World of X

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Father and Son

von Lhutien

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Die Nacht brach herein und warf immer längere Schatten in den Raum, tauchte die Umgebung in ein schwummriges Halbdunkel. Ein kleines Windlicht, das auf dem Esstisch stand, versuchte mit seinem goldenen Schein die Dunkelheit zu verdrängen. Auf der Tischplatte spiegelten sich die Lichtreflexe auf dem geschliffenen Holz.

Gedankenverloren saß Scully auf einem Stuhl, die Arme aufgestützt. Ihre Finger spielten mit einem von Williams Schnullern.

Der Duft von gebratenem Apfel hing noch immer süßlich in der Luft von ihrem Abendessen, doch sie nahm es nicht einmal wahr. Was sie beschäftigte, worum ihre Gedanken unaufhörlich kreisten und was sie bis tief in ihr Innerstes quälte, war eine einzige Frage.



Wer war Williams Vater?



Eine Frage, die sie verfolgte seit dem Tag, an dem sie erfahren hatte, dass sie ein Kind erwartete. Eine Frage, die sie – so sehr sie es auch versuchte – nicht verdrängen konnte.

Eine Frage, an der ihr Seelenheil hing.



Mit der Tatsache, dass sie ein Kind empfangen hatte in einer Zeit, in der sie am wenigsten darauf vorbereitet gewesen war, hatte sie sich abfinden können. Sie war überzeugt gewesen, unfruchtbar zu sein, doch anscheinend hatten die Ärzte sich geirrt – ein Umstand, der nicht selten vorkam.

Doch so, wie William eine Mutter – sie – hatte, so musste er auch einen Vater haben.

Nur zu gerne war Scully gewillt zu glauben, Mulder könnte der Vater sein. Selbst wenn dies an Unmöglichkeit grenzte. Sie hatte lange genug an den X-Akten gearbeitet um zu erkennen, dass viele scheinbar unmöglichen Dinge so unmöglich gar nicht waren.

Dennoch...



Neben ihrer rechten Hand lag Mulders alte Zahnbürste auf dem Tisch, die sie mit seinem Hab und Gut zusammen nach seinem Verschwinden auf Bitten des Vermieters hin aus seiner Wohnung geholt hatte.



Seine Zahnbürste.

Williams Schnuller.

Ein weißer, gefütterter Umschlag.

Ein ausgefülltes Formular.

Scully überflog die Kopfzeile. „Genetisches Labor Washington East“.



Ihre Finger spielten noch immer mit dem Schnuller, von dem sie zwei gelbe Sonnen mit Gesichtern anlachten wie in einem verzweifelten Versuch sie aufzumuntern.



Sie war sich sicher, dass Mulder der Vater war, zumindest versuchte sie es sich einzureden. Niemand anders konnte es sein. Sie hatte mit keinem Mann mehr geschlafen seit... Sie seufzte. Seit langer Zeit, wie ihr schmerzlich bewusst wurde. Sie hatte viel zu lange nur für ihre Arbeit gelebt und Überstunden über Beziehungen gesetzt.



Und mit Mulder... „Nur dieses eine Mal...“, murmelte sie mit geschlossenen Augen.

Es war einfach passiert, einen Abend nach der Arbeit. Er hatte sie nach Hause gebracht, es war kalt gewesen, sie hatte ihm einen Kaffee angeboten... Eines hatte zum anderen geführt – es war nicht einmal Alkohol im Spiel gewesen.

Sie beide hatten nicht mehr nachgedacht, waren nur noch zwei Körper gewesen, die ausgehungert gegen ihre Einsamkeit aufbegehrt und sich vereinigt hatten.



Jene Nacht aber hatte nichts verändert, so unglaublich dies schien, jedenfalls oberflächlich nicht. Sie hatten weiterhin zusammen gearbeitet, Fälle gelöst, Mörder und Psychopathen gejagt als wäre nichts geschehen.

Jetzt war ihr klar, dass sie beide nicht gewusst hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Damals jedoch war es ihnen wie das einzig Sinnvolle vorgekommen und so hatten sie in einvernehmlichen Stillschweigen versucht zu vergessen.

