Epilog
In dem Zimmer war es dämmrig. Die Jalousien am Fenster ließen nur wenig Licht herein,
obwohl draußen heller Tag war.
Ein mechanisches Zischen, das sich in immer gleichem Rhythmus wiederholte, erfüllte die
antiseptisch riechende Luft. Dann noch das leise Piepen des Herz-Monitors.
Die junge Frau saß unbeweglich auf dem Stuhl. Ihre linke Hand lag leicht auf ihrem
hochschwanger gerundeten Bauch, ab und zu fuhr sie streichelnd über ihn hinweg. Ihre rechte
Hand umklammerte die des Mannes, der in dem Bett lag. Blass, unbeweglich. Seine Brust hob
und senkte sich zeitgleich mit dem Zischen der Herz-Lungen-Maschine.
Sein Gesicht war gezeichnet von Folter und Qualen, die er erlitten haben mußte. Er lag da wie
ein Toter.
Die Augen der jungen Frau starrten ins Leere. In ihrem Blick stand so viel Schmerz und
Hoffnungslosigkeit, dass sie älter erschien als sie war. Langsam löste sich eine Träne und
kullerte über ihre Wange.
Wieder strich sie über ihren Bauch als hielte sie Zwiespache mit ihrem ungeborenen Kind.
Vielleicht tat sie es?
Jeder der sie sah, konnte nur erahnen, was in ihrem Inneren vor sich ging.
Dana
Wann hatte es eigentlich genau begonnen? Ich wußte es nicht mehr. Losgelöst von Zeit und
Raum saß ich hier, hier neben dem Mann der mir alles bedeutete und der mir nun entglitt. Trotz
der Wärme seiner Hand, dem Atem, der künstlich unterstützt wurde wußte ich, Mulder war tot.
Natürlich wollte mein Verstand es nicht glauben. Schon garnicht, nachdem er nach drei
Monaten exhumiert worden war und tatsächlich noch Lebenszeichen aufwies.
Dennoch. Dieses Gefühl, daß Mulder weit weg war, nicht hier bei mir, obwohl ich ihn spürte
und sah breitete sich in meinem Inneren aus wie Krebs.
Zart bewegte sich mein Baby, dieses Wunder, von dem er nun niemals etwas erfahren würde.
Das tat am meisten weh.
Ich erinnerte mich noch so gut an unsere letzte Zusammenkunft. Diese Nähe, stärker den je,
diese Einigkeit, diese Zärtlichkeit.
Ich sah auf den Körper im Bett. Seine Wangen und Augen waren eingesunken. Kein bisschen
Leben in diesem Gesicht. Gleichmäßig pochte jedoch die Schlagader an seinem Hals, die ich so
gerne mit meinen Lippen berührt hatte. Oft hatte ich diese Stelle geküsst und dabei seinen Duft
eingesogen, der mir so vertraut war.
Ich beugte mich leicht vor und fuhr ihm mit der Hand über den Bauch. Sein Körper zitterte
leicht als die Maschine seine Lungen mit Luft vollpumpte und sie zischend wieder entließ.
Wann hatte es angefangen, dieses Gefühl, das mehr war als Freundschaft, mehr als Respekt
füreinander, mehr als Partnerschaft? Vielleicht schon am allerersten Abend in diesem Motel? Ein
unglaublich junger, zorniger Mann und eine unerfahrene aber skeptische Frau?
Als ich das erste Mal diesen Blick gesehen hatte, der um Verständnis und Geduld flehte, ihn
doch anzuhören, so verrückt es auch war? Dieser Blick aus grün-braunen Augen, dem ich so
selten widerstehen konnte?
Oder war es als er plötzlich verletzt reagierte, wenn ich ihn für unglaubwürdig hielt?
Oder als er mich das erste Mal in den Armen hielt, hilflos versuchte mich zu trösten?
Es gab endlos viele Momente, ich konnte sie nichtmehr zählen. Es waren Momente, von denen
ich keinen einzigen missen wollte.
Bei dem Gedanken, wieviel Zeit ich in all den Jahren damit verschwendet hatte, ihn zu
widerlegen anstatt ihm immer beizustehen, brannten Tränen in meinen Augen. Wieder bewegte
sich das Kind. Die Träne kullerte über meine Wange, aber ich wischte sie nicht weg. Zu viele
Tränen hatten sich ihren Weg gebahnt, unglaublich, dass noch immer welche da waren.
Fox, ich liebe dich. Ich wollte es laut aussprechen, brachte es aber nicht über die Lippen. Noch
immer nicht.
Was war es, was mich abhielt? Mulders Inneres war so oft abgeschottet von der Außenwelt,
auch vor mir. Ganz ganz hinten in meinem Kopf gab es noch diese eiskalte Angst. Diese Angst,
dass er meine Gefühle vielleicht doch nicht erwiederte.
