieht mich leicht erschrocken an.

"Tut mir leid, Mulder. Ich wollte dich nicht anschreien", sage ich automatisch, aus reiner Gewohnheit. Aber das ist überhaupt nicht wahr.

"Nein. Weißt du was? Es tut mir nicht leid. Du treibst mich zum Wahnsinn, Mulder."

Stille. Er wischt sich den Mund ab und steht auf, während er sich nach seinem Mantel umsieht. "Ich, äh, ich glaube, ich sollte lieber gehen."

Ich warte förmlich darauf, dass er sauer wird, oder dass ich ihm ansehen kann, dass er beleidigt ist. Mulders Körpersprache kann einem ganze Geschichten erzählen, wenn man nur weiß, wo man hinsehen soll. Ich kann ihm nur Resignation ansehen, und das macht mich traurig.

Ich sehe ihn fassungslos an. "Ich will nicht, dass du gehst. Das wollte ich damit nicht sagen."

"Und was wolltest du sagen, Scully?" Seine Stimme ist ruhig, kontrolliert. Ah, da ist es: seine Stimme. Der Ärger.

"Ich will, dass du aufhörst, mich zu behandeln als würde ich sterben." Jetzt spitzt er die Ohren. Er wirbelt herum und starrt mich an.

"Was?"

"Du hast schon richtig gehört." Ich stelle mein Weinglas zurück auf den Tisch und schnappe mir ein Stück Pizza, wovon ich herzhaft abbeiße und so mit vollem Mund nichts weiter mehr sagen kann. Seine Neugier gewinnt, wie immer, und es braucht nur wenige Sekunden, bis er sich wieder hinsetzt und mir beim Kauen zusieht. "Nimm dir ein Stück Pizza, Mulder, bevor sie kalt wird."

Er brummt leise, was ich als Verwirrung auffasse. Er drückt seinen Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger und greift dann nach einem Stück Pizza. Wir werfen uns gelegentlich Blicke zu, während wir wortlos beide je zwei Stücke essen, und ich sehe ihm an, dass er langsam die Geduld verliert.

Ich spreche langsam, um die richtigen Worte zu finden, denn ich will nicht, dass er es in den falschen Hals bekommt. "Mulder, wir beide wissen, was mit mir los ist und wir wissen, dass dieser Krebs mich umbringen wird. "

Mulder hebt ein drittes Stück hoch und legt es sogleich wieder hin. Er starrt auf einen Punkt irgendwo im Zimmer und wischt sich gedankenverloren die Hände an einer Serviette ab. "Aber wir wissen auch, dass die letzten Tests kein weiteres Wachstum des Tumors gezeigt haben. Ich habe nicht ein einziges Mal Nasenbluten in den letzten zwei Wochen gehabt. Ich schlafe gut, ich esse", ich deute auf die Pizza, "relativ gut. Ich bin okay, Mulder."

"Was ist mit den Kopfschmerzen?"

Die neuesten Anzeichen meiner Krankheit haben mir während der letzten zwei Wochen zu schaffen gemacht. Dumpfe, hämmernde Kopfschmerzen in der Mitte meiner Stirn, genau über dem Tumor. Ich habe es meinem Arzt noch nicht gesagt, und ich hoffe, dass Mulder nicht fragt, ob ich es getan habe. Ich werde ihn nicht anlügen—nicht in dieser Sache. Das bin ich ihm schuldig.

Und außerdem weiß er genauso viel über meine Krankheit wie ich. Ich kann ihm nichts mehr verheimlichen. Ich habe schon lange aufgegeben, die Nächte zu zählen, die er im Esszimmer über meinem Laptop verbracht und das Internet nach brauchbaren Informationen durchforstet hat. Sogar Byers hat sich für ihn in jede medizinische Datenbank der Vereinigten Staaten und mehr als nur einige in Übersee gehackt. Der Tisch ist überfüllt mit Ausdrucken und Medizinbüchern, Testergebnissen und den Resultaten meiner letzen Blutabnahme. Mulder könnte eine brauchbare Krankenakte über mich zusammenstellen, wenn es nötig wäre.