In jenen Tagen hatte es funktioniert, doch nun...

Die Dinge waren komplizierter geworden. Sehr viel komplizierter. Mulder war verschwunden, und nicht einmal sie als seine engste Vertraute wusste, wohin oder ob er überhaupt noch am Leben war.

Und was sie betraf... Ihr Blick wanderte zu der angelehnten Tür des Kinderzimmers, das einstmals ihr Arbeitszimmer gewesen war. ...sie hatte nun ein Baby. Ihre gesamte Welt war auf den Kopf gestellt, im Guten wie im Schlechten.

Ihr ganzer Tagesablauf hatte sich verändert und den Bedürfnissen ihres Sohnes angepasst. Sie genoss den Mutterschutz ebenso wie den Umstand, soviel Zeit mit William verbringen zu können. Aber sie war ein Arbeitsmensch. Ihr Beruf fehlte ihr; die Herausforderung des Unbekannten, des Rätsels, das es zu lösen galt.



Müde lächelte sie. Es gab ein Rätsel, dessen Lösung irgendwo da draußen auf sie wartete. Nur war sie sich nicht sicher, ob sie genug Mut aufbringen konnte, um den klärenden Schritt zu tun.



Es wäre so einfach.



Alles, was sie zu tun hätte, wäre den Schnuller, Mulders Zahnbürste und das Formular, das sie bereits Tage zuvor ausgefüllt hatte, in den gefütterten und frankierten Umschlag zu legen und den Brief zur Post zu bringen, damit ihr die Halbgötter in Weiß die Wahrheit präsentieren konnten.



Dass Mulder Williams Vater war.



Sie wusste nicht mehr, was sie auf die Idee gebracht hatte, einen Vaterschaftstest machen zu lassen. Vielleicht war es eine Anzeige in einer Zeitung gewesen, oder die Bemerkung einer Freundin – sie wusste es nicht mehr.

Der Test könnte ihr zeigen, dass William, ihr Ein und Alles, Mulders Sohn war. So dass sie beruhigt diese Frage als erledigt würde betrachten können.



Aber... was wenn nicht?



Sie wagte nicht daran zu denken, doch ihr analytischer Verstand wies sie gnadenlos auf die andere Möglichkeit hin.



Dass Mulder nicht Williams Vater war.



Eine Antwort, die keine ihrer Fragen beantworten, sondern unzählbar viele neue aufwerfen würde. Ein Ergebnis, das sie nicht würde verkraften können.

Wie auch? Zu glauben, das Kind sei in einer einzigen Liebesnacht mit ihm entstanden war eins, und es war erklärbar. Zu erfahren, dass Mulder nicht der Erzeuger war, bedeutete, dass man ihr ohne ihr Wissen und ohne ihren Willen etwas angetan hatte.



Sofort kamen Erinnerungen in ihr hoch an ihre Entführung. An Emily, als sie erfahren hatte, dass diese ihre Tochter war – obwohl sie nie ein Kind zur Welt gebracht hatte. An den dunklen Gang mit den Karteischränken, in denen ihre Akte gehangen hatte. Mit ihren Eizellen.

Wie viele Nächte war sie schweißgebadet aufgewacht und hatte sich unruhig, unfähig zu schlafen, in ihrem Bett umher gewälzt, gepeinigt von der Frage, wer ihr das angetan hatte und ob ihre Entführung der Grund für ihre Unfruchtbarkeit war.



Sie hatte ihr Glück kaum fassen können als man ihr sagte, dass sie ein Kind erwartete. Sie! Gerade sie! Aber je mehr Zeit verstrich... Sie hätte sich noch mehr gefreut, wenn sie das Kind auf normalem Wege bekommen hätte. Mit einem Mann an ihrer Seite, in geordneten Verhältnissen, ohne verfolgt zu werden. Kurzum: Wenn sich keine Fragen nach der Herkunft des Kindes gestellt hätten.

So sehr sie William liebte und vergötterte, so sehr war er ihr ein Rätsel. Und ihre Natur bedingte es, Rätsel zu lösen.



