World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

Games

von Schnusi

Kapitel 1

17. Dezember 1983

Ich kann nicht genau sagen, woher das Blut kommt. Es sieht aus, als hätte es den schmalen, zierlichen Körper meiner Mutter von außen durchtränkt. Ganz langsam sickert es in den schmutziggrauen Schnee. Ich kann nichts denken und auch nichts tun, außer auf ihre verdrehten, gebrochenen Knochen zu starren. Mein Blick wandert nach oben zu dem Fenster, aus dem sie gesprungen ist. 4 Stockwerke. Es sieht noch nicht mal sehr hoch aus von hier unten. Sie hätte jetzt auch leben können.

Aber sie hat es geschafft. Wenn sie schon ihr Leben nicht gemeistert hat, dann wenigstens ihren Tod. Wie kann sie von mir erwarten, mit der Ermordung meines Vaters fertig zu werden, wenn nicht mal sie es schafft? Ist das ihre Botschaft? Entweder du bist stark genug, dich in dieser Hölle, die man Leben nennt durchzukämpfen, oder du bringst dich um. Wohl das Geschenk zu meinen 14. Geburtstag, an den sich keiner erinnert. (Wer auch?)

Ich müsste jetzt traurig sein, oder? Aber irgendwie sind mir die Gefühle abhanden gekommen. Es ist erst einen Monat her, seit ich miterlebt habe, wie mein Vater abgestochen wurde wie ein Schwein, doch es scheint mir als lägen riesige, leere Jahre dazwischen.

Das einzige was mich bewegt ist Ratlosigkeit. Wie soll ich meine Schwester und mich durchbringen?

Was erwartet Gott von mir? Alles was mein Leben ausgemacht hat, ist innerhalb von 2 Monaten weggeweht. Mein Heim, tot. Auf dem Basketballplatz, der früher meine zweite Heimat war, bin ich ohnehin nicht mehr oft. Die Sucht, zu spielen ist wie jedes andere Verlangen verblasst.





Scully schaute irritiert auf die zwei kleinen Häufchen auf ihrem Teller, die ihr heutiges Abendessen darstellen sollten. Das eine war wohl Kaviar und das andere... irgendwie undefinierbar. Sie konnte sich nicht daran erinnern, so etwas Seltsames bestellt zu haben. Unauffällig schielte sie zu Mulder hinüber, der rechts neben ihr saß. Sie waren heute morgen von Skinner damit überrascht worden, dass sie zu einem der berüchtigten Empfänge mitgehen durften, wo sich sonst nur die hohen Tiere einfanden. Sie hatte keine Ahnung welcher Teufel ihn geritten hatte, als er Mulder und sie herbestellte. Es war eigentlich bloß eine Frage der Zeit, bis Mulder sie in irgendeiner Weise blamierte. Im Moment saß er ebenso perplex wie sie vor seinem merkwürdigen Essen. Als er merkte wie sie herüberschaute, grinste er. Mit einem Nicken deutete er auf Diana Fowley, die ihnen unweit schräg gegenüber saß. Da sie hier anscheinend nicht das erste Mal war, hatte sie in kluger Voraussicht Spaghetti bestellt. Angewidert verzog Scully das Gesicht. Eine eigenartige Faszination ging davon aus, wie Diana Fowley mit einer Gabel einen Haufen Spaghetti aufspießte, ihn dann in ihren Mund verlud und die restlichen Nudeln hoch schlürfte. Bei jedem Soßenspritzer, die den beträchtlichen Zwischenraum zu ihren unschuldigen Tischnachbarn problemlos überwanden und sich auf deren Hemden verewigten, zuckte Scully, die den immer wiederkehrenden Ablauf gebannt mitverfolgte, zusammen.

Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel einen grünen Schatten rechts an sich vorbeisausen. Sekunden später zuckte auch Diana Fowley erschrocken zusammen. Verdutzt beobachtete Scully, wie sich Diana eine matschige Erbse von der Wange klaubte. In den Bruchteilen einer Sekunde, verarbeitete ihr Gehirn die Information. Blamage. Und das konnte nur zu einem führen. Mulder! Der hockte kichernd neben ihr auf seinem Stuhl mit Löffel und Erbse bewaffnet und feuerte ununterbrochen auf sein Ziel. Seufzend blickte Scully auf ihre Uhr. Sie waren schon seit einer viertel Stunde hier drin, und erst jetzt begannen Mulders erste Ausraster Gestalt anzunehmen. Am Rekord war dieser Abend leider schon vorbeigerauscht.