Er nimmt sich diese Sache genauso zu Herzen wie alles, was ihm nahe geht.  Mulder ist wie ein Hund mit einem Knochen, den er energisch gegen jeden verteidigt, der ihn ihm wegnehmen will.

"Sie sind auszuhalten", sage ich. "Die Schmerztabletten helfen recht gut."

Ich kann ihm nicht länger in seine gepeinigten Augen sehen, und ich atme tief durch, um den Drang zu unterdrücken, ihn trösten zu wollen. *Ihn* trösten zu wollen. Ist das nicht verdreht? Ich bin diejenige, die krank ist, doch ich mache mir mehr Sorgen um Mulder als um mich selbst. Ich ziehe die Knie an meine Brust und lege meine Arme darum.

"Mulder, ich möchte, dass du weißt, wie sehr ich es schätze, was du in den letzten Monaten für mich getan hast. Nein, sei bitte ruhig und lass mich ausreden, ja? Ich weiß nicht, wie ich das alles ohne dich schaffen würde. Du bist für mich da gewesen, wann immer ich dich gebraucht habe. Du hast es irgendwie geschafft, bei der Arbeit all deine Ängste außen vor zu lassen und mich die Dinge so machen zu lassen, wie ich sie tun muss. Aber ich kann nicht mehr, Mulder. Ich hab's satt, dass sich mein Leben nur noch um meine Krankheit dreht. Das ist alles, womit wir uns beschäftigen, alles, worüber wir reden, wenn wir nicht arbeiten—und manchmal sogar *wenn* wir arbeiten. Wenn du nicht gerade damit beschäftigt bist, mehr Informationen über Scanlon herauszubekommen, bin ich es, die über Listen der neuesten Medikamente sitzt, die mir vielleicht helfen könnten. Es dreht sich einfach alles darum, und ich hab es verdammt satt, verstehst du?"

Ich weiß wirklich nicht, ob er es tut. Mulder hat sein Leben einer einzigen Sache gewidmet, er hat sich völlig von ihr vereinnahmen lassen—doch jetzt bestimmt noch etwas anderes sein Leben. Er hat die zusätzliche Bürde geschultert. Vorher waren es nur Mulder und Samantha. Jetzt gibt es drei.  Ich bin zu Mulders Lebensaufgabe geworden.

Er überrascht mich mit seiner Antwort. "Ja, Scully. Ich verstehe, was du meinst. Glaubst du es ist einfach, jeden Tag weiterzumachen? Ich habe dreiundzwanzig erschöpfende Jahre hinter mir, willst du etwa tauschen?"

Er versucht überhaupt nicht, seine Bitterkeit zu überspielen. Vielleicht weil er weiß, dass ich es nicht persönlich nehmen werde. Aber er hat die Frage gestellt, und sie verdient eine Antwort.

"Ich wäre froh, wenn ich dir einige dieser Jahre abnehmen könnte, Mulder." Seine Augenbrauen ziehen sich in Traurigkeit zusammen, und er seufzt, "Aw, Scully, das weiß ich." Und dann rutscht er zu mir herüber und nimmt mich in die Arme. Er hält mich fest und zieht mich zu sich. Ich lege meinen Kopf an seine Brust und fühle sein Kinn auf meinem Kopf. Ich muss etwas darüber sagen, von Mulder umarmt zu werden. Er tut es wie kein anderer. Es gibt keinen anderen. Die Umarmungen meiner Mutter sind geradezu beängstigend in ihrer Intensität, und ich kann jedes Mal die Angst in ihr spüren. Mulder hält mich leicht, aber bestimmt. Und seine Umarmung hat etwas sehr Beruhigendes. Er baut mich wieder auf, macht mich wieder stark. Ich wünschte, ich hätte es darauf ankommen lassen und es schon vor Jahren herausgefunden.