Gequält drehte sie den Schnuller in ihren Händen. Der Test konnte ihr Gewissheit geben. Oder noch mehr Ungewissheit. Aber konnte es denn eigentlich schlimmer werden? Es war so ein einfacher Schritt – und zugleich überschritt er ihre Kräfte um Längen.

Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Dass ihr alles aus den Fingern gleiten würde. Dass sie herausfinden würde, dass sie nur eine Marionette war in dem grausamen Spiel höherer Gewalten.

Und diese Angst war größer als der Drang, eine Antwort zu finden. Zumindest noch...



Scully seufzte tief und erhob sich dann langsam vom Stuhl, dabei legte sie den Schnuller ab. Unter der Last ihrer Sorgen gebeugt durchquerte sie mit schweren Schritten den Raum und schob leise die Tür des Kinderzimmers auf.

Drinnen schlug ihr Williams Duft entgegen, es roch nach Babypuder und seiner zarten, rosigen Haut. Vorsichtig, um keinen Laut zu machen, schlich sie hinüber zum kleinen Himmelbettchen, in dem ihr Kleiner selig schlummerte.

An seinem Bett stehend, den Blick auf sein winziges Gesicht gerichtet, breitete sich ein warmes Gefühl in ihrer Brust aus. Er hatte die Augen fest geschlossen und seine kleine Stupsnase vibrierte bei jedem Atemzug. Hin und wieder schmatzte er leise zufrieden im Schlaf, die Hände neben seinen Wangen zu winzigen Fäustchen geballt.



Lächelnd beugte Scully sich vor und drückte ihm ganz behutsam einen Kuss auf die warme Stirn.

Sie liebte William über alles, egal wer sein Vater war, und sie würde sich ihn niemals wegnehmen lassen...



Sanft strich sie mit einem Finger über seine Wange und zog sich dann wieder zurück. Es war erstaunlich, wie schnell man sich an die Aufgaben des Mutterseins gewöhnte. Hätte sie nicht noch einmal nach ihm geschaut, wäre sie nicht einmal dann in der Lage gewesen, beruhigt zu schlafen, wenn sie es gewollt hätte. Eigentlich konnte sie erst jetzt verstehen, warum Eltern in den Tod gingen um ihre Kinder zu retten. Sie würde keine Sekunde zögern, ihr Leben für Williams zu geben – auch wenn sie hoffte, dass es dieser Tag niemals kommen möge.



Lautlos schlich sie sich aus dem Zimmer und lehnte die Tür hinter sich an. Ein Blick auf die Uhr im Wohnungsflur zeigte ihr, dass es auch für sie höchste Zeit war, ins Bett zu gehen.

Bevor sie sich jedoch in ihr Schlafzimmer begab, ging sie noch einmal in das Esszimmer, um dort das Windlicht zu löschen. Dabei fiel ihr Blick unweigerlich auf den voradressierten Umschlag.



Einen Moment lang hielt sie inne und zögerte, dann ließ sie alles in den Umschlag gleiten. Der Schnuller, die Zahnbürste, das Formular.

Nach einer weiteren Sekunde des Zögerns klebte sie ihn zu, doch bohrende Zweifel nagten an ihr. Sollte sie diesen Schritt wirklich tun?

Noch immer unschlüssig legte sie ihn daher wieder auf den Tisch zurück und löschte die Kerze.



Sie wusste, dass Entscheidungen getroffen werden mussten, doch nicht mehr an diesem Abend...



~*~



Der nächste Tag begann für sie um noch vor fünf Uhr, als William aufwachte und lauthals nach seinem Frühstück verlangte.

Schlaftrunken kämpfte Scully sich aus ihrem warmen, weichen Bett durch die kühle Wohnung in sein Zimmer.

Da lag er in seinem Bettchen, hatte sich freigestrampelt und die Beine angezogen. Seine hohe Stimme schnitt durch die frühmorgendliche Stille der Wohnung wie eine Sirene und sein kleines Gesicht war rot angelaufen.