Er hatte mir schon viele Dinge gesagt. Dass er mich brauchte, in mir seinen Halt sah. Nie mehr
aber auch nie weniger. War das genug? Was er schon für mich getan hatte, war dies der Beweis
von Liebe?
Oder war es nur Furcht auf seiner Suche ganz alleine zu sein? Oder Gewohnheit?
Es gab mehr Fragen als Antworten, schon immer.
Ich wusste nur eines: dieses Kind, das in meinem Körper wuchs, hatten wir gezeugt. Er und
ich.
Egal wie, auf welche Weise es nun entstanden war, künstlich im Reagenzglas, oder doch
natürlich in dieser Nacht, dieser einen Nacht an die ich immer wieder dachte, es war unser
Kind.
Wieder glitt mein Blick über seinen Kšrper. Ich streichelte seine Hand, fühlte seinen Puls, alles
schien normal und doch war es das nicht.
Warum hatte Mulder mit mir geschlafen? Ich wusste es nicht. Ich erinnere mich an seinen
vertrauten Geruch. Der langsame, kräftige Herzschlag, den ich hörte als ich meinen Kopf auf
seine Brust legte. Seine langen Finger, die mir behutsam das Haar zur seite strichen, damit er
meinen Hals küssen konnte.
Wir sagten nichts. Fühlten nur. Waren uns ohne Worte näher wie nie. Heimlich wünschte ich
mir oft, dass das Kind in dieser Nacht entstanden war und vielleicht war es das auch. Eine
andere Möglichkeit gab es kaum.
Mir waren so viele unwahrscheinliche Dinge widerfahren, warum also nicht auch dies? Eine
wissenschaftliche Unmöglichkeit war möglich geworden?
Ich hatte mich niemals einer genauen Untersuchung unterzogen um festzustellen, ob auch
wirklich alle meine Eizellen entfernt worden waren. Ich wollte diese Tatsache nicht schwarz auf
weiss vor mir sehen um mir selbst noch ein Fünkchen Hoffnung zu lassen. Zu beten und zu
glauben.
Es gab Wunder. Meine tödliche Krankheit war verschwunden. Ich war schwanger geworden
entgegen jeder Prognose. Konnte ich nun auch Mulder zurückholen? Mit meinem Glauben?
Mein Bauch zeigte eine kleine Beule, als mein Baby sein Beinchen bewegte. Ich war sicher, es
würde ein Junge werden.
Ein Sohn für Mulder und mich. Ein Kind, das unser Band stärken und unserem Tun einen Sinn
geben würde. Ich war mir so sicher darüber und nur darum hatte ich diese Schwangerschaft
durchgestanden und weitergekämpft.
Jetzt aber saß ich hier. Und mein Weg schien hier zu enden. Wofür noch kämpfen? Ich hatte
schon um Mulder getrauert und jetzt lag er hier. Sollte ich ihn in einen Glassarg legen und bis
an mein Ende um ihn weinen?
Dies war grausamer als an seinem Grab zu stehen. Dieser Mann, der niemals aufgab, eine
solche Energie zu haben schien, immer weitergesucht hatte entgegen jedem Widerstand war nur
mehr eine schwache Hülle.
Wie sollte ich das bloß aushalten? Was würde geschehen, wenn ich die Maschinen ausschalten
würde?
Gedankenverloren strichen meine Finger über die Häärchen auf seinem Arm. Reflexartig bildete
sich bei ihm eine Gänsehaut.
"Oh Gott, Mulder!", rief ich plötzlich aus und ein Sturzbach an Tränen begann über mein
Gesicht zu fließen. Der Schmerz, der mich innerlich zerfraß wollte hinaus, hinaus aus mir, doch
bildete er sich immer wieder neu, egal, wie lange ich weinte.
Ich legte meinen Kopf auf seinen Bauch und schluchzte haltlos.
Mulder,
warum tust du das? Warum hast du mich in dein Leben hineingezogen und mir mein eigenes
genommen? Ich kann nichtmehr zurück, ich habe alles verloren, dich, mich selbst, alles woran
ich geglaubt habe!
Hört dieser Schmerz jemals auf oder wird er nur immer noch stärker, wenn man meint jetzt ist
dies nichmehr möglich?
Ich war eine gesunde junge Frau und hatte eine Karriere vor mir. Was bin ich jetzt? Verloren,
alleine, verzweifelt.
Ich trage unser Kind, Mulder! Es ist ein Wunder, das wir geschaffen haben und du wirst es
niemals sehen können.
Warum stirbst du nicht einfach? Kommst zurück nach langen Monaten, liegst vor mir, zu Tode
gequält, mit einem zerstörten Körper.