Mulder hat mir eines Nachts mal etwas über Mauern des Bewusstseins und des Herzens erzählt, und warum wir sie aufstellen. Ich glaube, es war in derselben Nacht, in der er mich aus dem Krankenhaus in Allentown nach Hause gebracht hat. Er hat davon gesprochen, warum wir sie brauchen, und davon, wie sie uns beschützen. Und er hat mir gesagt, dass wenn einige dieser Mauern nicht mehr gebraucht würden, sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenfallen.

Ich denke in letzter Zeit oft an Mulder, wenn ich nachts in der dunklen Stille in meinem Bett liege. Und wenn ich ganz angestrengt lausche, kann ich hören wie diese Mauern zerfallen.

Als er weiter spricht, ist seine Stimme flüsternd und honig-warm. "Was sollen wir also machen, Scully?"

Ich drehe mein Gesicht, bis meine Nase genau unter dem Knoten seiner Krawatte in seinem Hemd vergraben ist. Er riecht so gut. Sein Herz schlägt gegen meine Wange.

Ich löse mich ein wenig und seine Arme geben mir den Freiraum. Mulder hält mich nie zu fest. Er lässt mir immer Bewegungsfreiheit. Manchmal nehme ich es mir richtig übel, dass ich den Platz ausnutze, den er mir gibt. Manchmal nehme ich es ihm übel, dass er ihn mir lässt.

"Ich möchte mein Leben leben, Mulder. Das ist alles. Ich möchte wieder normal sein und das tun, was andere Leute tun. Ich möchte etwas machen, dass mich vergessen lässt, und wenn es nur für eine kurze Zeit ist, dass dieses.... diese Dinge.... uns wie ein zweiter Schatten verfolgen. Ich möchte wieder glücklich sein."

Ich sehe auf und sehe ihn mit diesem verdammten Gesichtsausdruck auf mich herab blicken. Als ob er es nicht verdienen würde, dieselbe Luft wie ich zu atmen, und als ob er lediglich auf den verhängnisvollen Schlag wartet, von dem er weiß, dass er kommt. Dieser Ausdruck bricht mir das Herz.

Ich hebe meine Hand zu seiner Wange in der Hoffnung, den Schmerz und die Schuldgefühle, die ich darin sehe, von ihm nehmen zu können. Er schließt seine Augen und atmet zitternd aus. Ich nehme meine Hand wieder herunter und sehe fort. Seine Intensität macht mir nicht länger Angst, doch sie lässt mich immer noch stocken. Er würde mich völlig verschlingen, wenn ich es zulassen würde. Ich frage mich, warum ich es nicht tue.

Die Mauern zerfallen.

Ich kann seinen Blick auf mir fühlen, doch ich wage es nicht, ihn zu erwidern. "Was macht dich glücklich?" fragt er.

Ich lächele verschämt. "Ach, es ist albern."

"Unmöglich. Nichts, was du möchtest, könnte albern sein."

Ich muss ein wenig lachen. Ich setze mich auf und stütze meine Ellbogen auf meine Knie. Mulder legt seine Hand auf meinen Rücken und fängt an, in kleinen, gemächlichen Kreisen meine Wirbelsäule zu massieren.

"Ich möchte.... ich möchte Zuckerwatte essen und Karussell fahren. Ich möchte einen Garten pflanzen und zusehen wie er wächst. Ich möchte ihn pflegen und mit bloßen Händen in der Erde graben. Ich möchte ein Baby in meinen Armen halten und alten Menschen zuhören, wie sie Geschichten aus ihrem Leben erzählen. Ich möchte irgendetwas Langes und Gewagtes anziehen und in teure Nachtclubs gehen und die ganze Nacht zu langsamer Musik tanzen. Ich möchte atemberaubenden Sex haben. Nur ein einziges Mal möchte ich das Tuscheln und die Blicke hinter meinem Rücken ignorieren und allen sagen, sie können mich mal. Ich möchte ein festliches Abendessen mit bloßen Händen essen und Tonnen an Schokolade in mich hineinschlingen. Ich will die Leute zu fassen kriegen, die mir Monate meines Lebens gestohlen haben, und sie dazu zwingen, mir zu sagen, warum sie mir das angetan haben! Ich will mein Leben zurück. Ich will alles zurück, was sie mir genommen haben!"