Trotzdem liebte Scully ihn in diesem Moment kein bisschen weniger als am letzten Abend, als er friedlich geschlafen hatte.



Und so nahm sie ihn vorsichtig auf den Arm und wiegte ihn leicht auf dem Weg in die Küche, wo sein Fläschchen stand. Sie flüsterte ihm beruhigende Worte zu und tatsächlich nahm sein Geschrei immer mehr ab. Mit seinen großen Augen fixierte er sie, einen erwartungsvollen Ausdruck auf seinem Gesicht.



Scully musste schmunzeln. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass er schon viel mehr von seiner Umwelt wahrnahm und verstand, als sie ihm zutraute.



Mit geübten Handgriffen füllte sie die Folgenahrung in das Fläschchen und erwärmte es kurz. William schien es gar nicht schnell genug gehen zu können, er fing wieder an zu quengeln und verzog das Gesicht.

Doch als sein Hunger wenig später endlich gestillt wurde, entspannte auch er sich wieder und seufzte zufrieden.

Scully seufzte ebenfalls zufrieden und nutzte die Minuten, um noch einmal kurz die Augen zuzumachen...



~*~



Es war später Abend, als sie wieder nach Hause kam und sich erschöpft auf das Sofa fallen ließ. William, den sie auf dem Arm hielt, war bereits eingeschlafen.

Sie würde ihn gleich ins Bett bringen, aber vorher erst einmal selber für eine Minute die Füße hochlegen.



Sie war den ganzen Tag unterwegs gewesen. Sie hatte dringend einkaufen müssen und war vom Supermarkt aus direkt mit William zur Sporthalle gefahren, wo ihre Hebamme Gymnastik für Mutter und Baby anbot. Scully genoss diese wöchentliche Stunde, es war schön sich mit anderen Frauen zu treffen, deren Kinder im gleichen Alter waren wie William – da wurden Tipps und Ratschläge ausgetauscht, von schönen Momenten geschwärmt und über Probleme geklagt.

Genau das war es, was Scully das Gefühl gab, eine ganz normale Mutter zu sein – wie alle anderen auch. Sie war ein Teil der Gruppe und konnte ihre Fragen nach Williams Herkunft für einen Moment ganz vergessen.

Nach der Gymnastikstunde hatte sie William zu ihrer Mutter gebracht. Sie vergötterte ihren Enkel und hatte sich bereitwillig angeboten, ihn jederzeit für ein paar Stunden zu sich zu nehmen, damit Dana etwas Zeit für sich hatte und für Dinge, die zu erledigen waren.



So war sie heute eine Weile über die großen Einkaufsstraßen von Washington geschlendert. Ihre Umstandskleidung konnte sie nun getrost in die hinterste Ecke ihres Kleiderschranks verbannen und da war es eigentlich Zeit, sich etwas Neues zu gönnen – zumindest das eine oder andere Teil.



Beim FBI hatte man ihr zu Verstehen gegeben, dass sie jederzeit wieder in den Dienst zurückkehren konnte. Auf der einen Seite wollte sie gerne die Elternzeit in Anspruch nehmen, aber andererseits zog es sie auch in ihr Büro zurück. Es mussten ja nicht unbedingt die X-Akten sein, Doggett und Reyes leisteten wirklich gute Arbeit. Aber so ganz untätig...

Das Problem war nur, dass sie alleinerziehend war. Wenn sie also wieder arbeiten gehen wollte, müsste sie William den Tag über in einen Hort oder zu einer Erzieherin geben, was sie nur ungern wollte solange er noch so klein war.

Und ihrer Mutter wollte sie es auch nicht zumuten, sich Tag um Tag um ihn zu kümmern.



Mit diesen Überlegungen beschäftigt hatte sie in verschiedenen Geschäften herumgestöbert und sich dann nach erfolgreichem Einkauf – sie hatte eine Hose und zwei schicke Blazer gefunden – mit einer alten Schulfreundin, Libby, im „French Café“ getroffen. Es war ein anheimelndes, gemütliches kleines Café in einer Seitenstraße, das sie vor ein paar Monaten durch Zufall entdeckt hatten.