Und jetzt bist du noch immer hier. Weißt du nicht, dass dies alles nur noch schlimmer macht?
Ich kann das nicht alleine, Mulder, nicht mehr.
Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich könnte es. Aber die ist vorbei. Ich kann vielleicht weiterleben,
unser Kind großziehen, aber ich werde eine leere Hülle sein, so wie du jetzt.
Du dachtest immer, ich sei so stark. Nun, vielleicht bin ich das auch, aber meine Kraft lässt
nach. Und ich glaube nicht, dass sie für zwei ausreicht.
Ich kann nicht zurück in ein normales, bürgerliches Leben. Das hast du mir genommen! Ich
habe alles aufgegeben, für dich, für die Wahrheit, die du suchtest.
Kannst du sie jetzt sehen? Ich trage sie in mir.
Wach auf, steh auf und kämpfe weiter! Zusammen mit mir.
Siehst du meine Tränen, Mulder? Siehst du, wie ich leide? Nein, du hast das nie gesehen. Du
dachtest immer, ich könnte das alles schaffen, ohne eine starke Schulter, an die ich mich
anlehnen kann. Du hast dich aber getäuscht. Bei all der Stärke bin ich eine Frau, eine Frau mit
Gefühlen und diese Gefühle gelten dir.
Sie gelten dir, aber ich ich kann nicht leben, ohne dass sie erwiedert werden.
Ist das nun das Ende des Weges, Mulder? Endlich glaube ich. Ich glaube, was du glaubst. Ich
glaube und du lässt mich damit alleine. Das ist es was am meisten wehtut.
Ich war nie bereit, deinen Kreuzzug weiterzuführen. Doch jetzt tue ich es. Wegen unseres
Kindes. Wegen dir.
Wegen der Zweifler gegen die ich mich wehren muss.
Dennoch frage ich mich jetzt: wäre es nicht besser gewesen, dich im Grab zu lassen? Jetzt muss
ich noch einmal Abschied nehmen. Und ich weiss nicht, ob ich das kann.
Meine Kraft lässt nach, Mulder. Was ist mit deiner?
Dana
Ich glaube, ich war eingeschlafen, ein Piepsen weckte mich. Es war aber nur der Herz-Monitor,
ich hatte im Schlaf eine Sonde von Mulders Brust abgestreift und das Gerät schlug Alarm.
Langsam stand ich auf, zog sein Hemd ein Stück nach unten um ihm den Fühler wieder
anzukleben. Meine Hand lag noch eine Weile auf seiner Brust, hob und senkte sich mit ihr
mechanisch.
Langsam beugte ich mich vor und legte sachte meine Lippen auf seinen Hals, dort, wo die
Schlagader pochte.
Tief atmete ich ein. Wie nur, wie konnte ich ihn zurückholen? Gab es Hoffnung? Ich wusste, die
Ärzte hatten keine. Der Tod war in ihm, sein EEG bewegte sich nicht.
Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass sein Hemd nass war von meinen Tränen.
Ich nahm seine Hand und legte sie mir auf den Bauch. Das Kind reagierte auf die Berührung
und bewegte sich unerwartet heftig.
"Das ist dein Vater, mein Kleiner. Hoffentich wirst du einmal so stark wie er!"
Ich hätte gerne Mulders Mund geküsst, doch der dickte Beatmungsschlauch ragte heraus, seine
Lippen waren rissig und trocken. Ich zog ein Tuch heraus und machte es am Waschbecken
feucht. Dann benetzte ich damit vorsichtig seine Lippen.
"Das ist mein Kuss für dich. Spürst du ihn?"
Ich streichelte sein Haar. Ich weiß nichtmehr, was ich ihm alles erzählte. Die Zeit schien
stillzustehen.
Mulder,
wenn du jetzt aufwachtest, was würde ich tun? Ich würde dich in meine Arme nehmen, küssen,
sagen, dass ich dich liebe, dich nie mehr loslassen. Nie mehr.
Was würdest du tun? Lächeln? Mich einfach festhalten? Sagen, dass du mich auch liebst? Wie
kann ich es je erfahren!
Mulder, du würdest es nie glauben, aber ich habe einen neuen Partner bekommen. Einen Mann,
der Skeptiker ist. Er glaubt nicht und hat doch die X-Akten. Er denkt, dass er mich beschützen
muss. Er ist ein guter Mensch, aber er hat seinen eigenen Schmerz und er kann mir nicht
wirklich helfen.
Ich brauche dich an meiner Seite! Das wollte und will er nicht verstehen. Er wollte dich im Sarg
lassen. Wahrscheinlich der vernünftigere Weg. Für dich und für mich.
Denn dich jetzt hier so zu sehen, ohne Hoffnung, lässt mich niemals zur Ruhe kommen.