Mulder bemerkte Scullys missbilligenden Blick unverzüglich und entschuldigte sich grinsend: „Ich dachte wir müssten Sie irgendwie davon abhalten, sich zu lächerlich machen!“

Es war unmöglich es zu verhindern. Ein unwillkommenes Grinsen stahl sich in ihr Gesicht. Mulder traf den Nagel mit ‚sich lächerlich machen’ auf den Kopf... wenn es auch nicht Diana Fowley betraf. Bevor sie ein empörtes ‚Mulder!’ loswerden konnte, zog die nächste Erbse ihre Bahn über das Firmament. Scully riss ihre Augen auf, als sie bemerkte welche Richtung diese annahm. Hatte Mulder bis jetzt doch ausgezeichnete Arbeit bei seiner Koordination geleistet, wich die Erbse nun gefährlich weit von der Zielstrecke ab und landete schließlich mit einem unendlich lautem Klatschen auf Skinners Glatze.

Erstarrt blieben die Blicke der beiden Agenten auf Skinner haften. Das war das Aus, zischte es Scully durch den Kopf. Er würde sie vorladen, klein hacken und in Tüten nach Hause schicken. Schon wanderte Skinners Blick ärgerlich suchend über die Teller, nach dem Herkunftsort der Erbse spähend. Plötzlich rettete sie ein Krachen am anderen Ende des Tisches, denn es lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich. Ein Gast war mitsamt Stuhl umgekippt und hatte versucht, sich am Tischtuch festzuhalten. Neugierig warteten sie darauf, dass er sich verlegen erhob und sich entschuldigte. Doch nichts passierte. Die Leute scharrten sich langsam um den umgefallenen Stuhl. Irgendwas stimmte da nicht. Scully rannte zu der Menschentraube, die sich bereits um ihn gebildet hatte, und drängte sich durch. Ein schwarzer, großer Mann lag leblos auf dem Boden. Energisch ergriff sie die Initiative.

„Aus dem Weg. Ich bin Ärztin. Lassen Sie mich bitte durch.“





5. Januar 1988

Es ist kalt. Saukalt. Meine Schwester zittert am ganzen Körper. Ihre Lippen sind blau und ihre Zehen schwarz. Wie eine Blume ist sie dahin gewelkt. Die Vitalität, das zuckersüße Lächeln ist aus ihren fahlen Wangen verblasst. Doch ich kann nichts tun, um es zurückzuholen. Nicht mal ein bisschen heißes Wasser besorgen. Eben habe ich an einer Haustür geklingelt und danach gefragt. Der Mann hat mich angesehen. Langsam hat er meine zerfetzte Kleidung, die Löcher in meinen Schuhen gemustert, von oben bis unten. Angeekelt hat er die Nase gerümpft. Straßenkinder gehören nicht in seine sterile Welt. Fast hätte mir die zuschlagende Tür die Nase zertrümmert. Einen Moment hat es mich geschüttelt, bis der Mann durch ein Fenster geschrieen hat, dass ich die Beine in die Hand nehmen soll.

Ich habe Angst. Die brüchige Baracke in der wir wohnen lässt die Wärme durch ihre Ritzen hinwegtreiben. Aus dem Bahnhof haben sie uns verjagt. Ich weiß nicht was ich tun soll. Das Feuer das ich versucht habe anzuzünden, ist kaum größer als eine fackelnde Flamme, die so dünn ist, dass sie bei jedem Windstoß flackert, sich ganz klein duckt, um dann mühselig wieder zu ihrer zarten Größe zurückzufinden. Jedes Mal ein wenig spärlicher und dünner. Ich weiß, sie wird bald erlöschen.