Bei einem heißen Cappuccino hatten sie die alten Zeiten wieder aufleben lassen, zusammen gelacht und wehmütig geseufzt. Libby war begierig gewesen alles über William zu erfahren, da sie selber gerade ihr erstes Kind erwartete.

Die Zeit war wie im Flug vergangen, und am späten Nachmittag hatte Scully sich dann auf den Weg zu ihrer Mutter gemacht.

Dort hatten sie sich auch noch eine ganze Weile unterhalten, weil William so schön schlief, doch schließlich waren sie auch dort aufgebrochen.



Gähnend strich Scully sich die rotblonden Haare aus der Stirn und zwang sich, aufzustehen.

William gehörte ins Bett und sie nicht minder.

Auf dem Weg ins Kinderzimmer fiel ihr auf, dass der Umschlag nicht mehr auf dem Esstisch lag. Verwundert runzelte sie die Stirn, doch dann fiel ihr ein, dass am Morgen Mrs Quirnoz zum Putzen da gewesen war. Sie legte öfters Sachen an andere Orte, daran hatte Scully sich schon gewöhnt.



Wenig später schlummerte William in seinem Himmelbettchen und Scully schlüpfte erschöpft ebenfalls unter ihre Bettdecke. Einen kurzen Moment lang überlegte sie, noch ein paar Zeilen zu lesen, doch da waren ihr die Augen auch schon zugefallen...



~*~



Seit Williams Geburt verstrichen die Tage unglaublich schnell, so dass Scully jeden Samstag überrascht war, dass die Woche schon wieder um war. Nicht anders war es ihr an den letzten Tagen ergangen. Ebenso schöne wie anstrengende Aufgaben und Pflichten reihten sich nahtlos aneinander und verschmolzen zu einer untrennbaren Masse, mit der Scully sich jeden Tag aufs neue konfrontiert sah.

Sie hatte während der vergangenen Wochen kaum mehr an den Vaterschaftstest gedacht, weil sie unglaublich viel zu tun gehabt hatte.

Es hatte sich ihr die Möglichkeit geboten, William bei ihrer guten und kindererfahrenen Bekannten Stephanie an zwei Vormittagen in der Woche unterzubringen, die selber einen kleinen Sohn und daneben ein Mädchen in Pflege hatte.

Diese Möglichkeit war es gewesen, die Scully spontan dazu gebracht hatte, im FBI anzurufen und sich zu erkundigen, ob sie – zunächst nur in Teilzeit an zwei Vormittagen – wieder einsteigen könnte. Tatsächlich hatte man sie mit offenen Armen empfangen und hatte ihr für Beginn des nächsten Monats einen Platz im Innendienst der Verbrechensbekämpfung zugesagt.



~*~



Schließlich war der Morgen ihres ersten Arbeitstages gekommen. Sie stand besonders früh auf, packte Williams Sachen zusammen, frühstückte ausgiebig und brachte ihn dann zeitig zu Stephanie. Die Sonne schien vom blauen Himmel und zeigte sich an diesem Herbsttag von ihrer besten Seite. Sie standen nicht im Stau, alles lief wie am Schnürchen.

Scully vergewisserte sich, dass er gut untergebracht und versorgt war und machte sich dann beruhigt auf den Weg zum FBI Headquarter.



~*~



Als sie am Mittag beschwingt aus der Schwingtür auf die Straße trat, verharrte sie einen Moment. Viel zu lange hatte sie das Gefühl nicht mehr genossen, nach getaner Arbeit aus der muffigen Behördenluft in den Sonnenschein hinauszutreten. Sie konnte die warmen Strahlen auf ihrer Haut spüren, sah Kinder im nahegelegenen Park spielen und hörte die Vögel zwitschern. Wie hatte sie all das vermisst...



Langsam setzte sie sich in Bewegung, ihren Blazer über den Arm gelegt und die Aktentasche in der Hand. Natürlich hätte sie das Parkhaus auch vom Hauptgebäude aus erreichen können, doch sie genoss diesen Moment bewusst. Er weckte Erinnerungen an alte Zeiten, an vergangene Fälle und vor allem an Mulder.