Er steht vor der Tür. Ich weiss es. Er möchte, dass ich loslasse. Er möchte nicht, dass ich hier
sitze, bei dir. Er möchte, dass ich nach vorne blicke.
Kann er nicht sehen, dass dies niemals möglich ist? Er kennt die X-Akten, aber er kennt nicht
mich. Er weiss nichts von uns. Darum wird er es auch nie verstehen. Er wird nie verstehen, dass
ich hier sitzen werde, bis du keinen Atem mehr hast, keine Wärme. So lange ich deinen Körper
lebend spüre, werde ich hier sein und jede einzelne Sekunde in mir aufnehmen.
Spürst du unseren Sohn, Mulder? Er reagiert auf dich. Er möchte dir etwas sagen. Er möchte,
dass du für ihn da bist. Und für mich.
Zusammen können wir so stark sein! Wir können alles schaffen. Vielleicht sogar die Welt
retten, oder nicht?
Es gibt so viel unausgesprochenes zwischen uns, das ich aussprechen will. So viele Dinge, die
wir nie getan haben, die ich tun will. Wir selbst standen uns immer im Weg, obwohl wir schon
lange wußten, dass wir zusammengehören.
Ich weiss, was die Leute reden. Das Flüstern, die Gerüchte, ich kann sie hören.
Ich habe nicht einmal meine Mutter eingeweiht über dich und mich. Aber ich weiss, dass sie es
ahnt. Sie fragt nicht, und dafür liebe ich sie so sehr. Auch Skinner weiss es. Ich sehe es in
seinem Blick. Er hat dich für mich ausgegraben. Er hat dich mir wiedergebracht. Dennoch ist
nun alles viel schlimmer.
Ich weiss auch, dass unser Sohn in Gefahr ist. Und du. Wenn ich eine Wahl treffen müsste, wie
würde ich entscheiden? Mein Gott, lass mich nie eine Entscheidung treffen! Würde ich dich
opfern für ihn? Für ihn, den ich mir wie nichts anderes ersehnt hatte?
Oder würde ich ihn opfern für dich? Mulder, ich weiss esnicht einmal sicher, ob du dieses Opfer würdigen würdest.
Vielleicht würe ich dich wiederhaben, aber wärst du derselbe? Würdest du zu mir stehen,
bedingungslos? Würdest du mich lieben, meine Entscheidung akzeptieren?
Würde ich das Opfer bringen, woher wüsste ich sicher, dass es dich auch wirklich rettet?
Deine Haut ist so grau, so tot, obwohl sie warm ist. Bist du nicht eine am Leben gehaltene
Leiche? Oder lebst du wirklich noch?
Niemals könnte ich diese Entscheidung treffen. Wenn Skinner sie für mich trifft, kenne ich sie.
Er würde dich opfern. Auch er weiss, dass du tot bist, alles nur künstlich verlängert wurde. Er
hat dich nur für mich zurückgeholt aus dem Grab.
Dana
Ich schreckte hoch, als die Tür sich öffnete. Doggett kam herein, seine Augen blickten traurig
und voller Mitleid. "Warum tun sich sich das an?", fragte er leise. Ich wandte mich nur ab und
küsste Mulders Hand.
Eine Weile stand Doggett stumm neben mir, dann sagte er: "Wie lange wollen sie hier warten?
Wäre es nicht besser, die Maschinen abzustellen?"
Ich fuhr hoch. "Wie können sie nur so etwas sagen!" Er seufzte. "Dana, das ist doch kein
Leben. Sehen sie ihn sich an!"
Ich sah ihn an. Und ich sagte nichts. Ich legte nur wieder meinen Kopf auf seinen Bauch und
schwieg.
Ich hörte, wie Doggett leise da Zimmer verließ. Er war kein Mann, der jemanden verurteilte.
Schon garnicht mich.
Ich wusste nur eines: So lange Mulder atmete, würde ich hier verharren. So konnte ich meinem
Kind wenigstens einige Stunden mit seinem Vater schenken. Es spürte seine Nähe, das wusste
ich. Es würde sich erinnern, so wie ich diese Stunden in mir aufnahm so sehr ich konnte.
Während ich Mulders Herzschlag lauschte hatte ich das Gefühl, er wusste dass ich da war. Tief
in seinem Inneren wusste er es.
Ich dachte an die Träume, die mich verfolgt hatten, Visionen von ihm, gequält und gefoltert. Ich
wusste, er hatte an mich gedacht und das hatte ihm Kraft gegeben.
Vielleicht würde meine und die meines Kindes ausreichen, um ihn zurückzubringen. Und das
war es, was mich aufrecht hielt. Das war es, was mich weiter hoffen ließ.