Mit einer Tüte Popcorn schritt Mulder zu einem der vielen freien Plätze in der Halle. Die rosigen Zeiten dieser Mannschaft mussten schon Jahre her sein. Er fragte sich, warum sich ein wohlhabender und berühmter Spieler wie Paul Simpson mit einem derartig erfolglosen Team herumgeschlagen hatte. Wahrscheinlich war er einer der wenigen guten Spieler gewesen. Doch das war jetzt auch vorbei. Am Samstag hatte bei dem großen Empfang Paul Simpsons’ letztes Stündlein geschlagen. Mulder ließ sich auf einen der Sitze nieder. Das Spiel begann. Mit mäßiger Aufmerksamkeit verfolgte er das Geschehen. Eigentlich wusste er nicht genau was er hier wollte. Er hatte vorher selten von diesem Team gehört, das fast ausschließlich aus unbekannten Amateurspielern bestand. Der unerwartete Tod des Basketballspielers hatte ihn, wie so oft, auf eine unsichtbare Spur geleitet. Scully würde ihn 100%ig für verrückt erklären und das war er vermutlich auch, doch diese Verrücktheit schien das einzige zu sein, was ihm bei seiner Arbeit half, also war er ihr auch diesmal gefolgt.

Als er seinen Blick verloren über das spärliche Publikum schweife ließ, fiel ihm auf einmal ein kleines, in blauen, festen Stoff gebundenes Büchlein auf, das auf dem Sitz neben ihm lag. Verwundert betrachtete er es. Er konnte sich nicht erinnern, dass es dort vorher schon gelegen hatte. Es schien auch keinen Eigentümer zu haben, denn die Plätze weit um ihn waren alle unbesetzt. Etwas verdutzt schaute er sich um und nahm es dann an sich. Als er einen Blick hineinwarf, bemerkte er, dass es ein Tagebuch war. Mit einem Grinsen dachte er an Scully, die jetzt moralische Bedenken äußern würde (womöglich hatte sie auch so ein Ding) und begann ungerührt, darin zu lesen. Die erste Eintragung lag fast 10 Jahre zurück. Trotzdem war das Büchlein nicht ganz voll, denn der Verfasser hatte in unregelmäßigen Abständen manchmal mehrere Wochen vergehen lassen, ehe er wieder etwas eingetragen hatte. Ein kleiner Straßenjunge, verfolgt von seiner Leidenschaft Basketball zu spielen. Ein Kitschroman? Nein. Da steckte mehr dahinter. Der Text stürzte ihn vielmehr in eine bedrückende, schmutzige Stimmung.

Plötzlich tönte ein Schrei vom Spielfeld. Er sah auf und konnte beobachten, wie der Arzt mit sämtlichen Helfern zu einem am Boden liegenden Spieler eilte. Kaum angekommen gerieten sie in Panik. Da schien etwas nicht in Ordnung zu sein, denn der Arzt begann Wiederbelebungsversuche zu starten. Neugierig näherte Mulder sich dem am Boden liegenden, um den sich inzwischen eine Menschentraube versammelt hatte. Er ruhte leblos nahe der Bande. Ein weißer Basketballspieler. Aufgrund seiner Positionierung schloss Mulder, dass er wohl im rechten Mittelfeld gespielt hatte. Sein Gesicht war seltsam erstarrt. Es wirkte wie eingefroren, seine Augen hatten sich kurz vor seinem Tod stark geweitet. Soviel er aus dem medizinischen Kauderwelsch hervorsieben konnte, das der Arzt seinen Helfern zuwarf, hatte er so was ähnliches wie eine Herzattacke gehabt. All das kam ihm so verdammt bekannt vor. Zwei junge Basketballspieler... Herzattacken? Nachdenklich bahnte sich Mulder nun seinen Weg zum Ausgang. Wie er das sah, deutete das alles eindeutig auf eine neue X-Akte hin.





15. Februar 1988

Meine Schwester rührt sich nicht mehr. Irgendwann ist sie einfach nicht mehr aufgewacht. Jetzt liegt sie hier neben mir und ich traue mich nicht mehr sie zu berühren. Es muss mindestens –25° C sein. Meine Glieder sind schwer. Meine Finger schmerzen bei jedem Buchstaben. Nur das schwache Licht der Kerze gibt mir die Möglichkeit zu schreiben. Ich muss meine Augen anstrengen. Aber auch meine Konzentration lässt nach. Ich bin so müde. Die Kälte kriecht in mich und arbeitet sich ihren Weg zu meinem Herz vor. Jeden Moment droht mich eine verlockende, schützende Dunkelheit zu übermannen. Sie...