Den ganzen Tag war es ihr so ergangen. Jeder Zentimeter, jede Fliese und jede Tür schienen sie an Mulder zu erinnern. Es war so lange gar nicht her, doch es kam ihr vor wie ein vorheriges Leben, dass sie beide in ihrem Kellerbüro gesessen hatten, über schier unlösbare Fälle gebeugt.



Natürlich hatte sie auch Reyes und Doggett einen kurzen Besuch abgestattet, die beide überrascht gewesen waren sie zu sehen. Es war ein herzliches Wiedersehen gewesen, bei dem die beiden Special Agents einstimmig den Wunsch geäußert hatte, näher mit Scully zusammen zu arbeiten.



Aber auch im neuen Büro war Scully mit offenen Armen aufgenommen worden. Die neuen Kollegen waren sehr nett nahmen sie sofort in ihre Mitte auf, so dass Scully sich mehr als wohl fühlte. Die Atmosphäre war so ganz anders als bei den X-Akten. Gelöster, freundlicher...



Sie erreichte das Parkhaus und kurze Zeit später ihren Wagen. Während sie ihn anließ warf sie einen kurzen Blick auf die Uhr; sie hatte noch eine gute Stunde Zeit bis sie William abholen musste, also entschied sie sich zunächst in ihre Wohnung zu fahren.



Der Automat erkannte ihr Dauerticket ohne Probleme an und schon befand sie sich im trägen Mittagsverkehr von Washington, D.C. Obwohl er zähfließend war, kam sie gut voran und erreichte nach einer halben Stunde Fahrzeit ihr Viertel.



Es musste ihr Glückstag sein, denn die erwischte sogar noch einen freien Parkplatz direkt vor der Haustür; mehr als man mittags erwarten konnte. Beschwingt stieg sie aus, schloss ab und überquerte mit klackernden Absätzen den Gehsteig, während sie bereits ihren Schlüssel aus der Tasche fischte. Sogar den fand sie auf Anhieb und schloss die Haustür auf.



Der Hausflur wurde durch das Milchglas der Eingangstür mit Sonnenlicht geflutet und es war angenehm warm. Ein Klopfen an die Außenseite ihres Briefkastens verriet ihr, dass der Briefträger schon da gewesen war und ihr etwas gebracht hatte.

Leise summend entriegelte sie das Schloss und öffnete die Metallklappe. Tatsächlich fiel ihr ein ganzer Stapel Post entgegen, den sie so gerade noch auffangen konnte. Nun, sie konnte ihn immer noch oben durchschauen...



Guter Dinge erklomm sie die Treppen zu ihrer Etage und genoss es, sich einfach rundum wohl zu fühlen. Wieder zu arbeiten und anerkannt zu werden hatte ihr Selbstvertrauen erheblich gestärkt. Vielleicht konnte sie in absehbarer Zeit jeden Vormittag wieder arbeiten gehen, aber nicht bevor William ein bisschen älter war.



Oben angekommen schloss sie ihre Wohnungstür auf und trat ein. Mit einem Fuß schob sie die Tür hinter sich zu und ging in das Wohn- und Esszimmer, wo sie die Post auf den Tisch warf und zuerst die Fenster öffnete. Das Wetter was einfach herrlich draußen, ein goldener Spätsommer wie er im Buche stand.

Sie könnte ja mit William am Nachmittag in den Park fahren; dort würde es zwar mit Sicherheit voll sein, doch das machte ihr nichts aus wenn sie dafür die letzten Sonnenstrahlen genießen durfte.



Ihr Blazer wanderte an die Garderobe, dann setzte sie in der Küche Wasser für Tee auf.

Um sich die Wartezeit zu verkürzen, ließ sie sich im Wohnzimmer auf einem Stuhl nieder und nahm sich die Post vor. Rechnungen, noch mehr Rechnungen, ein Babymagazin, das sie abonniert hatte, ein Brief vom Kinderhilfswerk, Werbewurfsendungen. Beinahe hätte sie den Umschlag übersehen, der zu unterst lag. Grau, kein Absender. Er kam auf den Rechnungs-Stapel.