In dem Zimmer war es dämmrig. Die Jalousien am Fenster ließen nur wenig Licht herein,
obwohl draußen heller Tag war.
Ein mechanisches Zischen, das sich in immer gleichem Rhythmus wiederholte, erfüllte die
antiseptisch riechende Luft. Dann noch das leise Piepen des Herz-Monitors.
Die junge Frau saß unbeweglich auf dem Stuhl. Ihre linke Hand lag leicht auf ihrem
hochschwanger gerundeten Bauch, ab und zu fuhr sie streichelnd über ihn hinweg. Ihre rechte
Hand umklammerte die des Mannes, der in dem Bett lag. Blass, unbeweglich. Seine Brust hob
und senkte sich zeitgleich mit dem Zischen der Herz-Lungen-Maschine.
Sein Gesicht war gezeichnet von Folter und Qualen, die er erlitten haben mußte. Er lag da wie
ein Toter.
Die Augen der jungen Frau starrten ins Leere. In ihrem Blick stand so viel Schmerz und
Hoffnungslosigkeit, dass sie älter erschien als sie war. Langsam löste sich eine Träne und
kullerte über ihre Wange.
Wieder strich sie über ihren Bauch als hielte sie Zwiespache mit ihrem ungeborenen Kind.
Vielleicht tat sie es?
Jeder der sie sah, konnte nur erahnen, was in ihrem Inneren vor sich ging.
Dana
Wann hatte es eigentlich genau begonnen? Ich wußte es nicht mehr. Losgelöst von Zeit und
Raum saß ich hier, hier neben dem Mann der mir alles bedeutete und der mir nun entglitt. Trotz
der Wärme seiner Hand, dem Atem, der künstlich unterstützt wurde wußte ich, Mulder war tot.
Natürlich wollte mein Verstand es nicht glauben. Schon garnicht, nachdem er nach drei
Monaten exhumiert worden war und tatsächlich noch Lebenszeichen aufwies.
Dennoch. Dieses Gefühl, daß Mulder weit weg war, nicht hier bei mir, obwohl ich ihn spürte
und sah breitete sich in meinem Inneren aus wie Krebs.
Zart bewegte sich mein Baby, dieses Wunder, von dem er nun niemals etwas erfahren würde.
Das tat am meisten weh.
Ich erinnerte mich noch so gut an unsere letzte Zusammenkunft. Diese Nähe, stärker den je,
diese Einigkeit, diese Zärtlichkeit.
Ich sah auf den Körper im Bett. Seine Wangen und Augen waren eingesunken. Kein bisschen
Leben in diesem Gesicht. Gleichmäßig pochte jedoch die Schlagader an seinem Hals, die ich so
gerne mit meinen Lippen berührt hatte. Oft hatte ich diese Stelle geküsst und dabei seinen Duft
eingesogen, der mir so vertraut war.
Ich beugte mich leicht vor und fuhr ihm mit der Hand über den Bauch. Sein Körper zitterte
leicht als die Maschine seine Lungen mit Luft vollpumpte und sie zischend wieder entließ.
Wann hatte es angefangen, dieses Gefühl, das mehr war als Freundschaft, mehr als Respekt
füreinander, mehr als Partnerschaft? Vielleicht schon am allerersten Abend in diesem Motel? Ein
unglaublich junger, zorniger Mann und eine unerfahrene aber skeptische Frau?
Als ich das erste Mal diesen Blick gesehen hatte, der um Verständnis und Geduld flehte, ihn
doch anzuhören, so verrückt es auch war? Dieser Blick aus grün-braunen Augen, dem ich so
selten widerstehen konnte?
Oder war es als er plötzlich verletzt reagierte, wenn ich ihn für unglaubwürdig hielt?
Oder als er mich das erste Mal in den Armen hielt, hilflos versuchte mich zu trösten?
Es gab endlos viele Momente, ich konnte sie nichtmehr zählen. Es waren Momente, von denen
ich keinen einzigen missen wollte.
Bei dem Gedanken, wieviel Zeit ich in all den Jahren damit verschwendet hatte, ihn zu
widerlegen anstatt ihm immer beizustehen, brannten Tränen in meinen Augen. Wieder bewegte
sich das Kind. Die Träne kullerte über meine Wange, aber ich wischte sie nicht weg. Zu viele
Tränen hatten sich ihren Weg gebahnt, unglaublich, dass noch immer welche da waren.
Fox, ich liebe dich. Ich wollte es laut aussprechen, brachte es aber nicht über die Lippen. Noch
immer nicht.
Was war es, was mich abhielt? Mulders Inneres war so oft abgeschottet von der Außenwelt,
auch vor mir. Ganz ganz hinten in meinem Kopf gab es noch diese eiskalte Angst. Diese Angst,
dass er meine Gefühle vielleicht doch nicht erwiederte.