Der Eintrag endete mit einem langen, ausgerutschten Strich. Er zog sich über die ganze Seite und schien fast einen Schlussstrich unter dieses Leben zu ziehen. Doch als Mulder die Seite umblätterte, war auch sie wieder beschrieben, in der gleichen, runden Schrift. Er atmete auf. Das Buch, obgleich in der Verschwommenheit eines Traumes geschrieben, wirkte so unglaublich tatsächlich, dass es ihn in seinen wilden Strom mitgerissen hatte. Schon längst lag Mulder zu Hause auf seinem Sofa und hatte ungezählte Stunden die vielen Einträge verschlungen, so sehr war er in die dunkle Welt des jungen, namenlosen Basketballspielers eingetaucht. Er fragte sich, ob es wohl tatsächlich ein Spieler der Wizards war oder ob das ganze überhaupt authentisch war. Doch es schien echt zu sein. Die fahle Tinte war auf dem rauen Papier ausgeblichen und nur noch schwer zu lesen. Hatte das Buch dort für ihn gelegen? Wollte ihm jemand etwas mitteilen? Sofort versuchte er eine Verbindung zu den Todesfällen zu erstellen, doch so sehr er auch überlegte, er konnte keine entdecken.

Er sah auf seine Uhr. 2 Uhr und ihm fielen fast die Augen zu. Sein Entschluss stand bereits fest. Morgen würden er und Scully der Sache nachgehen.





Missmutig stieg Scully vom Fahrersitz und ging in gemäßigtem Tempo hinter Mulder her. Sie betraten den Vorraum einer Turnhalle, die ein kleines, bescheidenes Schild mit der Aufschrift „Wizards“ trug. Diese ganze Exkursion passte ihr überhaupt nicht. Sie hatte den leisen Verdacht, dass Mulder die Geschichte mit dem toten Basketballspieler, gestern nur erfunden hatte, um seine Kinderträume zu verwirklichen.

Als sie die Tür zur Halle öffneten, hörten sie schnelle Schritte, die auf sie zukamen. Langsam wurden diese Sicherheitskontrollen nervig. Auf dem kurzen Weg hierher hatten sie bereits zwei Leute angesprochen, was sie hier wollten. Anscheinend schlichen sich öfter Fans herein. Seufzend begann sie schon wieder, ihren Ausweis herauszukramen.

„Guten Tag. Tut mir leid, Sie zu stören“, sagte sie, während sie mit gebeugtem Kopf nach dem Ausweis suchte. „Ich bin Special Agent Dana Scully vom...“ Das letzte Wort blieb ihr im Hals stecken. Die Tatsache dass sie sich mit einem Bauchnabel unterhielt, irritierte sie ganz ungeheuerlich. Mit großen Augen ließ sie ihren Blick nach oben, zum Haupt des Hünen, der vor ihr in den Himmel ragte, wandern. Da stand ein gigantischer Berg von Mensch in einem noch gigantischeren gelben Trikot. Darüber konnte sie noch ganz klein, ein unverschämtes Grinsen, das sich über sein - soweit man das von hier unten sehen konnte - verdammt gutaussehendes Gesicht zog, erkennen.

Sie schluckte und versuchte sich wieder in ihre Gewalt zu bringen. Ein schief improvisiertes Lächeln kam über ihre Lippen. Von neuem setzte sie an: „Ich bin vom FBI. Mein Partner Agent Mulder und ich sind wegen ihrer beiden Kollegen hier, die innerhalb kurzer Zeit umgekommen sind.“

Der Hüne zog die Brauen hoch und sagte amüsiert: „Ich bin Barry Martin. Du kennst mich ja sicher. Was will denn das FBI mit den beiden Toten? Die sind doch ganz natürlich gestorben.“

„Ja, also um ehrlich zu sein...“ Hilflos versuchte sie ihre Verwirrung in den Griff zu bringen und drehte sich suchend nach Mulder aus. Doch der hatte sich längst aus dem Staub gemacht.

