World of X

Das älteste Archiv für deutsche Akte-X Fanfiction

...missing...

von Jenna Tooms

1/1

„Ist das Ihr erstes Tattoo?“



Sie sitzt rückwärts auf dem Stuhl, die Hänge unter dem Kinn gekreuzt. Sie hat nur für diese Angelegenheit ein kurz tailliertes Tank-Top angezogen. Sie hatte nicht erwartet zu sprechen, aber der Künstler ist jung und kurios.



Sie antwortet: „Es ist mein zweites.“



Die Nadel beginnt zu surren. Sie zuckt vor Erwartung zusammen. „William - ist er Ihr Ehemann?“



Sie schließt ihre Augen, als das langsame Stechen der Nadel beginnt. „Nein“, flüstert sie, „er ist mein Sohn.“



***



Sie vermisst Dinge.



Sie vermisst ihr Appartement, ihre Mutter, Mulders Aquarium, Williams Morgengeräusche. Sie vermisst, Frohikes lüsterne Seitenblicke und Langlys T-Shirts. Sie vermisst es, ein Abzeichen zu tragen und eine Autoritätsperson zu sein. Sie vermisst es, Gutes zu tun, gut zu sein, gut zu fühlen.



Sie vermisst Skinners schroffe Stimme und Monicas breites Lächeln und Doggetts sanftes, gedehntes Sprechen. Sie vermisst ihr Baby. Sie vermisst ihre Freunde.



Sie vermisst ihr Haar.



Mulder färbte es ihr in der zweiten Nacht, ein dunkles Braun, das ihre Haut ungesund erscheinen ließ. Sie bleichten sein Haar und sprachen darüber, dass er sich einen Bart wachsen ließ. Sie sprachen darüber, wo sie hingehen würden und wo sie weiterleben könnten und wo Sie sie nicht finden könnten. Sie sprachen nicht über „Zuhause“ oder „Freunde“ oder „Familie“ oder „Beunruhigung“. Sie sprachen nicht von „William“.



Sie vermisst William. Er hat weiche, kleine Füße und komische Finger. Er hat leuchtende Auge. Er liebt es zu lächeln. Er würde sie anlächeln, wenn sie das Schlimmste fühlte, als würde er wissen, dass er das einzige Glück ist, das sie hat. „Ich liebe dich, Willie.“, würde sie flüstern und er würde gurgeln und lachen. „Ich liebe dich mehr, als alles andere. Als irgendjemanden.“



Aber es stellt sich als Lüge heraus.



***



Morgens wacht sie zu früh auf und duscht, zieht ein Kostüm und flache Schuhe an, und bringt Kaffee und Pfannkuchen zu Truckers, Reisenden und ziellos herumwandernden Menschen, wie sie selbst. Leute, die wissen, dass die Frage „Woher kommen Sie?“ nicht gestellt werden darf.



Manchmal kommt ein Fremder und fragt. Sie antwortet „Kansas“ manchmal, oder „Florida“ oder „Vermont“. Sie liebt es zu sagen, dass sie aus Vermont sei und erfindet für sich selbst ein Leben dort: Hippie-Eltern, aufgewachsen in einem Ahornwald und die Farben des Vermont Herbstes genießend.



Sie sagt nicht „San Diego“ oder „Georgetown“



„Sind Sie verheiratet“, werden sie weiterfragen und einen Blick auf ihren Finger werfend, um nach dem Glitzern von Gold oder einer ungebräunten Linie zu suchen.



„Nein“, wird sie antworten und das ist der einzige Teil in ihrem Leben, in dem sie sich real fühlt.



***



Sie vermisst Schuhe.



Weiches Leder. Klobige Stiefel. Schnallen und Krawatten und Gurte unter den Achseln. Sie vermisst Seidenhosen und Strapse. Sie vermisst taillierte Anzüge und Spitzenunterwäsche. Sie vermisst Satin-Pyjamas.



Sie vermisst ihr Bett. Sie vermisst es, sich warm zu fühlen.



***

„Was ist Ihnen passiert?“, fragt der Tätowierer und sie schließt ihre Augen. Sprechen ist schwer – Adrenalin rauscht durch ihren Körper von dem schmalen Fleck brennender Haut. Es ist beinahe wie Sex, falls Sex mehr Blut und Schmerz beinhalten würde. Ihre Fingerspitzen kribbeln. Ihre Zehen ziehen sich zusammen.