Er hatte mir schon viele Dinge gesagt. Dass er mich brauchte, in mir seinen Halt sah. Nie mehr
aber auch nie weniger. War das genug? Was er schon für mich getan hatte, war dies der Beweis
von Liebe?
Oder war es nur Furcht auf seiner Suche ganz alleine zu sein? Oder Gewohnheit?
Es gab mehr Fragen als Antworten, schon immer.
Ich wusste nur eines: dieses Kind, das in meinem Körper wuchs, hatten wir gezeugt. Er und
ich.
Egal wie, auf welche Weise es nun entstanden war, künstlich im Reagenzglas, oder doch
natürlich in dieser Nacht, dieser einen Nacht an die ich immer wieder dachte, es war unser
Kind.
Wieder glitt mein Blick über seinen Kšrper. Ich streichelte seine Hand, fühlte seinen Puls, alles
schien normal und doch war es das nicht.
Warum hatte Mulder mit mir geschlafen? Ich wusste es nicht. Ich erinnere mich an seinen
vertrauten Geruch. Der langsame, kräftige Herzschlag, den ich hörte als ich meinen Kopf auf
seine Brust legte. Seine langen Finger, die mir behutsam das Haar zur seite strichen, damit er
meinen Hals küssen konnte.
Wir sagten nichts. Fühlten nur. Waren uns ohne Worte näher wie nie. Heimlich wünschte ich
mir oft, dass das Kind in dieser Nacht entstanden war und vielleicht war es das auch. Eine
andere Möglichkeit gab es kaum.
Mir waren so viele unwahrscheinliche Dinge widerfahren, warum also nicht auch dies? Eine
wissenschaftliche Unmöglichkeit war möglich geworden?
Ich hatte mich niemals einer genauen Untersuchung unterzogen um festzustellen, ob auch
wirklich alle meine Eizellen entfernt worden waren. Ich wollte diese Tatsache nicht schwarz auf
weiss vor mir sehen um mir selbst noch ein Fünkchen Hoffnung zu lassen. Zu beten und zu
glauben.
Es gab Wunder. Meine tödliche Krankheit war verschwunden. Ich war schwanger geworden
entgegen jeder Prognose. Konnte ich nun auch Mulder zurückholen? Mit meinem Glauben?
Mein Bauch zeigte eine kleine Beule, als mein Baby sein Beinchen bewegte. Ich war sicher, es
würde ein Junge werden.
Ein Sohn für Mulder und mich. Ein Kind, das unser Band stärken und unserem Tun einen Sinn
geben würde. Ich war mir so sicher darüber und nur darum hatte ich diese Schwangerschaft
durchgestanden und weitergekämpft.
Jetzt aber saß ich hier. Und mein Weg schien hier zu enden. Wofür noch kämpfen? Ich hatte
schon um Mulder getrauert und jetzt lag er hier. Sollte ich ihn in einen Glassarg legen und bis
an mein Ende um ihn weinen?
Dies war grausamer als an seinem Grab zu stehen. Dieser Mann, der niemals aufgab, eine
solche Energie zu haben schien, immer weitergesucht hatte entgegen jedem Widerstand war nur
mehr eine schwache Hülle.
Wie sollte ich das bloß aushalten? Was würde geschehen, wenn ich die Maschinen ausschalten
würde?
Gedankenverloren strichen meine Finger über die Häärchen auf seinem Arm. Reflexartig bildete
sich bei ihm eine Gänsehaut.
"Oh Gott, Mulder!", rief ich plötzlich aus und ein Sturzbach an Tränen begann über mein
Gesicht zu fließen. Der Schmerz, der mich innerlich zerfraß wollte hinaus, hinaus aus mir, doch
bildete er sich immer wieder neu, egal, wie lange ich weinte.
Ich legte meinen Kopf auf seinen Bauch und schluchzte haltlos.
Mulder,
warum tust du das? Warum hast du mich in dein Leben hineingezogen und mir mein eigenes
genommen? Ich kann nichtmehr zurück, ich habe alles verloren, dich, mich selbst, alles woran
ich geglaubt habe!
Hört dieser Schmerz jemals auf oder wird er nur immer noch stärker, wenn man meint jetzt ist
dies nichmehr möglich?
Ich war eine gesunde junge Frau und hatte eine Karriere vor mir. Was bin ich jetzt? Verloren,
alleine, verzweifelt.
Ich trage unser Kind, Mulder! Es ist ein Wunder, das wir geschaffen haben und du wirst es
niemals sehen können.
Warum stirbst du nicht einfach? Kommst zurück nach langen Monaten, liegst vor mir, zu Tode
gequält, mit einem zerstörten Körper.