Scully hörte, wie sich der Wasserkocher in der Küche mit einem Klicken ausschaltete und machte sich daran, den Tee aufzugießen. Dann nahm sie nach einem Blick auf die Uhr ihre Tasche und machte Anstalten, die Wohnung zu verlassen. Es wurde Zeit, William abzuholen.



~*~





Nicht ganz eine halbe Stunde später war sie zurück, doch sie fühlte sich nicht mehr halb so beschwingt oder entspannt wie noch dreißig Minuten zuvor.

William schien sich bei dem Pflegekind ihrer Freundin Stephanie angesteckt zu haben – er quengelte ununterbrochen und seine gerötete Stirn fühlte sich wärmer an als sonst.

So hatte Scully auch davon abgesehen, noch ein wenig mit ihrer Freundin zu plaudern, sondern hatte sich sofort auf den Rückweg gemacht.



Sie war beunruhigt über Williams erhöhte Temperatur. Obgleich sie wusste, dass Babys und Kleinkinder leicht schon einmal Fieber bekamen, so war sie dennoch für ihre medizinische Ausbildung dankbar. Ohne Vorwissen hätte sie sehr wahrscheinlich Panik bekommen und in jeden Schnupfen eine unheilbare Krankheit interpretiert.



Während sie William die Jacke auszog wurde ihr aber noch etwas anderes bewusst, so dass sie plötzlich auch ein bisschen erleichtert darüber war, dass er leichtes Fieber hatte, so absurd dies klang.



Dass er krank war bedeutete, dass er kein Supersoldat war, keine perfekte Maschine sondern nur ein Kind - ein ganz normales Kind.



~*~



Sie hatte überlegt, ihn noch ein wenig mit aufs Sofa zu nehmen, doch er machte einen müden Eindruck auf sie und da Schlafen – laut Volksmund – bekanntlich die beste Medizin ist, brachte sie ihn in sein Bettchen.



Entgegen ihren Erwartungen war er auch tatsächlich bald darauf eingeschlafen.



Sie verharrte noch ein paar Minuten an seiner Seite und blickte mit dem besorgten Blick einer Mutter auf ihn herab. Mit einem leisen Lächeln musste sie wieder an seine Geburt denken. Die Schmerzen und die Anstrengungen kamen ihr unwirklich und weit, weit weg vor. Vielmehr war ihr Herz erfüllt von Liebe, Zuneigung und der Freude darüber, dass sie ihn durch sein noch junges Leben begleiten durfte.



Auf leisen Sohlen zog sie sich aus seinem Zimmer zurück und lehnte die Tür hinter sich an. In der Küche stand noch das Geschirr vom Mittagessen, doch das konnte sie später immer noch wegspülen. Und so lenkte sie ihre Schritte in das Wohnzimmer, wo sie das Radio einschaltete und sich dann die Briefe vornahm.



Die Stromrechnung, die Gasrechnung für die Heizung. Im Hintergrund sang Sam Cooke „Wonderful World“.

Sie blätterte ein wenig in der Babyzeitschrift, verweilte einen Moment bei den Ergebnissen der Sicherheitstest von Kindersitzen im Auto und genoss das Gefühl, einfach eine normale Mutter zu sein.



Die Werbewurfsendungen zerriss sie ohne einen Blick darauf zu werfen und ließ sie provisorisch neben das Sofa fallen.

Als sie ihren Blick wieder auf den Tisch richtete, fiel ihr der graue Umschlag auf. Verwundert nahm sie ihn in die Hand, drehte ihn, doch es stand nur ihr Name und ihre Anschrift darauf.





Mit einem unguten Gefühl langte sie nach dem Brieföffner und schlitzte die Oberseite des Briefes auf. Hatte sie etwas verbrochen? War sie zu schnell gefahren? Vielleicht falsch geparkt?