„Was - was meinen Sie?“



„Sie haben da viele Narben.“



Sie erinnert sich an den Schmerz. Zu viele Arten von Schmerz. Die Kreatur krabbelt ihre Wirbelsäule hinauf und die andeutende Stimme in ihrem Kopf: „Kostbare Liebe, gutes Mädchen, fine little niblet for me to have, zermalme deine Knochen, armes Herz..“ Das Schneiden des Messers und das Geräusch von Doggetts Waffe, bevor der Schmerz alles auslöscht.



Sie vermisst Doggett.



„Aus dem Stegreif heraus eine Notfall-Chirurgie.“, sagt sie. Sie vermisst es, die Wahrheit zu sagen.



„Shit“, murmelt der Künstler. „Sie sind unheimlich, Mädchen.“ Und das Surren geht weiter.



***

Da gab es eine Zeit, in der sie nichts vermisste. Als sie alles hatte, nach dem sie fragen könnte. Sie war hübsch, jung und klug, und das Leben war zum Leben da.



Jetzt ist sie müde. Sie missbilligte zu viel. Ihr Verstand fühlt sich matschig und nutzlos an, wie Torf. Steh auf, schenk Kaffee ein, wechsle, geh heim, leg dich hin, versuch zu schlafen, versuch ohne Weinen durch die Nacht zu kommen.



Wiederholung.



Wiederholung ad infinitum.



Sie hat keinen Platz für Trost und sogar wenn sie ihn hätte, hätte sie keine Worte für ihren Kummer. Nur, dass sie vermisst.



***

Sie vermisst Mulder.



„Warte nicht“, sagte er. „Ich bleibt nicht lange weg.“ Er küsste sie. „Liebe dich.“



„Liebe dich auch.“, antwortete sie. Sie wartete nicht.



Er kam nicht nach Hause.



Es gab nicht genug Geld, um die Miete zu bezahlen, zu wenig, um ihn zu begraben, also musste sie ihn obdachlos erklären lassen und ließ ihn in Potter’s Field beerdigt.



Sie platzierte das Kreuz in ihrer Hand und beschloss zu flüstern, aber keine Worte kamen.



Sie verließ die Stadt. Sie sah nicht zurück.



***



Sie geht zur Kirche und kann nicht beten.



***



Der Tag kommt und mit jedem Tag wird sie hilfloser. Sie weiß nicht, mit dem sie sprechen kann. Wem vertrauen. Sie beginnt mit jedem Fremden und fragt sich, ob das der Tag ist, an dem Sie sie umbringen.



Sie vermisst es, sich ruhig zu fühlen.



Sie vermisst den Schlaf und gute Träume, und warmen Tee in Jade-Tassen, während Mulders Stimme gegen ihr Ohr streicht.



Sie vermisst ihre Mutter.



***

„Haben Sie jemanden, der Ihnen hilft, darauf aufzupassen?“, fragt der Künstler.



„Nein“, sie starrt auf die Musterzeichnungen, die an der Wand hängen. Meerjungfrauen und Totenköpfe und Drachen. Aber sie hatte sich einen einfachen Buchstaben und schwarze Tinte ausgesucht. Nichts, was einen geschickten Tätowierer herausfordern würde.



Er berührt ihren Nacken. Seine Berührung ist Licht. „Sie werden Hilfe brauchen.“ Es liegt in seiner Stimme, dass sie 15 Jahre älter als er sein könnte. Aber er wird trotzdem glücklich sein, wenn er sie nach Hause bringen kann und ihr Tattoo eincremen dürfte, bis die Haut weich und geheilt ist. Sein Zuhause wird ein kleines Appartement sein, vielleicht ein Studio, nach Patchouli und Geld riechend, und er wird „The Grateful Dead“ auf LP haben. Er wird ihr das Buch geben, das sein Leben verändert hat und es wird eines sein, was sie schon gelesen hat.



Einen Moment lang will sie mit ihm nach Hause gehen, in seinem Bett liegen – welches ein quietschendes Futon-Bett sein wird –und diesen Jungen versuchen lassen, das zu tun, was sie vermisst.



Sie vermisst es, berührt zu werden. Sie vermisst ihren Namen auf anderen Lippen.



„Ich werde wieder“, sagt sie und erhebt sich. „Danke Ihnen. Sie haben gute Arbeit geleistet.“ Sie zahlt ihre Rechnung, gibt ihm mehr Trinkgeld als sie sich leisten kann und verlässt den Tattoo-Laden. Die Tage zählend, bis zum Ende der Welt.



Ende
Rezensionen