Ich bin in Tränen aufgelöst. Still rollen sie mein Gesicht hinunter und brennen auf meinen Wangen. Es sind Tränen purer Wut.

Ich kann Mulder neben und leicht hinter mir spüren. Seine Bewegungslosigkeit motiviert weder meine Tränen, noch trocknet sie sie. Ich merke, wie schwer es mir fällt, mich gehen zu lassen und zu weinen. Ich weiß auch wie es Mulder trifft, es mit ansehen zu müssen. Seine Schuldgefühle und meine Tränen sind wie Säure für seine Seele, sie zerstören ihn genauso wie meine Krankheit mich vielleicht irgendwann zerstören wird.

Er beendet die sanfte Massage auf meinem Rücken, und als er seine Hand wegnimmt, vermisse ich augenblicklich ihre Wärme. Doch ich muss nicht lange warten—seine Hand streicht gleich darauf die feuchten Strähnen aus meinem Gesicht mit einer Berührung, die so leicht ist, als wäre sie gar nicht da.

"Es tut mir leid, Scully."

Seine Stimme bricht inmitten seiner Worte, und ich finde etwas Stärke in seiner Schwäche.

"Mir auch, Mulder. Mir auch."

Ich stehe auf, nehme die beiden leeren Weingläser vom Tisch und trage sie wieder zurück in die Küche, wo ich sie nachfülle. Der Wein ist blassrosa— und ich sehe plötzlich Melissas Gesicht vor mir, ihre geröteten Wangen. Ich muss mich auf den Rand des Küchentisches stützen, schließe meine Augen und konzentriere mich auf das Bild meiner Schwester in meinem Kopf, das mein Bewusstsein von ihr geschaffen hat. Ich muss daran denken wie sie gestorben ist und stelle mir die Frage, ob das nicht der bessere Weg wäre. Wie würdest du dich entscheiden, Dana Katherine? Die schnelle Kugel oder der langsame Verfall deines Körpers? War sich Melissa je bewusst, was mit ihr geschehen war, als sie im Krankenhaus um ihr Leben gekämpft hat? Sind auch ihr die Menschen, die sie liebte erschienen wie mir? Oder ist alles in einem einzigen Moment verschwunden? Bewusstsein, Gedanken, Gefühle?

"Nein", beginne ich, doch dann merke ich, dass diese geflüsterte Erklärung meine eigene ist. Ich werde mich nicht dem Tod beugen. Es gibt noch zu viel Leben in mir. Es schreit nach einem Versprechen, das ich gebe. Abermals. Es ist die ununterbrochene Schlacht, die ich mit mir selbst führe—zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Ich danke meinem Vater dafür, dass ich die nötige Entschlossenheit und Hartnäckigkeit von ihm erben konnte. Ich werde nicht aufgeben. Ich möchte noch so viel machen. Ich möchte Blumen und Zuckerwatte und Sonnenschein. Ich möchte kerzenbeleuchtete schummrige Räume und sanfte Musik und Wein. Ich will Antworten und Lösungen und Puzzles, die ich zusammensetzen kann. Ich will die Arme eines Mannes um mich spüren, seine bloße Haut an meiner, fühlen, wie seine Hände meinen Körper entflammen. Ich will, dass Mulder dieser Mann ist. Ich will in seinen Armen schlafen und erwachen. Ich möchte lachen, weinen, schreien, singen. Ich will Schmerz empfinden und Freude und alle Empfindungen dazwischen. Ich will mein Herz schlagen und meine Lungen atmen fühlen.

Ich will.

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