Barry tätschelte ihr grinsend den Kopf und führte sie zu einer Bank: „Ja, also wissen Sie... eigentlich ist es ja grad nicht so günstig, weil wir in zwei Tagen ein Spiel haben, das nicht nur für das Team sondern auch für manche Einzelspieler wegen der Talentsucher extrem wichtig ist.“ Er machte eine einladende Handbewegung, sich doch hinzusetzen. Endlich entdeckte Scully Mulder. Er hechelte ein ganzes Stück entfernt hinter einer seiner Gottheiten her und fühlte sich ganz offensichtlich pudelwohl. Entmutigt setzte sich Scully neben den Hünen. Während der sie ganz begeistert volllaberte, musste sie ständig auf seine Knie sehen, die ihre um mindestens das Doppelte überragten. Verzweifelt wünschte sie sich hier weg. Barry Martin machte keinen allzu großen Hehl daraus, dass er in ihr ein süßes, kleines Kind sah.





Scully trat die Tür nach draußen auf und stapfte hinaus. Mulder rannte ihr hinterher. „Warten Sie doch mal. Was haben Sie es denn auf einmal so eilig?“

Wütend sagte sie: „Mulder ich bewege mich kein zweites Mal über diese Schwelle. Während Sie mit ihren neuen ‚Freunden’ anscheinend ein wunderbares Spiel hatten, haben Sie es völlig mir überlassen, diesen Typen unser Auftauchen zu erklären, was dank ihrer so glaubwürdigen Theorien nicht gerade zu den leichtesten Dingen der Welt gehört. Danke für Ihre tatkräftige Unterstützung!“

„Ach, was haben Sie sich denn so? Das dürften Sie doch inzwischen gewohnt sein. War es denn so schlimm?“

„Mulder, diese Spieler..., ich weiß nicht, ich habe das unbestimmte Gefühl, dass die mich nicht für ganz voll nehmen.“ Sofort bereute sie ihre Worte, als Mulders Mund sich langsam zu einem breiten Grinsen ausbreitete.

„Sie haben ein Problem mit Ihrer Größe?“

„Nein!“

„Wissen Sie Scully, ich finde Sie müssen deswegen wirkliche keine Komplexe haben. Ich meine, ich mag kleine...“

„Ich habe keine Komplexe! Die sind diejenigen, die ein Problem mir ihrer Größe haben. Es ist nämlich ganz und gar nicht normal 2 Meter groß zu sein, oder?“, fiel sie ihm aufgebracht ins Wort.

Ungerührt redete er weiter. „Ja genau. Das ist die richtige Einstellung. Lassen Sie ihren Frust raus. Kleine Leute haben schließlich auch Rechte!“

„Mulder!“

Er machte die Tür auf der Fahrerseite auf und stieg ein. „Nein ganz im ernst Scully. Mir ging es ähnlich. Sehen Sie mich an. Ich bin doch fast genauso klein.“ Plötzlich registrierte er, dass er mit angezogenen Beinen im Auto saß. Der Sitz war noch nicht wieder von Scullys Hinfahrt zurückgestellt. Seine Knie waren halb unter dem Lenkrad eingeklemmt, was zu einer kunstvollen Verrenkung sämtlicher seiner Glieder führte. Vorsichtig schielte er zu Scully hinüber.

„Na ja..... und doch auch wieder gar nicht, was?“

Mit einem irren Ausdruck funkelte sie ihn an.

„Mulder, ich bin bewaffnet. Mein Tag war nicht gerade toll, wozu Sie ganz entscheidend beigetragen haben. Beim nächsten Spruch war’s das für Sie!“

Mulder grinste Sie breit an: „Ach Gottchen, Sie machen mir ja unheimlich Angst.“

Scully drehte sich um 90° und glotzte nun eingeschnappt aus dem Fenster.

Er ließ den Motor an und fuhr auf die leere Straße. Nach einer Minute des Schweigens, boxte er ihr versöhnlich auf die Schulter, was Scully dazu veranlasste demonstrativ von ihm wegzurücken. Das war ja wirklich zu entzückend, dachte sich Mulder und lachte in sich hinein. Bingo. Geile Reaktion. Keine zwei Sekunden später schnellte sein Zeigefinger wie von alleine hervor und tippte ihr provozierend auf die Schulter. Sie warf ihm einen grimmigen Blick zu und rückte so weit nach rechts, dass sie nur noch auf dem äußersten Eck ihres Sitzes saß.