Und jetzt bist du noch immer hier. Weißt du nicht, dass dies alles nur noch schlimmer macht?
Ich kann das nicht alleine, Mulder, nicht mehr.
Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich könnte es. Aber die ist vorbei. Ich kann vielleicht weiterleben,
unser Kind großziehen, aber ich werde eine leere Hülle sein, so wie du jetzt.
Du dachtest immer, ich sei so stark. Nun, vielleicht bin ich das auch, aber meine Kraft lässt
nach. Und ich glaube nicht, dass sie für zwei ausreicht.
Ich kann nicht zurück in ein normales, bürgerliches Leben. Das hast du mir genommen! Ich
habe alles aufgegeben, für dich, für die Wahrheit, die du suchtest.
Kannst du sie jetzt sehen? Ich trage sie in mir.
Wach auf, steh auf und kämpfe weiter! Zusammen mit mir.
Siehst du meine Tränen, Mulder? Siehst du, wie ich leide? Nein, du hast das nie gesehen. Du
dachtest immer, ich könnte das alles schaffen, ohne eine starke Schulter, an die ich mich
anlehnen kann. Du hast dich aber getäuscht. Bei all der Stärke bin ich eine Frau, eine Frau mit
Gefühlen und diese Gefühle gelten dir.
Sie gelten dir, aber ich ich kann nicht leben, ohne dass sie erwiedert werden.
Ist das nun das Ende des Weges, Mulder? Endlich glaube ich. Ich glaube, was du glaubst. Ich
glaube und du lässt mich damit alleine. Das ist es was am meisten wehtut.
Ich war nie bereit, deinen Kreuzzug weiterzuführen. Doch jetzt tue ich es. Wegen unseres
Kindes. Wegen dir.
Wegen der Zweifler gegen die ich mich wehren muss.
Dennoch frage ich mich jetzt: wäre es nicht besser gewesen, dich im Grab zu lassen? Jetzt muss
ich noch einmal Abschied nehmen. Und ich weiss nicht, ob ich das kann.
Meine Kraft lässt nach, Mulder. Was ist mit deiner?
Dana
Ich glaube, ich war eingeschlafen, ein Piepsen weckte mich. Es war aber nur der Herz-Monitor,
ich hatte im Schlaf eine Sonde von Mulders Brust abgestreift und das Gerät schlug Alarm.
Langsam stand ich auf, zog sein Hemd ein Stück nach unten um ihm den Fühler wieder
anzukleben. Meine Hand lag noch eine Weile auf seiner Brust, hob und senkte sich mit ihr
mechanisch.
Langsam beugte ich mich vor und legte sachte meine Lippen auf seinen Hals, dort, wo die
Schlagader pochte.
Tief atmete ich ein. Wie nur, wie konnte ich ihn zurückholen? Gab es Hoffnung? Ich wusste, die
Ärzte hatten keine. Der Tod war in ihm, sein EEG bewegte sich nicht.
Als ich mich wieder aufrichtete, sah ich, dass sein Hemd nass war von meinen Tränen.
Ich nahm seine Hand und legte sie mir auf den Bauch. Das Kind reagierte auf die Berührung
und bewegte sich unerwartet heftig.
"Das ist dein Vater, mein Kleiner. Hoffentich wirst du einmal so stark wie er!"
Ich hätte gerne Mulders Mund geküsst, doch der dickte Beatmungsschlauch ragte heraus, seine
Lippen waren rissig und trocken. Ich zog ein Tuch heraus und machte es am Waschbecken
feucht. Dann benetzte ich damit vorsichtig seine Lippen.
"Das ist mein Kuss für dich. Spürst du ihn?"
Ich streichelte sein Haar. Ich weiß nichtmehr, was ich ihm alles erzählte. Die Zeit schien
stillzustehen.
Mulder,
wenn du jetzt aufwachtest, was würde ich tun? Ich würde dich in meine Arme nehmen, küssen,
sagen, dass ich dich liebe, dich nie mehr loslassen. Nie mehr.
Was würdest du tun? Lächeln? Mich einfach festhalten? Sagen, dass du mich auch liebst? Wie
kann ich es je erfahren!
Mulder, du würdest es nie glauben, aber ich habe einen neuen Partner bekommen. Einen Mann,
der Skeptiker ist. Er glaubt nicht und hat doch die X-Akten. Er denkt, dass er mich beschützen
muss. Er ist ein guter Mensch, aber er hat seinen eigenen Schmerz und er kann mir nicht
wirklich helfen.
Ich brauche dich an meiner Seite! Das wollte und will er nicht verstehen. Er wollte dich im Sarg
lassen. Wahrscheinlich der vernünftigere Weg. Für dich und für mich.