Fieberhaft suchte sie nach einer Erklärung.



Als sie die gefalteten Blätter, es waren zwei an der Zahl, herauszog, endete das Lied mit einem Tusch und ihr stockte unwillkürlich der Atem als sie den Absender las.



Genetisches Labor Washington East



Die Minuten verstrichen, doch Scully war unfähig sich zu rühren, einen Ton über die Lippen zu bringen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.



Es schien merkbar kühler im Raum geworden zu sein, eine Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und verdunkelte den Raum.



Mit ungläubig geöffneten Augen starrte Scully unverwandt auf den Brief in ihren Händen. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Sie hatte die Anfrage nie abgeschickt.



Und doch stand es dort schwarz auf weiß:

„...sind wir erfreut, dass sie sich an uns gewendet haben, selbstverständlich werden wir den Test unter höchster Sorgfalt und Verschwiegenheit durchführen...“



Fassungslos starrte Scully nur immer weiter auf den Brief. Wie? Wie hatten sie ihre Anfrage bekommen?

Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Umschlag war verschwunden gewesen, nachdem ihre Putzhilfe da gewesen war. Fertig adressiert und frankiert hatte er auf dem Esstisch gelegen, als Scully an jenem Morgen das Haus verlassen hatte.



„Oh Gott...“, murmelte Scully verzweifelt und stützte den Kopf auf die Hände. Mrs Quirnoz hatte den Umschlag mitgenommen und abgeworfen, weil sie dachte, ihr damit einen Gefallen zu tun...



Scully war, als würde sich ihre Brust zusammenziehen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie hielt etwas in den Händen, das sie nie hatte haben wollen, dessen war sie sich nun sicher. Sie liebte William, und das war die Hauptsache! Letztendlich war es doch egal, wer der Vater war...



Mit beiden Händen umfasste sie den Brief, um ihn zu zerreißen, doch sie zögerte. Sie hatte nach dieser Antwort gesucht, ihre Sorgen und Bedenken könnten sich einfach in Luft auflösen – wenn sie auf die zweite Seite des Schreibens schauen würde.

Konnte sie den Brief einfach vernichten? Würde sie es nicht den Rest ihres Lebens bereuen?



Ihr Herz raste, doch es war nicht die Aufregung, die sie bewegte, sondern die Angst, die falsche Entscheidung zu treffen. Es konnte eigentlich nur falsche Entscheidungen geben in dieser Situation.



Ihr Versuch, ruhig durchzuatmen, schlug fehl. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf und gleichzeitig konnte sie an nichts denken. Nur weiter auf den Brief starren, den sie mit ihren feuchten Händen verzweifelt umklammert hielt.



Alles oder Nichts? Sie konnte das einzig Stichhaltige vernichten, das sie je in diese Hinsicht besessen hatte, doch ihr Geist schrie nach der Lösung des Rätsels, das ihn schon so lange quälte.



Und so faltete sie schließlich, ganz langsam, mit zitternden Fingern das Schreiben auseinander und strich es glatt.

Sie griff nach dem oberen Blatt und hob es langsam an. Ihre Nerven waren gespannt wie Drahtseile, und noch immer zerriss sich ihre Seele innerlich und schrie unter der Pein, die ihr zuteil wurde.



Nicht merkend, wie sie sich auf die Lippe biss und wie jede Farbe aus ihrem Gesicht wich, blätterte Scully um.



Dort stand das Ergebnis, schwarz auf weiß.



Sie fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen, alles um sie herum begann sich zu drehen.

Kraftlos stemmte sie sich auf, doch schließlich brach ihr Kreislauf unter dem Druck zusammen und sie ging wimmernd zu Boden.



Das Blatt segelte langsam hinter ihr her und fiel neben ihr auf dem Teppich. Und während William in seinem Zimmer anfing gellend zu schreien und Scully langsam das Bewusstsein verlor und alles in Schwärze versank, blickten ihre Augen noch immer auf das Blatt.



„...die Proben weisen zu 99,99 % keine verwandten Merkmale auf...“



Mulder war nicht Williams Vater.





- The End -
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