Doch auch das regte Mulder nur zu weiteren Schandtaten an. In einem unbeobachteten Augenblick zwackte er ihr zart in die Hüfte. Erschrocken fuhr Scully auf und ihre Kinnlade klappte nach unten. Mit einem Ausdruck des Unglaubens sah sie ihn an. Das war zu viel. Ihre Hüfte war ihr Allerheiligstes. Unbefugte Berührungen dieser Art führten zwangsläufig zu Prügeleien. Und das setzte dann auch unmittelbar ein. Mit einer Kraft die Mulder ihr nie zugetraut hätte, schlug sie ihm mit geballten Fäusten in den Magen. Abwehrend versuchte er ihre Handgelenke festzuhalten, und gleichzeitig den Wagen zu stoppen. Denn inzwischen schlingerte der nur noch über die Fahrbahn.

„Scully. Beruhigen Sie sich. Ich bau gleich einen Unfall. Hören Sie doch auf. Tut mit leid.“

Doch Scully ließ nicht locker. Ihre ganze aufgestaute Wut entlud sich jetzt mit Karacho auf alle Körperteile von Mulder, die ihr erreichbar waren. Schließlich konnte Mulder dass Lenkrad nicht mehr halten. Unkontrolliert raste der Wagen auf einen Baum zu. Mulder begann zu schreien. „Scully!“ Im letzten Moment riss er sich und Scully, die er ohnehin schon halb im Schwitzkasten hielt, zu Boden. Mit lautem Gedonner verwandelte sich die Motorhaube in einen Schrotthaufen. Die Windschutzscheibe zersplitterte in Tausend Stücke und hätte die beiden wohl zu Tode gestochen, hätten sie nicht auf dem Boden gekauert. Dann war es erst mal sehr lange sehr, sehr still, bis Scully auf die Idee kam, sich wieder aufzurichten. Ihr verwurschtelter, roter Haarschopf tauchte langsam hinter dem Armaturenbrett auf. Kurz darauf folgte Mulder, der noch mit dem Airbag zu kämpfen hatte und mit einer Frisur, die sowieso nie eine gewesen war. Etwas bedröppelt starrten sie in das Grün, das die Windschutzscheibe durchstoßen hatte und sich nun vor ihnen rankte. Nach einer Weile ließ Scully ein verblüfftes „Oh“ verlauten, während Mulder sich nur nachdenklich hinter dem Ohr kratzte. Nach einer Weile wandte er sich mit einer schwulen Nuance in seiner Stimme zu ihr: „Haben Sie auch Komplexe wegen ihrer Hüfte, Scully? Damit hab ich auch immer Probleme.“

Diesmal wäre Mulder fast endgültig das Licht ausgegangen, als Scullys Faust auf seine Schläfe sauste.





23. August 1988

Ein Schatten ist über mich gefallen. Die Kälte fließt durch meine Adern und nicht mal die warme Augustsonne vermag meine Haut, einer Festung gleich, zu durchdringen. Ich hasse das Dunkel in mir, weil es mir meinen Willen nimmt. Umso länger es in mir lebt, desto mehr scheint es Besitz von mir zu ergreifen. Doch auf die gleiche, leidenschaftslose Art liebe ich es. Es entfesselt Kräfte, die ich nicht in mir vermutet habe. Ich erinnere mich an das, was ich mir an jenem schicksalhaften Tag im Dezember versprochen habe. Ich werde kämpfen, um mich treten, mich wehren, bis ich oben bin, ganz oben. Jetzt wo meine, kleine, süße Schwester sowieso weg ist, kann ich mich selbst quälen, aufgeben und vorwärts treiben wie es mir passt.

Ich habe wieder angefangen, Basketball zu spielen. Es verschafft mir ein neues, geheimnisvolles Vergnügen, die Kraft in meinem Körper, die nicht mein ist, zu verschwenden und aus meinem Körper zu treiben. Nach dem ich gerannt bin, bis ich kaum noch atmen kann, sich auf meiner Stirn ein dünnes Rinnsal gebildet hat und der Ball seinen Weg in den Korb gefunden hat, spüre ich, wie ein wenig von dem Licht, das in den Augen der Menschen um mich leuchtet auch in mich zurückströmt. Doch ehe ich nach dem fast vergessenen Glück horche, ist es auch schon wieder verschwunden, wie ein Lied, das so schön ist, das ich sein Gefühl schon Sekunden nach dem Abspielen nicht mehr erfassen kann. Dann kommt die Kälte zurück, lähmt meine Gefühle und Gedanken und erinnert mich einzig an den elementaren Willen zu überleben.
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