Denn dich jetzt hier so zu sehen, ohne Hoffnung, lässt mich niemals zur Ruhe kommen.
Er steht vor der Tür. Ich weiss es. Er möchte, dass ich loslasse. Er möchte nicht, dass ich hier
sitze, bei dir. Er möchte, dass ich nach vorne blicke.
Kann er nicht sehen, dass dies niemals möglich ist? Er kennt die X-Akten, aber er kennt nicht
mich. Er weiss nichts von uns. Darum wird er es auch nie verstehen. Er wird nie verstehen, dass
ich hier sitzen werde, bis du keinen Atem mehr hast, keine Wärme. So lange ich deinen Körper
lebend spüre, werde ich hier sein und jede einzelne Sekunde in mir aufnehmen.
Spürst du unseren Sohn, Mulder? Er reagiert auf dich. Er möchte dir etwas sagen. Er möchte,
dass du für ihn da bist. Und für mich.
Zusammen können wir so stark sein! Wir können alles schaffen. Vielleicht sogar die Welt
retten, oder nicht?
Es gibt so viel unausgesprochenes zwischen uns, das ich aussprechen will. So viele Dinge, die
wir nie getan haben, die ich tun will. Wir selbst standen uns immer im Weg, obwohl wir schon
lange wußten, dass wir zusammengehören.
Ich weiss, was die Leute reden. Das Flüstern, die Gerüchte, ich kann sie hören.
Ich habe nicht einmal meine Mutter eingeweiht über dich und mich. Aber ich weiss, dass sie es
ahnt. Sie fragt nicht, und dafür liebe ich sie so sehr. Auch Skinner weiss es. Ich sehe es in
seinem Blick. Er hat dich für mich ausgegraben. Er hat dich mir wiedergebracht. Dennoch ist
nun alles viel schlimmer.
Ich weiss auch, dass unser Sohn in Gefahr ist. Und du. Wenn ich eine Wahl treffen müsste, wie
würde ich entscheiden? Mein Gott, lass mich nie eine Entscheidung treffen! Würde ich dich
opfern für ihn? Für ihn, den ich mir wie nichts anderes ersehnt hatte?
Oder würde ich ihn opfern für dich? Mulder, ich weiss esnicht einmal sicher, ob du dieses Opfer würdigen würdest.
Vielleicht würe ich dich wiederhaben, aber wärst du derselbe? Würdest du zu mir stehen,
bedingungslos? Würdest du mich lieben, meine Entscheidung akzeptieren?
Würde ich das Opfer bringen, woher wüsste ich sicher, dass es dich auch wirklich rettet?
Deine Haut ist so grau, so tot, obwohl sie warm ist. Bist du nicht eine am Leben gehaltene
Leiche? Oder lebst du wirklich noch?
Niemals könnte ich diese Entscheidung treffen. Wenn Skinner sie für mich trifft, kenne ich sie.
Er würde dich opfern. Auch er weiss, dass du tot bist, alles nur künstlich verlängert wurde. Er
hat dich nur für mich zurückgeholt aus dem Grab.
Dana
Ich schreckte hoch, als die Tür sich öffnete. Doggett kam herein, seine Augen blickten traurig
und voller Mitleid. "Warum tun sich sich das an?", fragte er leise. Ich wandte mich nur ab und
küsste Mulders Hand.
Eine Weile stand Doggett stumm neben mir, dann sagte er: "Wie lange wollen sie hier warten?
Wäre es nicht besser, die Maschinen abzustellen?"
Ich fuhr hoch. "Wie können sie nur so etwas sagen!" Er seufzte. "Dana, das ist doch kein
Leben. Sehen sie ihn sich an!"
Ich sah ihn an. Und ich sagte nichts. Ich legte nur wieder meinen Kopf auf seinen Bauch und
schwieg.
Ich hörte, wie Doggett leise da Zimmer verließ. Er war kein Mann, der jemanden verurteilte.
Schon garnicht mich.
Ich wusste nur eines: So lange Mulder atmete, würde ich hier verharren. So konnte ich meinem
Kind wenigstens einige Stunden mit seinem Vater schenken. Es spürte seine Nähe, das wusste
ich. Es würde sich erinnern, so wie ich diese Stunden in mir aufnahm so sehr ich konnte.
Während ich Mulders Herzschlag lauschte hatte ich das Gefühl, er wusste dass ich da war. Tief
in seinem Inneren wusste er es.
Ich dachte an die Träume, die mich verfolgt hatten, Visionen von ihm, gequält und gefoltert. Ich
wusste, er hatte an mich gedacht und das hatte ihm Kraft gegeben.
Vielleicht würde meine und die meines Kindes ausreichen, um ihn zurückzubringen. Und das
war es, was mich aufrecht hielt. Das war es, was mich weiter hoffen ließ.
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